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Entweihung und Zerstörung

Die Mellrichstädter Synagoge wird geschändet

Abgesehen hatte es der Mob auf die jüdischen Gemeindemitglieder. Als diese nicht auftauchten, drangen die Menschen in die Synagoge ein und verwüsteten sie.

Mellrichstadt

In der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober wurde die Synagoge im unterfränkischen Mellrichstadt komplett verwüstet. Eigentlich hatte es die Menschenmenge auf die Gemeindemitglieder abgesehen: sudetendeutsche Flüchtlinge hatten die Menschen aufgehetzt, den Gottesdienstbesuchern auf dem Weg zur Synagoge aufzulauern. Die jüdische Gemeinde aber war rechtzeitig gewarnt und der Gottesdienst abgesagt worden. Nun stand der wütende Mob aus Sudetendeutschen und Mellrichsstädtern vor der Tür der Synagoge. Es flogen Steine, die Tür wurde aufgebrochen und das Inventar zerstört. Auch vor den Torahrollen und anderen Ritualgegenständen machte der Mob keinen Halt. Die Synagoge war nach dieser Nacht nicht mehr nutzbar.

Umwälzungen erreichen Wohnung und Arbeitsplatz

Suche nach Wohnung und Arbeit

„Jetzt stell dir vor, zu all diesem Elend noch die Aussicht auf meine ,großen Ferien,‘ für mich als Muttels Ernährerin. Da kam gestern ein Lichtblick, ich habe vom Landesverband in Berlin die Erlaubnis engl. Unterrichts-Kurse in der Provinz abzuhalten.“

BRESLAU/BERLIN

Im August 1938 begann Irma Umlaufs Leben, aus den Fugen zu geraten: man benachrichtigte sie, dass die in jüdischen Händen befindliche Firma in Breslau, für die sie arbeitete, liquidiert und sie in die Arbeitslosigkeit entlassen werden sollte, und ihr Vermieter kündigte ihr. Obwohl es im Oktober 1938 kein Gesetz gab, laut dem Nichtjuden keine jüdischen Mieter haben durften, waren manche eifrig dabei, sich ihrer zu entledigen. In Irma Umlaufs Fall war das Problem, dass ihre jüdischen Mitbewohner die Miete nicht länger aufbringen konnten und auszogen. Der nichtjüdische Vermieter fürchtete sich nun laut Irma, neue jüdische Mieter anzunehmen, und da Juden und Nichtjuden nicht länger gemeinsamen Wohnraum teilen durften, hatte sie keine Wahl als auszuziehen. Unter den anderen Themen, die sie in diesem Brief an ihre Freundin Hilde Liepelt in Berlin anschneidet, ist ihre berufliche Situation: glücklicherweise hat ihr der Landesverband in Berlin Erlaubnis erteilt, in den jüdischen Gemeinden Münsterberg und Fraustadt, beide nicht zu weit von Breslau entfernt, Sprachunterricht zu erteilen, wodurch sie eine neue Existenzgrundlage erhält und weiter für den Unterhalt ihrer Mutter sorgen kann. Ein Zubrot verdient sie sich als Sängerin.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Brief von Irma Umlauf, Breslau, an ihre Freundin Hilde Liepelt in Berlin; 7.379, Bl. 14

Geschlossene Türen

Kanadas restriktive Einwanderungspolitik

Hilfe für die Opfer "politischer Verfolgung und grundloser Aggression" wird ein wichtiger Bestandteil der "Friedens-Aktionswoche" sein [...]

Ottawa

Ein wichtiges Ziel der von der Canadian League of Nations Society geplanten „Nationalen Friedens-Aktionswoche“ war, die kanadische Öffentlichkeit auf das Leiden verfolgter Juden aufmerksam machen. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 3. Oktober 1938 von dem Vorhaben, ein nationales Komittee aus jüdischen und anderen kanadischen Führungspersönlichkeiten zu gründen, das die Öffentlichkeit für die jüdische Flüchtilingskrise sensibilisieren und angemessene Maßnahmen von der Regierung verlangen sollte. Spätestens seit den Jahren der Weltwirtschaftskrise nämlich verfolgte Kanada eine restriktive Abschottungspolitik gegenüber Einwanderern, eine eigentliche Flüchtlingspolitik hatte das Land nicht. Allein dies machte es jüdischen Flüchtlingen schwer, nach Kanada einzuwandern. Hinzu kam ein weit verbreiteter Antisemitismus in der Bevölkerung.

 

“America First!”

Nach vorne schauen und nicht zurück

Aber Freiheit und Recht werden uns nicht geschenkt, wir haben auch hier für sie zu arbeiten und zu kämpfen!

New York

Das Editorial der Oktober-Ausgabe des Aufbau verfolgt ein klares Ziel: die Leserinnen und Leser daran zu erinnern, dass sie „nunmehr Amerikaner sind mit allen Rechten, aber auch mit allen Pflichten.“ Bindungen vornehmlich familiärer und kultureller Art werden anerkannt, gleichzeitig aber betont, wie wichtig es sei, den Blick in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit zu richten. „America First!“ lautete das Motto, das als Aufruf zur Integration der jüdischen Emigranten in die amerikanische Gesellschaft verstanden werden kann. Der Autor des Editorials liefert seinen Lesern dafür auch Argumente: Europa könne ihnen fundamentale Werte wie Freiheit und Recht nicht mehr garantieren. In den Vereinigten Staaten mit ihrer „Bill of Rights“ hingegen lohne es sich, für diese Werte einzustehen und zu kämpfen. Der Jewish Club als Herausgeber des Aufbau positionierte sich somit klar innerhalb der amerikanischen Gesellschaft – und erwartete diese Haltung auch von seinen Lesern und Mitgliedern.

