Das 1938Projekt des Leo-Baeck-Instituts dokumentiert die Erfahrungen von vor 80 Jahren aus jüdischer Perspektive. Jeden Tag veröffentlichen wir ein historisches Originaldokument aus dem Jahr 1938. Darin eingebettet sind ausgewählte Weltereignisse, die die zunehmende Verfolgung und Beschneidung der Fluchtmöglichkeiten für Jüdinnen und Juden reflektieren.

 

5. Januar

Gesetz über die Änderung von Vor- und Familiennamen

Mit dem Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen regeln die Nationalsozialisten die Änderung des Namens von deutschen Staatsangehörigen oder Staatenlosen mit Wohnsitz im Deutschen Reich. Das Gesetz ermächtigt den Reichsminister des Innern, Vorschriften über die Führung von Vornamen zu erlassen und Vornamen zu ändern, die diesen Vorschriften nicht entsprechen. Eingeschlossen sind Namen, die noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 geändert worden waren. Dies betrifft vor allen Dingen assimilierte Juden, die einen als typisch jüdisch geltenden Nachnamen abgelegt hatten und sich nach Ansicht der Nationalsozialisten damit tarnten. Mit dem Erlass des Gesetzes war die rechtliche Grundlage für den Plan geschaffen, alle Juden durch einen Zwangsvornamen zu kennzeichnen.

Seite aus dem Protokollbuch der Gesellschaft der Freunde in Berlin, 1792 - 1793.

 

26. Januar

Aktion „Arbeitsscheu Reich”

Heinrich Himmler kündigt einen „einmaligen, umfassenden und überraschenden Zugriff“ auf die „Arbeitsscheuen” an. Arbeitsscheu waren demnach alle Männer im arbeitsfähigen Alter, die zweimal einen ihnen angebotenen Arbeitsplatz abgelehnt oder nach kurzer Zeit aufgegeben hatten. Mit der Durchführung dieser Aktion wird die Gestapo beauftragt, die die nötigen Informationen im Zusammenwirken mit den Arbeitsämtern besorgt. Vom 21. bis 30. April werden reichsweit zwischen 1500 und 2000 Männer als arbeitsscheu identifiziert und im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert. Ein Haftprüfungstermin ist erst binnen des zweiten Haftjahres vorgesehen.

Plakat des Reichsarbeitsdiensts, 1938.

 

23. Februar

Eröffnung des Hafens von Tel Aviv

Der Hafen Tel Avivs wird fertiggestellt und offiziell eingeweiht. Als das arabische Jaffa seinen Hafen 1936 als Gegenreaktion auf die steigende Zahl jüdischer Immigranten schloss, eröffnete Tel Aviv Sha’ar Zion, das Zionstor. Der Hafen operierte die ersten zwei Jahre in begrenztem Umfang. Seine logistische und symbolische Bedeutung für die vor den Nationalsozialisten fliehenden Juden kann jedoch nicht überschätzt werden. Im April 1938 geht nach Monaten der Frachtnutzung der erste Passagier an Land. Zwei Jahre später, als eine Flucht aus Deutschland kaum mehr möglich ist und der Zweite Weltkrieg begonnen hatte, wird der Hafen auschliesslich militärisch genutzt.

Eröffnung des Tel-Aviver Hafens. Nationale Fotografische Sammlung Israels.

 

24. Februar

Von Schuschnigg beschwört die Unabhängigkeit Österreichs

Kurt von Schuschnigg beschwört die Unabhängigkeit Österreichs in einer dramatischen Rede vor dem Parlament. Der Kanzler Österreichs betont die Treue der Regierung, einschliesslich der nationalsozialistischen Minister Seyß-Inquart und Glaise-Horstenau, zur Verfassung von 1934. Die Ansprache wird von mehreren europäischen und amerikanischen Sendern übertragen. „Bis hierher und nicht weiter! [. . .] Bis in den Tod! Rot-Weiß-Rot! Österreich!“, warnt der Kanzler die österreichischen und deutschen Nationalsozialisten, die ein Bündnis suchen.

Porträt von Kurt von Schuschnigg in seinem Büro. Encyclopedia Brittanica.