Zeit zum Innehalten

Berlin

Schülerinnen und Schüler an jüdischen Schulen sollten diesen hohen Festtag möglichst mit allen Sinnen erfahren, fernab von den Sorgen und Nöten, mit denen sie im Alltag konfrontiert waren.

Berlin

Jom Kippur fiel 1938 auf den 5. Oktober, einen Mittwoch. Die Schulabteilung der „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ hatte in diesem Jahr ein Büchlein mit zahlreichen Anregungen veröffentlicht, wie dieser hohe Festttag in den Schulen begangen werden könne. Es liest sich wie eine didaktische Handreichung, die so auch in früheren oder späteren Jahren hätte geschrieben werden können: auf die schwierigen Umstände, in denen sich die Juden in Deutschland und nicht zuletzt jüdische Schülerinnen und Schüler 1938 befanden, finden sich keinerlei Hinweise. In den vergangenen fünf Jahren hatten die Nazis schrittweise eine “Rassentrennung” in öffentlichen Schulen vollzogen. Der Anteil jüdischer Schüler an öffentlichen Schulen hatte sich bereits bis 1936 nahezu halbiert.

 

 

Jahreschronik 1938

Ausweise von Juden für ungültig erklärt

Der Pass einer jüdischen Frau, mit dem verpflichtendem „J“ für „Jüdin“ versehen. Sammlung Siegmund Feist, Leo Baeck Institute

Das Reichinnenministerium erklärt alle Ausweise von Juden für ungültig. Erst der rote Aufdruck des Buchstabens „J“ mache die Pässe wieder gültig. Die Aktion ist ein weiterer Schritt im Bestreben der Nazis, die Juden dauerhaft vom Rest der Bevölkerung zu trennen.

Zur Jahreschronik 1938

Au revoir Paris?

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

„Es ist mir unerhört wichtig, dass er mir die Erlaubnis gibt noch zehn Kameraden nach Mexiko hereinzubringen.“

Paris/Mexiko

Der Brief, den Joseph Roth an seinen Vetter Michael Grübel in Mexiko schickt, ist kurz. Zwar in vertrautem Ton, ansonsten aber auf die wichtigsten organisatorischen Angelegenheiten beschränkt, dankt Roth ihm für die Vermittlung eines Kontaktes zu einem Herrn Dor. Com. Silvio Pizzarello de Helmsburg. Dieser soll Roth dabei helfen, „zehn Kameraden nach Mexiko hereinzubringen.“ Wen genau Roth hier im Blick hat, bleibt offen. Außerdem bittet Roth seinen Vetter, sich auch um eine Einreisebewilligung für ihn selbst zu bemühen. 1933 war der berühmte Schriftsteller und Journalist nach Paris emigiert. Von dort aus hatte er seither zahlreiche Novellen und Essays veröffentlicht und für die Emigrantenpresse in verschiedenen Ländern geschrieben. Nun aber schien auch Roth mit dem Gedanken zu spielen, Europa zu verlassen.

 

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

Original:

Archivbox 2, Ordner 4

11 Kisten Besitz

Der Hausrat wird verschifft

Amtl. Hausbeschaugebühr und SS. Überwachungskommission drei 1/2 Tage: RM 75

WIEN

Ihren Visums-Antrag hatten der Zahnarzt Max Isidor Mahl und seine Frau Etta, eine Textilarbeiterin, schon vor einigen Monaten beim amerikanischen Konsulat in Wien eingereicht. Seitdem warteten Sie. Etta war gebürtige Polin, Max Isidor gebürtiger Ukrainer, und die amerikanischen Einwanderungsquoten für diese beiden Länder waren bereits gefüllt. Doch die Zeit drängte: diese Rechnung zeigt, dass die Mahls bereits in Oktober ihren kompletten Haushalt in die Vereinigten Staaten verschiffen ließen und damit in Sicherheit bringen wollten. Der Transport von Wien nach Hamburg und dann mit einem Frachter nach New York war eine teure Angelegenheit: Fast 800 Reichsmark kostete es das Ehepaar Mahl, die 11 Kisten mit ihrem Hausrat außer Landes bringen zu lassen.

 

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Lucie Blau Familie, AR 25419

Original:

Archivbox 1, Ordner 15

Endlich Antwort!

Wichtige Kommunikationsnetze

„Zu meiner unendlichen Erleichterung habe ich eben Deine Karten vom 30. September und 2. Oktober erhalten. Besten Dank! Ich bin sehr froh, dass du wohl und munter bist.“

Neustadt, Oberschlesien/Brünn

Wie wichtig der persönliche Briefverkehr für eine Familie sein konnte, die ganz verstreut lebte, zeigt die Korrespondenz zwischen Lili Pinkus und ihren Verwandten. So hielt sie etwa mit wöchentlichen Briefen den Kontakt zu ihrem 16-jährigen Stiefsohn Hans Joseph, genannt Pippo, aufrecht, der eine Schule in ihrem Heimatort Brünn in der Tschechoslowakei besuchte. Die gleiche Regelmäßigkeit erwartete sie im Gegenzug allerdings auch von ihrem Stiefsohn. Ihr Brief vom 10. Oktober verdeutlicht, was es bedeutet haben muss, wenn seine Antworten länger ausblieben: „Unendliche Erleichterung“ habe sie gespürt, als nach längerer Zeit endlich zwei erlösende Postkarten des 16-Jährigen eintrafen. Lili Pinkus berichtet ihrem Stiefsohn vom Alltag der Familie – spart dabei aber die Sorgen aus, mit denen sie und ihr Mann gekämpft haben müssen. Die Textilfabrik der Familie im oberschlesischen Neustadt („S. Fränkel“) war einer der größten Leinen-Produzenten der Welt. Lili Pinkus‘ Mann, Hans Hubert, leitete das Familienunternehmen seit 1926. Nun aber stand der Familie die „Arisierung“ des Betriebs bevor.

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung John Peters Pinkus Dokumente, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 16

Antisemitismus auch in Italien

antisemitismus-auch-in-italien

„Die Ehe zwischen ,arischen‘ Italienern und Mitgliedern der hamitischen (nordafrikanischen), semitischen oder anderen ,nicht arischen‘ Rassen war verboten.“

Rom

Der faschistische Großrat Italiens – ein zentrales Organ des Mussolini-Regimes – veröffentlichte Anfang Oktober eine „Erklärung über die Rasse“, die an vielen Stellen an die Nürnberger Gesetze erinnert. Durch und durch antisemitisch, legte die Schrift zahlreiche Regelungen zur Ehe, zur italienischen Staatsbürgerschaft und zur Tätigkeit von Juden im italienischen Staatsdienst fest. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 9. Oktober, nur wenige Tage nach seiner Veröffentlichung, über das faschistische Regelwerk. Fortan sollten „Mischehen“ zwischen „arischen“ Italienern und „Mitgliedern der hamitischen (nordafrikanischen), semitischen oder anderen „nicht arischen“ Rassen“ verboten sein. Eine weitere Regel traf besonders auch diejenigen Juden hart, die aus Österreich und Deutschland nach Italien emigriert waren: Alle Juden, die sich nach 1919 in Italien niedergelassen hatten, sollten die italienische Staatsbürgerschaft verlieren und ausgewiesen werden.

 

 

Zurückgewiesen

Keine Einreisegenehmigung für Anneliese Riess

GENF/TURIN

Eigentlich war Anneliese Riess Archäologin. Doch nach ihrer Promotion in Rom im November 1936 hatte sie als Ausländerin keine Chance, in ihrem Traumberuf angestellt zu werden. 1937 absolvierte sie daher in Genf einen Kurs als Kinderschwester und kehrte dann nach Rom zurück. Als die faschistische Regierung in Italien im Herbst 1938 ausländische Juden aufforderte, innerhalb eines halben Jahres das Land zu verlassen, erklärte sich die Schwesternschule in Genf bereit, Anneliese bis zur Ankunft ihres Visums für die Vereinigten Staaten als Praktikantin aufzunehmen. Aufgrund der fremdenfeindlichen und antisemitischen Einwanderungspolitik der Schweiz verweigerte man der jungen Frau jedoch die Einreise. In einem Brief der Schule vom 10. Oktober wurde ihr mitgeteilt, Fälle dieser Art seien unter den Schülerinnen derartig häufig, dass sich die Leiterin der Schule, Frl. Borsinger, ihr nicht zu einer Aufenthaltsgenehmigung verhelfen könne. Sie habe aber ein Schreiben an das Konsulat beigelegt, das bestätige, Anneliese Riess werde dringend in der Krankenpflegeschule erwartet – allerdings als Schülerin. Dies, so schrieb man, sei die einzige Möglichkeit für sie, ins Land gelassen zu werden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Annelise Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Driven to suicide

Suicide of a democratically-minded editor-in-chief

.

PRAGUE

Since 1876, the Prager Tagblatt was known as a bastion of liberal- democratic positions. Over time, it acquired a staff of first-rate writers, including greats such as Franz Kafka, Max Brod, Kurt Tucholsky, Egon Erwin Kisch and Alfred Döblin – to name but a few. The paper was valued for its excellent reporting, its outstanding feuilleton and its unique style: even the political reporting was not devoid of humor. As a liberal-democratic paper with a predominantly Jewish staff, the Tagblatt had unequivocally positioned itself against the Nazi regime. Several of the roughly 20,000 political adversaries of the Nazis who had escaped to Czechoslovakia joined the ranks of the publication’s contributors. After the entry of the German Army to the Sudetenland in early October of 1938, the situation of German-speaking democrats came to a head in Czechoslovakia, too: according to this report from the Jewish Telegraphic Agency, dated October 11, the editor-in-chief of the Prager Tagblatt, Rudolf Thomas, and his wife committed suicide out of despair over the situation.

 

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

"Praha Jewish Editor Dies After Suicide Pact with Wife"

Original:

Box 3, folder 35

Vom Arzt zum „Krankenbehandler“

Diskriminierende Vorschriften für jüdische Ärzte

Die NS-Behörden nannten jüdische Ärzte fortan nur noch “Krankenbehandler” und zwangen sie, ihre Praxisschilder klar zu kennzeichnen.

BERLIN

3 ½ cm soll die Dreieckshöhe des Davidssterns betragen, den jüdische „Krankenbehandler“ künftig an ihrem Praxisschild anzubringen haben. Die Vorgaben im Schreiben der Berliner Reichsärztekammer vom 12. Oktober 1938 sind peinlich genau – und sie hören nicht bei Milimeterangaben auf: „Himmelblau“ solle die Hintergrundfarbe des Schildes sein, der Davidstern in der linken oberen Ecke die Farbe „zitronengelb“ haben. Mit dem 30. September war laut Reichsbürgergesetz die Approbation jüdischer Arzte erloschen; wenigen nur wurde erlaubt, als „Behandler“ ausschließlich jüdischer Patienten weiter zu praktizieren. Dass die Gängelung ihren Höhepunkt jedoch noch nicht erreicht hat, deuten die Verfasser dieses Schreibens ebenfalls noch an: um den Forderungen des „Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen“ (Inkrafttreten 1. Januar 1939) Rechnung zu tragen, sei es ratsam, seinen Namen auf dem Praxisschild doch am besten schon jetzt mit „Israel“ oder „Sara“ ergänzen – so könne man spätere Unkosten vermeiden.