 

12. März

Der Anschluss Österreichs

Der Österreichische Bundespräsident Wilhelm Miklas bestellt nach deutschen Drohungen das sogenannte Anschlusskabinett ein, das vom 11. – 13. März regiert. Wehrmacht, SS und Polizeieinheiten marschieren am 12. März in Österreich ein. Die nationalsozialistische Bundesregierung führt am 13. März 1938 im Auftrag von Adolf Hitler den „Anschluss“ durch. Er bewirkt sukzessive das völlige Aufgehen Österreichs im Deutschen Reich. Die Herrschaft des Nationalsozialismus währt in Wien und Umgebung bis zum Vorrücken der Roten Armee Mitte April 1945. Der „Anschluss“ wird in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 für „null und nichtig“ erklärt. In vielen anderen Landesteilen Österreichs endet das NS-Regime erst mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Mai 1945.

Österreichische Frauen bejubeln den Einmarsch deutscher Soldaten während des Anschluss.

 

15. März

Adolf Hitler verkündet den ”Anschluss” Österreichs

Auf dem mit Menschenmassen gefüllten Heldenplatz hält Adolf Hitler in Wien eine Ansprache, in der er “vor der Geschichte nunmehr den Eintritt [s]einer Heimat in das Deutsche Reich” verkündet. Demnach habe der “Anschluss” Oesterreich seiner Bestimmung als “Bollwerk” des Deutschen Reiches zugeführt. Österreich solle in seiner “Treue zur großen deutschen Volksgemeinschaft von niemandem jemals überboten werden.” Am folgenden Tag drucken viele Zeitungen die Rede ab, unter anderem auch die Wiener Volks-Zeitung, auf der nunmehr das Hakenkreuz prangt. Die Rede wird am darauffolgenden Tag in vielen Zeitungen abgedruckt, wie hier in der Volks-Zeitung, die seit dem 15. März 1938 das Hakenkreuz im Titel führte.

Die Linzer Innenstadt nach dem Anschluss. Time Inc.

 

19. März

Internationale Reaktionen auf den Anschluss Österreichs

Mexiko legt als einziges Land vor dem Völkerbund offiziellen Protest gegen den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich ein. Die Westmächte Großbritannien und Frankreich, die 1919 den Beitritt Deutschösterreichs zu einem demokratischen, föderalen Deutschen Reich verboten und 1931 auch die Zollunion Deutschland-Österreich verhindert hatten, übersandten jetzt lediglich diplomatische Protestnoten. Die Londoner Times schrieb dazu, schließlich habe sich auch Schottland vor 200 Jahren an England angeschlossen. Italien, das noch 1934 als Hüter der österreichischen Souveränität aufgetreten war, protestierte überhaupt nicht. Am 18. März 1938 forderte die sowjetische Regierung die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien und Frankreich zu kollektiven Maßnahmen gegen Deutschland auf, jedoch ohne Erfolg. Im September 1938 versuchte Josef Stalin nochmals, diesmal im Rahmen des Völkerbundes, zu einem konzertierten Vorgehen zu kommen, doch auch dieses Mal ohne Erfolg. Die USA und Frankreich akzeptierten den Anschluss de jure nicht, wohl aber de facto. Großbritannien erhob zwar formellen Protest, erkannte den Anschluss aber schließlich sogar de jure an.

Salzburg. Fotografie von Annemarie Schwarzenbach. Schweizerisches Literaturarchiv.

 

18. März

Die Nationalsozialisten nehmen 150 Personen des öffentlichen Lebens fest

Im Frühling 1938 beginnt eine Welle von Übergriffen auf Juden in Wien und in anderen europäischen Staedten. Diese „Anschluss“-Pogrome, in denen Bürgerinnen und Bürger Jüdinnen und Juden öffentlich demütigen und drangsalieren, stellen eine Eskalation der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik dar. Kurz nach dem “Anschluss” verhaften die Nationalsozialisten in Österreich eine Gruppe von rund 150 Personen des öffentlichen Lebens. Zu dem Drittel von ihnen, das jüdischer Abstammung war, gehörten unter anderem Schriftsteller Heinrich Jacob, der Librettist Fritz Löhner-Beda, der Kabarettist Fritz Grünbaum, sozialdemokratische Politiker und Jurist Robert Danneberg, der Jurist Jakob Ehrlich, der Rechtsanwalt und Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Desider Friedmann, sowie der Gewürzhaendler Hans Kotányi. Im April deportieren die Nationalsozialisten die Gruppe im sogenannten “Prominententransport”, dem ersten Transport ins Konzentrationslager Dachau.