 

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Sammlung:

Rundschreiben der Reichsärztekammer über die Bestimmungen für "Jüdische Behandler", Sammlung Familie Hirschberg

Schwindende Fluchtwege

Geschlossene Grenzen, Ausweisungen

„Premierminister Jan Syrovy hat den Antrag zurückgewiesen, den Regierungsentscheid, Flüchtlinge aus Österreich zu deportieren, zu lockern.“

Prag

Seit dem „Anschluss“ hatte die Tschechoslowakei ihre Politik gegenüber Flüchtlingen aus Österreich, insbesondere gegenüber jüdischen, enorm verschärft. Die offiziellen Grenzübergänge waren österreichischen Juden verschlossen – viele waren gezwungen, ihren Weg in die Tschechoslowakei auf gefährlichen Pfaden über die Grüne Grenze zu bestreiten. Auch internationale diplomatische Interventionen, wie die der Liga der Menschenrechte, über die die Jewish Telegraphic Agency am 13. Oktober 1938 berichtete, konnten die Tschechoslowakei nicht von ihrem restriktiven Kurs abbringen. Sir Neill Malcolm, der Flüchtlingskommissar der Liga, hatte den tschechoslowakischen Premierminister dazu aufgerufen, die Praxis der Abschiebung österreichischer Flüchtlinge zu überdenken. Ohne Erfolg.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

„Czechs Refuse to Relax Policy on Refugees“

Source available in English

Neues Unternehmen, altes Netzwerk

Was bedeutet Auswanderung für einen Unternehmer?

„Erlauben Sie mir im Bezug auf meine Bürgschaft noch auszuführen, dass ich mein jährliches Einkommen nicht angegeben habe, weil die Hochhauser Leather Co Inc. erst vor kurzer Zeit gegründet wurde.“

NEW YORK/WIEN

In Wien war Hans Hochhauser gemeinsam mit seinem Bruder erfolgreicher Inhaber eines Ledermanufaktur- und Exportunternehmens gewesen. Doch bereits einen Tag nach dem „Anschluss“ hatte er alle Zelte abgebrochen und war mit seiner Frau Greta und seiner Tochter Ilse auf abenteuerlichem Wege aus Österreich geflohen: abgewiesen an der tschechischen Grenze, gelangte die Familie mit dem Zug in die Schweiz und von dort mit einem gecharterten Flugzeug nach England, von wo aus sie schließlich ihren Weg in die Vereinigten Staaten fand. In New York angekommen, musste Hans Hochhauser von vorn beginnen: seine neue Firma hieß „Hochhauser Leather Co Inc.“ In einem Schreiben an das amerikanische Generalkonsulat in Wien vom 14. Oktober 1938, mit dem er eine Bürgschaft für seinen Cousin Arthur Plowitz übermittelte, wies er darauf hin, dass er mit seiner neuen Firma zwar noch am Anfang stehe, aber auf große Teile seines alten Handelsnetzwerks zurückgreifen könne.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Hans und Grete Hochhauser, AR 12070

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

„Rasse“ und Blut kontra Menschlichkeit

Die Verzweiflung der Andersdenkenden

„In aller Herren Länder haben sich die Freunde verstreut. Wohl denen, die noch mit einem blauen Auge davongekommen sind, die nicht mehr einbüßten als einen fünfundsiebzigprozentigen Verlust ihres Vermögens! […] Vermögensverlust läßt sich verschmerzen. Menschliche Kränkung nie.“

BERLIN

In ihrem Tagebucheintrag vom 15. Oktober 1938 erinnert sich die nicht-jüdische Berliner Journalistin Ruth Andreas-Friedrich an ihre vielen jüdischen Freunde, die seit 1933 aus Deutschland ausgewandert sind. „Dieses verzweifelte Sichaufbäumen gegen Rasse- und Blutgesetze! Darf nicht jeder da zu Hause sein, wo er zu Hause sein will?“ In ihrer Kindheit, so schreibt sie, seien die Menschen in gut und schlecht, anständig und nichtanständig, liebenswert und ablehnenswert unterteilt gewesen. Nun aber scheinen „Jude“ und „Arier“ an die Stelle einer auf menschlichen Eigenschaften beruhenden Wertung getreten zu sein. Und all die anti-jüdischen Schikanen – wer wisse schon davon? Wer keine jüdischen Bekannten habe, bleibe ahnungslos.

QUELLE

Institution:

Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Sammlung:

Ruth Andreas-Friedrich: Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945, Berlin 1983 (Neudruck), S. 19.

Ein vielseitig begabter Mann

Schauspieler, Regisseur, Bühnenbildner: Die vielen Rollen des Friedel Dzubas

Groß-Breesen, Schlesien

Als im nicht-zionistischen, von der Reichsvertretung der Juden in Deutschland betriebenen Ausbildungsgut Groß-Breesen (Schlesien) Gotthold Ephraim Lessings Trauerspiel „Emilia Galotti“ aufgeführt wurde, spielte der talentierte und energische Friedel Dzubas eine zentrale Rolle bei der Durchführung: Nicht genug damit, dass er die Regie führte, die Kostüme und die Bühnenbilder entwarf und herstellte, er übernahm auch den Part des Vaters der tragischen Heldin, Odoardo. Lessing, der Sohn eines lutherischen Pfarrers und eine zentrale Figur der deutschen Aufklärung, hatte sich schon früh für die Sache der Juden eingesetzt und seinem engen Freund, den Philosophen Moses Mendelssohn, mit dem Schauspiel „Nathan der Weise“ ein Denkmal gesetzt. Seine entschlossene Haltung brachte ihm einen Ehrenplatz in den Herzen und Köpfen sowie auch in den Hausbibliotheken deutscher Juden ein.

QUELLE

Institution:

Dzubas Estate

Original:

Mit freundlicher Genehmigung von Dzubas Estate

Gemeinsames Sommerlager fördert Integration

Das American Friends Service Committee fördert die Integration jüdischer Flüchtlinge

„Von besonderer pädagogischer Bedeutung war die kooperative Durchführung aller Gemeinschaftsarbeiten. Sämtliche Teilnehmer verrichteten alle Arten praktisch-hauswirtschaftlicher Tätigkeit und wurden im Garten- und Feldbau unterwiesen. Die hierbei erworbene Gewöhnung an körperliche Arbeit war nicht nur pädagogisch wichtig, sie war zugleich eine ausgezeichnete Körperschule und hat, neben intensiv betriebenem Schwimmsport, die gesundheitliche Verfassung der Menschen gestärkt.“

Hyde Park, New York

Zahlreiche jüdische Organisationen, wie die Hebrew Immigrant Aid Society, German Jewish Children’s Aid und das Boston Committee for Refugees widmeten sich der Rettung von Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland. 1938 war es eine nicht-jüdische Organisation, das American Friends Service Committee (Quäker), die sich ein besonders schönes Projekt einfallen ließ: von Mitte Juni bis Anfang September leitete es ein Sommerlager im Hudson-Tal für etwa 70 Personen, überwiegend jüdische Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland und etwa ein Drittel Amerikaner. Indem sie gemeinsam arbeiteten, lernten und sangen, Haushaltspflichten teilten, Vorträge und Gottesdienste besuchten, miteinander Sport trieben und Spiele spielten, wurde das gegenseitige Kennenlernen gefördert. Der Verfasser dieses Artikels ist voller Dankbarkeit für das Projekt, das er als „bemerkenswerten Beitrag zur inneren Integration unserer Menschen“ bezeichnet.

Fluch der Bürokratie

Warten auf ein "Kapitalistenzertifikat"

„Zur Zeit gibt es überhaupt keinen Vorzugs-Zertifikatstransfer. Auf dem letzten Vorzugstransfer sind im ganzen 27 Familien nach Palästina hereingekommen. Eine neue Transfertranche soll im Winter aufgelegt werden, aber man wird nicht damit rechnen können, dass Ledige dabei irgendwie berücksichtigt werden können, insbesondere, wenn sie sich schon im Ausland aufhalten.“

Konstanz/Zürich

Nach seinem Studium in Deutschland war Dr. Herbert Mansbach, ein junger Zahnarzt aus Mannheim, in die Schweiz gegangen, um zu promovieren und sich auf Kieferorthopädie zu spezialisieren. Dies, so glaubte er, war eine gesuchte Fähigkeit in Palästina, wohin er auszuwandern hoffte. Die Einwanderung nach Palästina war jedoch durch die Briten erheblichen Einschränkungen unterworfen: Dr. Mansbachs Freund Alfred Rothschild, ein Justizrat im Ruhestand, teilte ihm mit, es seien zur Zeit keine Vorzugs-Einwanderungszertifikate zu haben und das Zulassungsverfahren für ein „Kapitalistenzertifikat“ (eine Art von Zertifikat, dessen Vergabe davon abhängig war, ob der Antragsteller den Besitz von mindestens £1000 nachweisen konnte und keiner Quotierung unterlag) liefe noch. Die Angelegenheit war sehr dringend, denn Mitte Oktober war Dr. Mansbachs Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz abgelaufen. Rothschild rechnete damit, dass falls der Antrag auf ein gewöhnliches Zertifikat erfolgreich sein würde, die Schweizer Behörden seinem Freund gestatten würden, einstweilen im Land zu bleiben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herbert Joseph Mansbach, AR 7073

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Es kommt noch schlimmer

Nach dem Tod ihres Mannes ist die Sängerin Amalia Carneri gezwungen, ihren Besitz zu verkaufen, und bei fremden Menschen einzuziehen.

Wien/New York

Amalia Carneri hatte bessere Tage gesehen: einst eine gefeierte Opern- und Konzertsängerin, musste sie nun gleichzeitig mit dem Tod ihres Ehemanns, des Mineninspektors Heinrich Pollak, der Notwendigkeit, das langjährige Zuhause der Familie in Wien aufzugeben und der Besorgnis erregenden politischen Situation fertig werden. In diesem Brief vom 19. Oktober 1938 an den älteren ihrer beiden Söhne, Fritz, der nach Amerika geflohen war, beschreibt sie in großem Detail ihre Schwierigkeiten beim Verkauf ihres Besitzes: selbst mit der Unterstützung eines wohl etwas unseriösen Helfers muss sie unter Wert verkaufen. Ungewiss, was sie an Witwenpension zu erwarten hat und mit nur einer vagen Hoffnung, sich eines Tages Fritz in Amerika anzuschließen, ist sie in einem Zustand spürbarer Unruhe, und ihre Söhne sind ihr einziger Trost.