Eine Razzia in den Büroräumen der Jüdischen Gemeinde Wiens am 18. Marz, 1938. Bundesarchiv Bild 152-05 - 15A.

 

25. März

Roosevelts Ruf nach Flüchtlingskonferenz weckt neue Hoffnung

Als die Ereignisse 1938 eskalieren, nimmt die Flüchtlingskrise eine Größenordnung an, die den US-amerikanischen Präsidenten Franklin Roosevelt dazu veranlässt, eine internationale Konferenz einzuberufen, in deren Mittelpunkt die Frage der jüdischen Geflüchteten stehen soll. Infolge des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich steigt die Zahl derer, die vor den Nationalsozialisten flüchten, erneut bedeutsam an. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Aufnahmebereitschaft der Zielländer, Juden aufzunehmen, allerdings bereits nachgelassen. Die Aggression der Nationalsozialisten im Rücken und keine Fluchtoption im Blick, befanden sich die Flüchtenden in einem existenziellen Dilemma. Neben dem Internationalen Nansenamt für Flüchtlingsangelegenheiten widmete sich seit 1933 das Hochkommmissariat fuer Flüchtlinge aus Deutschland in Lausanne der Problematik. Die Konferenz findet vom 6–15 Juli in at Évian-les-Bains, Frankreich statt.

US-Präsident Franklin Delano Roosevelt. Library of Congress.

 

10. April

Referendum über den Anschluss Österreichs

Einen Monat nachdem deutsche Truppen in Österreich einmarschierten, kommt es zu einem Referendum über den Anschluss Österreichs. Dem Votum ging eine antisemitische Kampagne voraus, die mit Postern wie dem hier gezeigten gefüttert war. Der Leiter der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, Karl Renner, sowie der Theodor Kardinal Innitzer, Vorsteher der Römisch-Katholischen Kirche in Österreich, stimmten für den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Nach offiziellen Angaben stimmten insgesamt 99,73% der Wählerinnen und Wähler dafür. Für die österreichischen Juden bedeutete das Referendum eine erneute Welle der Verfolgung.

Eine Straße in Wien, 1938. Richard-Krulik-Sammlung, Leo-Baeck-Institut.

 

26. April

Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden

Hermann Göring erlässt die „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“. Dernach sind alle Juden im Deutschen Reich unter Androhung von Geld-, Haft- und Zuchthausstrafen angehalten, ihr Vermögen im In- und Ausland zu melden, wenn es den Betrag von 5.000 Reichsmark übersteigt. Alf Krüger, Ministerialrat im Reichswirtschaftsministerium, nennt die Regelung den „Wegbereiter zu der völligen und endgültigen Entjudung der deutschen Wirtschaft“. Drei Tage später wird in einem Arbeitstreffen bei Göring geplant, das jüdische Vermögen so umzuwandeln, dass es “keinen wirtschaftlichen Einfluss mehr gestatte[t]“. Göring erläutert später, dass in der Besprechung im April bereits der Beschluss gefasst wurde, „die deutsche Wirtschaft zu arisieren, den Juden aus der Wirtschaft heraus und in das Schuldbuch hineinzubringen und auf die Rente zu setzen. […] Die Entschädigung wird im Schuldbuch vermerkt und zu einem bestimmten Prozentsatz verzinst. Davon hat er zu leben.“ Nach den Novemberprogromen nutzten die Nationalsozialisten die erworbenen Daten als Grundlage, um den Juden ein Viertel ihres Vermögens abzunehmen. Als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Entschädigungsverfahren begannen, dienten die Daten dazu, die ursprünglichen Eigentümerschaften festzustellen.

 

Ein von National-Sozialisten beschädigtes Geschäft in Wien. United States Holocaust Memorial Museum.