QUELLE

Institution:

Courtesy of Nancy Polk, Woodbridge, Connecticut

Original:

Brief von Amalia Cameri an ihrem Sohn, Fritz Pollak

Das Ende eines Familienbetriebes

Das Ende eines Familienbetriebs nach drei Generationen

„Pucki hat seine Tätigkeit in der Fabrik beendet. Ich folge in den nächsten Tagen nach. Mein Privatleben wird aber durch Kochen und Plätten zu Hause wohl auch ganz ausgefüllt sein.“

Neustadt, Oberschlesien/Brünn

Hans Joseph Pinkus‘ Urgroßvater hatte im 19. Jahrhundert in die Familie Fränkel in Neustadt, Oberschlesien, eingeheiratet. Mit vereinten Kräften betrieben die zwei Familien die Firma „S. Fränkel“, eine erfolgreiche Textilfabrik, die zu einem der größten Leinenproduzenten der Welt wurde. Unter gewöhnliche Umständen wäre Hans Joseph wohl den drei Generationen männlicher Vorfahren gefolgt und hätte die Geschicke der Firma gelenkt, aber er war erst 16 Jahre alt und im Internat, als diese „arisiert“ wurde: am 20. Oktober 1938 ließ ihn seine Stiefmutter Lili wissen, sein Vater stünde kurz davor, seinen Posten zu verlassen und sie würde es ihm in Kürze nachtun. Sie ließ nicht durchblicken, ob „Kochen und Plätten zu Hause“ eine attraktive Alternative für sie darstellte und behielt ihre Gefühle für sich.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung John Peters Pinkus Domuenten, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 16

Looking toward Palestine

The Münzer family hopes for a reunion in Palestine

After Moses Münzer loses his job as a tailor, his wife, Lisa, is forced to work in a soup kitchen. Now the family hopes for a future in Palestine.

WIEN

This photograph, taken in October 1938, shows Moses Münzer, a tailor in Vienna, and his wife Lisa, with their five children, Elfriede, Benno, Nelly, Gertrude and Siegfried. After the “Anschluss,” Moses Münzer, like many Jews, lost his job. Lisa Münzer started working as a cook in the soup kitchen of the Brigittenauer Tempel on Kluckygasse, sometimes assisted by her children. By October 21st, 15-year-old Gertrude was on her way to Palestine on Youth Aliyah, an organization founded by Recha Freier, the wife of an orthodox rabbi in Berlin, before the Nazi rise to power. Its goal was to help Jewish youth escape anti-Semitism in the Reich and settle in Palestine. Gertrude left on her own, but the intention was for the family to reunite in Palestine.

Widerstand von Juden im Exil

In the United States, Toni Sender warns of the dangers of National Socialism

BERLIN

Toni Sender ist seit 1920 SPD-Reichstagsabgeordnete in der Weimarer Republik. Sie bezieht bereits früh Stellung gegen den Nationalsozialismus und warnt vor den Gefahren für die Demokratie. Weil sie als Sozialdemokratin und Jüdin von den Nationalsozialisten angefeindet und bedroht wird, flüchtet sie im März 1933 erst in die Tschechoslowakei, dann nach Belgien, wo sie ihren Kampf gegen das NS-Regime im Exil fortsetzt. 1935 emigriert sie in die USA. Als Rednerin und Journalistin versucht sie auch dort, das Ausland über den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus aufzuklären. Wie das Schreiben der Gestapo an den Ermittlungsrichter des Volksgerichtshofs vom 22. Oktober 1938 belegt, bleibt ihr Widerstand nicht unbemerkt.

QUELLE

Institution:

Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Original:

Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde; R3018 NJ-15413

Ein Freudenfest in schweren Zeiten

Eine Hochzeit als Atempause

„Für diesen von Gott geweihten Ehebund erflehen wir Heil, Frieden und Segen.“

BERLIN

In einem Jahr, das durch zahlreiche beunruhigende anti-jüdische Maßnahmen gezeichnet war, muss die Hochzeit von Frieda Ascher und Bernhard Rosenberg am 23. Oktober in Berlin für ihre Freunde und Verwandten eine stark benötigte Atempause bedeutet haben. Der Offiziant bei der Zeremonie war der orthodoxe Rabbiner Dr. Moritz Freier. Rabbiner Freier wurde wiederholt von jungen Juden angesprochen, die infolge des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland keine Stelle finden konnten. Seine Frau, Recha Freier, war bereits im Januar 1933 auf die Idee gekommen, jüdischen Jugendlichen zu helfen, in das palästinensische Mandatsgebiet einzuwandern und sich in Kibbutzim anzusiedeln, ein Projekt, das unter dem Namen „Jugend-Alija“ bekannt ist.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Trauurkunde für Bernhard Rosenberg und Frieda Ascher; 7.5

Diskriminierung von Mischehen

Entlassung nach 25 Dienstjahren

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BERLIN

Der schwer kriegsversehrte Berliner Kriminalpolizei-Angestellte Ernst Patzer verlor im März 1938 seine Stellung. Der Grund dafür war das 1937 erlassene Deutsche Beamtengesetz, das „jüdisch Versippten“ die Arbeit im Staatsdienst verbot – und Patzer war seit 1925 mit einer deutschen Jüdin verheiratet. Dieser weitere Schritt des NS-Regimes, Juden und ihre Angehörigen aus allen Bereichen des Lebens zu verdrängen, traf das Ehepaar Patzer sehr hart: Er war Alleinverdiener und verlor nach 25 Dienstjahren nicht nur seine Stellung, sondern auch alle Pensionsansprüche. Dieses Schreiben vom 24. Oktober 1938 zeigt, wie Ernst Patzer Schritt für Schritt von öffentlicher Teilhabe ausgeschlossen wurde. Vergebens schrieb er als ehemaliger Frontsoldat an Hitler und Göring, um eine Weiterbeschäftigung in einer Behörde zu erwirken. Die Ehe blieb bestehen und er fand schließlich Arbeit als Rechnungsprüfer bei der Firma AEG. Den Nationalsozialismus hat das Ehepaar Patzer überlebt.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Sammlung:

Inv.Nr. Do 89/102II

Juden im Sudetenland Angriffen ausgesetzt

Angriffe auf Juden im Sudetenland nach dem Münchener Abkommen

„Der Plan zur Vertreibung Tausender Juden aus der Tschechoslowakei und die Einschränkung der wirtschaftlichen Tätigkeit der verbleibenden, skizziert durch den Minister ohne Geschäftsbereich Stanislav Bukovsky, wurde als Resolution des Ausschusses der Sokol-Vereine, der repräsentativen Körperschaft der tschechischen Jugendsportorganisation, in vollem Umfang verabschiedet.“

Prag

Bevor die Unterzeichner des Münchener Abkommens am 29. September 1938 verfügten, die Tschechoslowakei habe die überwiegend von Deutschen bewohnten Randgebiete, das Sudetenland, an Deutschland abzutreten, lebten dort zwischen 25,000 und 28,000 Juden. Gleich nach dem Einmarsch der Deutschen Anfang Oktober kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. Tausende wurden in die Flucht getrieben. Von den katastrophalen materiellen Folgen dieser Massenflucht berichtet die Jewish Telegraphic Agency am 25. Oktober: Der Verlust wurde auf mindestens 7 Milliarden Kronen in zurückgelassenen Gehältern und Besitz geschätzt. Um die Lage noch schlimmer zu machen, kam es seit München auch auf der tschechischen Seite zu offenem Antisemitismus – sowohl durch die Bevölkerung als auch von offizieller Seite.

Wovon wird er in Amerika leben?

Ein Flüchtling ohne Englischkenntnisse und mit wenig Fachkönnen braucht Hilfe bei der Arbeitssuche

„Wir brauchen nicht darauf hinzuweisen, dass Herr Raskin bereits über das Alter hinaus ist, in dem hier Geborene Schwierigkeiten bei der Suche nach einer neuen Tätigkeit auf Schwierigkeiten stoßen. Herr Raskin spricht kaum Englisch. Er beherrscht kein Handwerk. Seine Erfahrung als Bonbonverkäufer ist bei Bewerbung um eine Stelle nicht besonders hilfreich.“

New York/Boston

Seit Anfang der 1880er Jahre schloss das Einwanderungsgesetz der Vereinigten Staaten eine Klausel ein, die darauf abzielte, Menschen fernzuhalten, bei denen die Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie der Öffentlichkeit zur Last fallen würden. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise bestätigte Präsident Hoover 1930 die Sperre. Hilfsorganisationen hatten es schwer, den Neuankömmlingen Arbeitsplätze zu verschaffen: am 26. Oktober schildert ein Mitarbeiter des Employment Department of the Greater New York Coordinating Committee for German Refugees Willy Nordwind vom Boston Committee for Refugees die Schwierigkeiten bei der Suche nach Arbeit für einen Mann, der es geschafft hatte, ins Land zu kommen, aber kaum Englisch sprach und außer seiner Tätigkeit als Bonbonverkäufer keine Arbeitserfahrung aufzuweisen hatte. Dennoch verspricht der Mitarbeiter, sich weiterhin um die Belange des Einwanderers zu bemühen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 26

Jahreschronik 1938

Die „Polenaktion“

Eine fotographische Momentaufnahme der Polenaktion.

Ende Oktober weisen die Nationalsozialisten etwa 17.000 polnische Juden aus dem Deutschen Reich aus. Die als „Polenaktion“ bezeichnete Massenabschiebung markiert den bisherigen Höhepunkt der Diskriminierungen der Nazis gegenüber den Juden. Das polnische Parlament hatte im März und Oktober Gesetze erlassen, die die Pässe von im Ausland lebenden jüdischen Polen schwächten. Unter anderem sollten im Ausland ausgestellte Pässe zum 30. Oktober nicht mehr zur Einreise nach Polen befugen, sofern sie nicht einen Prüfvermerk des polnischen Konsulats trugen. Die polnische Regierung wollte so eine Masseneinwanderung von polnischen Juden aus dem Deutschen Reich nach Polen verhindern. Als die Deutsche Botschaft in Warschau davon erfuhr, veranlassten die Nazis die „Polenaktion” binnen weniger Tage.

Zur Jahreschronik 1938

Rausschmiss mit Pensionsentzug

Martin Lachmann verliert seine Anstellung und die längst zugesicherte Pension

„Ich könnte aus diesem Bestand nicht diese Rente beziehen, da aus einem Bestand, der zum grössten Teil arisch genannt werden muss, ein Nicht-Ar. nicht Bezüge haben dürfte.“

BERLIN

Niemand zog Martin Lachmanns außergewöhnlichen Erfolg als Versicherungsagent im Dienst der Allianz in Zweifel. Dennoch beschloß die Gesellschaft „unter dem Druck der Verhältnisse“, ihm nach 31 Jahren engagierter Mitarbeit zu kündigen. In Anerkennung der Leistungen Lachmanns wurde versucht, ihn nach Zürich zu versetzen. Der Erfolg dieser Bemühungen war allerdings von den Schweizer Einwanderungsbehörden abhängig. Zu allem Unglück war Lachmann erklärt worden, er habe keinen Anspruch mehr auf die ihm vertraglich zugesicherte Pension. Es war unfassbar für ihn, dass ein Vertrag, der lange vor dem politischen Umbruch in Deutschland abgeschlossen wurde, nun plötzlich für ungültig erklärt werden konnte. Die Pension, die dem herausragenden Angestellten von der Allianz „freiwillig“ angeboten wurde, betrug gerade ein Drittel seines Gehalts und war weit davon entfernt, seine Bedürfnisse zu decken.