 

20. MAI

Nürnberger Rassengesetze nun auch in Österreich

Die Nationalsozialisten führen die Nürnberger Rassengesetze auch in Österreich ein. Hitler hatte die Nürnberger Gesetze auf dem 7. Reichsparteitag der NSDAP im September 1935 erlassen. Mit dem Reichsbürgergesetz definieren die Nationalsozialisten, wer als Jude beziehungsweise als sogenannter Mischling zu gelten habe. Ausserdem unterscheidet das Gesetz nunmehr zwischen blossen Staatsangehörigen und Reichsbürgern—solchen Staatsangehörigen, die “deutschen oder artverwandten Blutes” seien. Das Blutschutzgesetz verbietet Juden und Nichtjuden, einander zu heiraten. Die Gesetze stellen zentrale juristische Bausteine der antisemitischen Ideologie des NS-Systems dar. Mit ihrer Einführung ist der Antisemitismus in Deutschland und Österreich nicht mehr nur legal, sondern gesetzlich befohlen.

Ein Diagramm, welches die Nürnberger Rassengesetze erklärt. United States Holocaust Memorial Museum.

 

31. MAI

Gesetz über die Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst

Mit dem „Gesetz über die Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst“ entwenden die Nationalsozialisten dauerhaft Kunst, die sie als „entartet“ einstufen. Als entartete Kunst gilt vornehmlich Moderne Kunst, die den rassentheoretischen und aesthetischen Kriterien der nationalsozialistischen Ideologie nicht entsprechen. Dazu gehören alle Werke, die jüdische Künstler geschaffen haben. Ende Mai 1938 haben die Nazis die Werke bereits aus Museen und öffentlichen Kunstsammlungen beschlagnahmt. Abgesehen von Härtefällen erhalten die Besitzer nun keine Entschädigung für die von ihnen entwendeten Werke. Das „Gesetz über Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst“ wird bis 1968 gültig bleiben. Die Alliierten werden das Gesetz nicht, wie andere nationalsozialistische Gesetze, nach Kriegsende aufheben. Der Denkmal- und Museumsrat Nordwestdeutschland bestärkt das Gesetz im September 1948 mit der Empfehlung, die entwendeten Kunstwerke zu ersetzen. Erst dadurch, dass das Gesetz nicht in das Bundesgesetzblatt aufgenommen wird, tritt es außer Kraft.

„Jungen auf einem Spielplatz“ von Otto Möller, undatiert. Otto Möller war ein Künstler, dessen Kunst von den Nationalsozialist_innen als „entartet“ deklariert wurde. Seine Werke wurden unter diesem neuen Gesetz aus deutschen Museen entfernt. Manche wurden im Rahmen von Versteigerungen zwangsverkauft, andere zerstört. Leo Baeck Institute.

 

9. JUNI

Zerstörung der Hauptsynagoge in München

Die Nationalsozialisten zerstören die Hauptsynagoge im Münchner Stadtzentrum. An ihrer Stelle legen sie einen Parkplatz an. Das imposante Bauwerk in neuromanischem Stil war 1878 entstanden. Nur wenige Tage vor dem Abriss war die Israelitische Kultusgemeinde Münchens davon in Kenntnis gesetzt worden, dass sie Synagoge und Grundstück für 100.000 Reichsmark zu verkaufen habe. Die Münchner Synagoge ist eine der ersten Synagogen, die die Nationalsozialisten im Jahr 1938 zerstörten.

Eine Postkarte, welche die Hauptsynagoge in München abbildet. Private Sammlung.

 

13. JUNI

Massenverhaftungen und Ausbau des KZ-Buchenwalds

Vom 13.–18. Juni führen die Nationalsozialisten eine Massenverhaftung durch. Die „Juni-Aktion“ gehört zur Mission „Arbeitsscheue Reich“, die im Januar begann und im April mit 1.500 bis 2.000 Verhaftungen fortgesetzt wurde (vgl. Eintrag vom 26. Januar). Im Juni nehmen die Nationalsozialisten mehr als 9.000 Manner fest und bringen sie in Konzentrationslager. Unter den Gefangenen sind 2.300 Juden—überproportional viele, verglichen mit dem jüdischen Anteil der Gesamtbevölkerung. Hitler selbst hatte angeordnet, die Aktion im Juni zusätzlich zu den sogenannten Asozialen („Bettler, Landstreicher und Alkoholiker“) auch gegen Juden zu richten. Festgenommen werden diejenigen Juden, denen man eine Vorstrafe von mindestens vier Wochen Länge nachweisen kann. Die Nationalsozialisten deportieren die jüdischen Männer in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald. Dem KZ Buchenwald kommt eine besondere Rolle zu. Ihm wird die größte Zahl an Menschen zugeteilt, die bei der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ festgenommen worden waren. Die KZ-Aufseher zwingen sie, Buchenwald zum größten KZ im Zentrum Deutschlands aufzubauen. Etwa 500 der hier inhaftierten Juden werden in einem ehemaligen Viehstall untergebracht. Sie müssen von 300 g Brot und 750 ml Wassersuppe leben. Die katastrophalen Bedingungen fordern in den kommenden acht Wochen 150 Todesopfer.

Gefangene tragen Suppengefäße in Dachau, 28. Juni 1938. Bundesarchiv, Bild 152-23-27A / CC-BY-SA 3.0. Fotografiert von Bauer, Friedrich Franz.

 

15. JULI

Die Évian-Konferenz schließt ergebnislos

Bevölkerungsdichte und Arbeitslosigkeit (Grossbritannien), das Erreichen einer Obergrenze fuer die Aufnahme von Geflüchteten (Frankreich), die Belastugen durch die Weltwirtschaftskrise und die Befürchtung, dass der Antisemitismus steigt, sollten weiterhin Juden aufgenommen werden, sind die Argumente, mit denen sich die an der Évian-Konferenz (vgl. Eintrag vom 6. Juli) teilnehmenden Länder weigern, weitere von den Nationalsozialisten Vertriebenen Zuflucht zu bieten. Grossbritannien schlägt vor, eine geringe Anzahl von Vertriebenen in den von Briten besetzten Gebieten Ostafrikas unterzubringen. Die USA erklären sich bereit, Flüchtende aufzunehmen, bis die normale jährliche Quote von 27.370 Einwanderern aus Deutschland und Österreich erreicht ist. Einzig die Dominikanische Republik, das winzige Land in den Karibischen Inseln, will— gegen beträchtliche Bezahlung— zusätzliche Flüchtende aufnehmen. Die Konferenz schließt am 15. Juli, ohne eine Perspektive für die Flüchtenden entwickelt zu haben. Einzige Resultat der Zusammenkunft ist ein neues Komitee, das Comité d’Évian, das von nun an zusammen mit Deutschland die Modalitäten der deutsch-jüdischen Auswanderung regeln soll.

The Evian Conference concludes without results. Population density and unemployment, saturation with refugees, the economic Depression, and the fear that antisemitism might rise with the arrival of more Jews are among the excuses presented by the participants in the Évian-Konferenz for their refusal to take in more refugees (see entry from July 6). Only the Dominican Republic, the tiny island nation in the Caribbean, is ready to welcome additional refugees—in exchange for a substantial sum of money. Great Britain proposes the territories it has occupied in East Africa as a destination for a small number of refugees. The United States are willing to accept refugees as long as the total number does not exceed their regular quota of 27,370 German and Austrian immigrants. The conference concludes on July 15 without producing any real hope for those whose lives depend on escaping the Nazi regime. One of the few concrete steps to arise from the conference is a new commission, the Comité d’Évian, which is tasked with negotiating the conditions of Jewish emigration with German authorities.

 

Lord Winterton spricht bei der Konferenz von Évian, Juli 1938. Ullstein bild / Getty Images.

 

25. JULI

Approbationsentzug für jüdische Ärzte

Mit der vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz entziehen die Nationalsozialisten allen noch praktizierenden jüdischen Ärzten die Approbation. Die Verordnung tritt am 30. September in Kraft. Danach dürfen die Ärzte nur noch als Krankenpfleger für jüdische Patienten, insbesondere für eigene Familienangehörige, arbeiten. In Deutschland sind 3.000 jüdische Ärzte betroffen.

Das spätere Gesetz, welches mit 30. September 1938 inkraft trat, befahl allen jüdischen Ärzt_innen, auf ihren Praxisschildern einen gelben Davidstern auf blauem Hintergrund abzubilden. Damit konnten sie nur noch jüdische Patient_innen behandeln. Jüdisches Museum Berlin.