China als Fluchtziel

Das Schiff SS Conte Verde bringt Juden nach China

Triest/Schanghai

In den ersten Jahren des Nazi-Regimes hatten die Juden überwiegend in benachbarten europäischen Ländern, aber auch in Palästina und den Vereinigten Staaten Zuflucht gesucht. Als sich der Zugriff der Nazis ausweitete und Einwanderungsmöglichkeiten schwanden, wurde China zunehmend zu einem Zielort von Juden auf der Flucht. Die SS Conte Verde war eines der Dampfschiffe, die von den italienischen Häfen Genua und Triest aus Flüchtlinge nach Schanghai brachten. Die Seereise nach China dauerte einen Monat und war sehr kostspielig – eine Herausforderung für deutsche Juden, deren materielle Situation unter den Nazis erheblich erodiert worden war.

Die Vertreibung polnischer Juden

Die Vertreibung polnischer Juden

Köln

Da es einen massiven Zustrom polnischer Juden aus dem von Nazi-Deutschland annektierten Österreich befürchtete, verabschiedete das polnische Parlament im März 1938 ein Gesetz, das es ermöglichte, Menschen die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, die mindestens fünf Jahre außer Landes waren. Am 15. Oktober erging eine Verfügung, wonach nur Personen mit einem Prüfvermerk des polnischen Konsulats die Einreise gestattet sei. Die Verfügung sollte am 30. Oktober in Kraft treten. Angesichts der Anwesenheit von weit über 70.000 polnischen Juden im Reichsgebiet entschloss sich das Regime zu schnellem Handeln: Im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“ vom 27. bis zum 29. Oktober wurden tausende polnischer Juden ausgewiesen. Viele dieser polnischen Staatsbürger hatten wenig oder überhaupt keine Verbindung zu ihrem Ursprungsland und nichts und niemanden, zu dem sie hätten zurückkehren können. Eines der Opfer der Aktion war Ida, die Haushälterin der Familie Schönenberg in Köln: Am 29. Oktober schreibt Dr. Schönenberg, seit drei Jahren Idas Dienstherr, an seinen Sohn Leopold in Palästina, wie sich die junge Frau mit gerade einmal 3 1/2 Stunden Vorwarnung bei der Polizei habe einfinden müssen. Ida war gebürtige Kölnerin und hatte einen Verlobten in Deutschland.

QUELLE

Institution:

NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Original:

Best. 46

Seine Mutter zu retten

Die Bemühungen eines verzweifelten Sohnes

„Ich möchte meine Mutter nach Amerika bringen und kann nicht warten, bis die Einwanderungsquote wieder geöffnet wird. Ohne Zweifel ist Ihnen bekannt, dass die Einwanderung aus Deutschland aufgrund der ausgeschöpften Quote angehalten worden ist. Laut meinen Informationen gibt es eine Wartezeit von etwa einem Jahr.“

CLEVELAND, OHIO/WASHINGTON D.C.

Dank der Vermittlung William E. Dodds, Botschafter der Vereinigten Staaten in Deutschland von 1933 bis 1937, war es Erich M. Lipmann 1936 gelungen, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Als der 26jährige diesen leidenschaftlichen Appell an Dodd richtete, seiner Mutter Martha Lipmann zu helfen, Deutschland zu verlassen und zu ihm nach Cleveland zu kommen, hatte er bereits zwei Jahre in den Staaten zugebracht. Der hier gezeigte Brief ist nur einer in einer langen Reihe zunehmend verzweifelter Versuche Lipmanns, seine Mutter zu retten. Jahrelang wandte er sich unermüdlich an alle in Frage kommenden Stellen, um Hilfe zu bekommen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Martha Lipmann, AR 6355

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Abschied im Schatten der Politik

In seinem Tagebuch beschäftigt sich Adolph Markus politischen Veränderungen und mit seinen Vorbereitungen zur Auswanderung

„Chamberlain und Daladier erklärten nach ihrer Rückkehr zu ihren Völkern, dass nun für lange Zeit gesichert ist und das mit Hitler vereinbart wurde, bei jeder eventuell noch kommenden Differenz wieder zu einer Konferenz zusammen zu treten.“

LINZ

Ende Oktober 1938 blickt Adolph Markus auf einen ereignisreichen Monat zurück: Nach der Münchener Konferenz, auf der Repräsentanten aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien beschlossen, die Tschechoslowakei habe ihre Grenzgebiete (Sudetenland) im Austausch für Frieden an Deutschland abzutreten, hatten deutsche Soldaten diese Gebiete besetzt, in der eine beträchtliche deutsche Minderheit von etwa 3 Millionen Menschen lebte. Wie Markus erklärt, hatte die Tschechoslowakei mit dem Sudetenland ihre Abwehrlinie verloren. Laut seinem Tagebucheintrag vom 31. Oktober wich die Erleichterung der Menschen in England und Frankreich über den verhinderten Krieg bald tiefem Misstrauen bezüglich Hitlers wahrer Absichten. Was seine persönlichen Angelegenheiten betrifft, so erwähnt der Verfasser einen Friseur-Lehrgang und Englisch-Unterricht, den er in Wien nimmt, offensichtlich in Vorbereitung auf die Auswanderung. In der Zwischenzeit war in Erwartung dessen, dass in Kürze alle Juden aus seiner Heimatstadt Linz ausgewiesen würden, die Hälfte des Inhalts seiner Wohnung verkauft worden.

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