 

17. AUGUST

Juden gezwungen, neue Vornamen anzunehmen

Jüdische Deutsche mit einem Vornamen, der aus Sicht der Nationalsozialisten nicht „typisch jüdisch“ ist, werden per Verordnung gezwungen, ab 01. Januar 1939 einen zusätzlichen Vornamen anzunehmen—Männer den Namen Israel, Frauen den Namen Sara. Die Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen zielte darauf ab, Juden anhand ihrer Vornamen als Juden kenntlich zu machen. Es handelt sich um den ersten Versuch, die Juden äusserlich als solche zu kennzeichnen und dauerhaft von der übrigen deutschen Bevölkerung zu trennen. Am 24. Januar 1939 dehnen die Nationalsozialisten die Gültigkeit der Verordnung auf Österreich und die sudetendeutschen Gebiete aus.

Auf dem Pass einer jüdischen Frau ist der gesetzlich verordneten Mittelname „Sara“ deutlich sichtbar. Sammlung Marianne Salinger, Leo Baeck Institute.

 

27. SEPTEMBER

Berufsverbot für jüdische Rechtsanwälte

Die berufliche und finanzielle Situation für jüdische Anwälte und Juden, die in anderen rechtlichen Berufen tätig waren, verschlechtert sich zusehends. Viele von ihnen sind gezwungen, ihre Anwaltskanzleien zu schliessen, da sich ihre Klienten abwenden oder, wenn sie jüdisch sind, fliehen. Zu Beginn des Jahres 1938 arbeiteten noch rund 1750 „nichtarische“ Rechtsgelehrte in Deutschland. Am 27. September verhängen die Nazis ein Berufsverbot für alle noch praktizierenden jüdischen Anwälte. Das Verbot tritt am 30. November in Kraft, in Österreich am 31. Dezember. Von nun an sind nur noch einige wenige jüdische Rechtsanwälte aktiv. Als sogenannte Konsulenten konnten sie – ausschliesslich jüdische – Klienten beraten und vertreten.

Diese antisemitische Karikatur zeigt einen jüdischen Anwalt der deutsche Bauern um Geld und Güter betrügt. Elvira Bauer, Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud auf seinem Eid (Nuremberg: Stürmer Verlag, 1936). Leo Baeck Institute.

 

29. SEPTEMBER

Das Münchner Abkommen

Germany, the United Kingdom, France, and Italy sign the Munich Agreement. In the absence of Czechoslovakia, which, like the Soviet Union, was not invited to the conference, the participating nations resolve that Czechoslovakia must cede the “Sudetenland” to the German Reich. The agreement calls for the evacuation of the narrow band of territory along Czechoslovakia’s northern, western, and southern borders within ten days. Two days after the agreement is signed, the Wehrmacht enters the Sudetenland. By allowing the conflict over the autonomy of ethnic Germans in Czechoslovakian borderlands to escalate into an international crisis, Hitler has succeeded in first isolating and then breaking up Czechoslovakia.

Viele jüdische Anwälte hatten Deutschland und Österreich bereits verlassen. Unter ihnen war Joachim Weichert aus Wien, der dort jahrzehntelang als Anwalt tätig gewesen war. Sammlung Familie Weichert, Leo Baeck Institute.

 

5. OKTOBER

Ausweise von Juden für ungültig erklärt

Das Reichinnenministerium erklärt alle Ausweise von Juden für ungültig. Erst der rote Aufdruck des Buchstabens „J“ mache die Pässe wieder gültig. Die Aktion ist ein weiterer Schritt im Bestreben der Nazis, die Juden dauerhaft vom Rest der Bevölkerung zu trennen.

Der Pass einer jüdischen Frau, mit dem verpflichtendem „J“ für „Jüdin“ versehen. Sammlung Siegmund Feist, Leo Baeck Institute

 

26. Oktober

Die „Polenaktion“

Ende Oktober weisen die Nationalsozialisten etwa 17.000 polnische Juden aus dem Deutschen Reich aus. Die als „Polenaktion“ bezeichnete Massenabschiebung markiert den bisherigen Höhepunkt der Diskriminierungen der Nazis gegenüber den Juden. Das polnische Parlament hatte im März und Oktober Gesetze erlassen, die die Pässe von im Ausland lebenden jüdischen Polen schwächten. Unter anderem sollten im Ausland ausgestellte Pässe zum 30. Oktober nicht mehr zur Einreise nach Polen befugen, sofern sie nicht einen Prüfvermerk des polnischen Konsulats trugen. Die polnische Regierung wollte so eine Masseneinwanderung von polnischen Juden aus dem Deutschen Reich nach Polen verhindern. Als die Deutsche Botschaft in Warschau davon erfuhr, veranlassten die Nazis die „Polenaktion” binnen weniger Tage.

Eine fotographische Momentaufnahme der Polenaktion.

 

10. November

Die Novemberpogrome

In der Nacht vom 9. auf den 10. November kommt es in Deutschland, Österreich und dem Sudentenland zu gewaltsamen Übergriffen auf die dort leben den Juden. Die Pogrome sind staatlich sanktioniert. Mehr als 90 Juden werden in dieser Nacht getötet. 267 Synagogen werden in Brand gesteckt oder auf andere Weise zerstört, Geschäften, die von Juden geführt werden, werden die Fenster eingeworfen, Gemeindezentren und Privathäuser werden geplündert und zerstört. Nationalsozialistische Randalierer schänden jüdische Friedhöfe, Krankenhäuser und Schulen. Polizei und Feuerwehr schauen tatenlos zu. Die „Kristallnacht“ stellt einen doppelten Wendepunkt dar im ohnehin schon schicksalsträchtigen Jahr 1938: Die antijüdischen Diskriminierungen der Nazis kennen keine Grenzen mehr. Für viele Juden sind die November-Pogrome das letzte Warnsignal, die Flucht zu ergreifen.

Die in Brand gesetzte Synagoge in Bamberg in der Nacht vom 9. auf den 10. November.

 

12. November

Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben

Die nationalsozialistische Regierung Deutschlands erlässt die “Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben”. Von nun an ist es Juden verboten, in Einzelhandel und Handelsagenturen zu arbeiten und ein Handwerk auszuüben. Darüber hinaus dürfen Juden keine Güter und Dienstleistungen mehr anbieten. Kurze Zeit später, am 3. Dezember 1938, werden Juden zum Verkauf ihrer Immobilien gezwungen und ihnen die Verfügung über ihre Ersparnisse entzogen.

Ein in der Progromnacht zerstörtes Geschäft in Magdeburg im November 1938.

 

15. November

Ausschluss jüdischer Kinder vom Schulbesuch

Die Nationalsozialisten verweisen jüdische Kinder der öffentlichen Schulen. Jüdische Kinder dürfen nur noch segregierte jüdische Schulen besuchen, die die jüdischen Gemeinden führen und finanzieren müssen — zu einem Zeitpunkt, zu dem jüdischen Gemeinden jegliche wirtschaftliche Grundlage bereits entzogen ist.

Ein Schüler übt Hebräisch in der jüdischen Goldschmidt-Schule in Berlin, 1938.

 

2. Dezember

Die Kindertransporte

Der erste Kindertransport erreicht England. Obwohl Grossbritannien, wie fast alle anderen Länder weltweit, einen Aufnahmestopp für jüdische Flüchtlinge verhängt hatte, entschliesst sich die britische Regierung zu einem Rettungsprogramm für jüdische Kinder. Die Novemberpogrome, in denen Juden auf offener Strasse völlig schutzlos gewaltsamen Angriffen ausgeliefert waren, gaben den Anlass dazu. Die britische Regierung lockert die Einreisebestimmungen. Sie ruft britische Familien dazu auf, Pflegekinder aufzunehmen. Es dürfen nun jüdische Kinder bis zum Alter von 17 Jahren einwandern, sofern ein Förderer oder eine Pflegefamilie sie erwartet. Am zweiten Dezember trifft der erste sogenannte Kindertransport am Parkeston Quay, Harwich ein. Er bringt 196 Kinder aus Berlin nach England. Ein Jahr lang, bis zum Kriegsausbruch am 1. September 1939, werden die Transporte von den Nationalsozialisten geduldet. Neben England gehen Kindertransporte auch in die Niederlande, nach Belgien, Frankreich, in die Schweiz und nach Schweden.

Ein Foto des ersten Kindertransports bei seiner Ankunft in England.