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Nichts Nachteiliges bekannt

Seelsorgestelle bescheinigt Edmund Wachs' Unbedenklichkeit

„Von der gefertigten Seelsorge wird hiermit bestätigt, dass gegen Herrn Edmund Wachs hieramts nichts Nachteiliges bekannt ist.“

Wien

Dieses Zeugnis, ausgestellt vom Rabbinat der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, war nur eines unter einer Vielzahl von Dokumenten, die Edmund Wachs zusammengestellt hatte, um seine Auswanderung in die Vereinigten Staaten zu ermöglichen. Kurz nach dem „Anschluss“ war Wachs in „Schutzhaft“ genommen worden, ein Mittel, das den Nazis durch die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, auch als „Reichstagsbrandverordnung“ bekannt, in die Hand gegeben worden war: Der Reichstagsbrand am 27. Februar 1933, ein Brandanschlag auf das Parlamentsgebäude in Berlin, hatte als Anlass und Rechtfertigung für das Gesetz gedient. Es wurde bereits am darauffolgenden Tag erlassen und legalisierte die willkürliche Festnahme jeder Person, die der mangelnden Loyalität gegenüber dem Regime verdächtigt wurde. Das Gesetz legte den exakten Tatbestand nicht fest und kam weithin gegen Juden und politische Gegner zur Anwendung.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Edmund und Berta Wachs, AR 25093

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Wehrdienst

Seine jüdische Abstammung befreit Bruno Blum vom Wehrdienst

„Es wird bescheinigt, dass Herr Bruno Blum, geboren am 11. Aug. 1907 in Buczacz, laut den hieramts vorgelegten Urkunden Volljude ist.“

WIEN

Artikel 1 von §15 des Reichswehrgesetzes (verabschiedet am 21. Mai 1935) legte fest: „Arische Abstammung ist eine Voraussetzung für den aktiven Wehrdienst“. Nach der Gesetzesänderung des Jahres 1936 war die Ausdrucksweise noch klarer: „Ein Jude kann nicht aktiven Wehrdienst leisten“. Um Erlaubnis zu bekommen, das Land zu verlassen, mussten männliche Auswanderungsanwärter der örtlichen Militärbehörde ein Dokument vorlegen, das ihre jüdische Abstammung nachwies und damit bewies, dass sie sich durch Auswanderung nicht ihrer Wehrpflicht zu entziehen beabsichtigten. Im Rahmen der Formalitäten, die Bruno Blum zu erledigen hatte, um eine Auswanderungsgenehmigung zu erhalten, bestätigte am 4. August 1938 das Matrikelamt der Israelitischen Kultusgemeinde Wien seine jüdische Abstammung auf beiden Seiten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Blum Familie, AR 25132

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Glühende Empfehlung

Eine jüdische Buchhalterin verliert ihren Job

„Ihr Ausscheiden aus unserer Firma erfolgt im Zusammenhang mit der durchgeführten Arisierung unseres Unternehmens. Wir wünschen Fräulein Sand das Allerbeste auf ihrem ferneren Lebenswege.“

LINZ

Obwohl die Nazipartei in Österreich vor der Annexion des Landes an Nazideutschland illegal war, fiel die Nazidoktrin in Linz auf fruchtbaren Boden: Der „Österreichische Beobachter“, ein weitverbreitetes illegales Naziblatt, das in der Stadt herausgegeben wurde, hatte bereits 1937 zu einem Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen. Zusätzlicher Schaden wurde jüdischen Unternehmen zugefügt, indem sowohl ihre Namen als auch die ihrer nicht-jüdischen Kunden veröffentlicht wurden. Als im Zuge des „Anschlusses“ im März 1938 deutsche Soldaten in die Stadt einmarschierten, säumten tausende Einwohner der Stadt die Straßen und hießen sie begeistert willkommen. Wie um verlorene Zeit aufzuholen, begannen die Nazis umgehend, sich jüdische Geschäfte anzueignen, manchmal innerhalb von Tagen. Nachdem die 24-jährige Melitta Sand von ihrem Posten als Bürokraft in der nun „arisierten“ Weinbrennerei „Camise & Stock“ entfernt worden war, bekam sie ein überraschend herzliches Empfehlungsschreiben, in dem es unter anderem hieß, sie habe sich durch ihre Arbeit das uneingeschränkte Vertrauen und die vollste Zufriedenheit der Firma erworben.

Nach sieben Tagen, Kanada

Anton Felix Perl erhält erzbischöfliche Hilfe

Stempel für zivile Begutachtung

Quebec

In den Augen der Nazis machte die Tatsache, dass die Eltern Anton Felix Perls zum Katholizismus übergetreten waren und er als Säugling getauft worden war, ihn nicht weniger jüdisch. Nach dem Besuch einer katholischen Schule in Wien, des Schottengymnasiums, studierte er Medizin und machte 1936 seinen Abschluss. Nach zwei Jahren als Assistenzarzt im Allgemeinen Krankenhaus wurde er aus „rassischen“ Gründen entlassen. In dieser spannungsreichen Situation trat Dr. Perl mit führenden katholischen Geistlichen in Kanada in Verbindung. Mit Hilfe der Erzbischöfe von Winnipeg und Regina wurde seine Einwanderung in die Wege geleitet. Nach einer sieben Tage langen Reise erreichte er Kanada und erhielt am 29. Juli 1938 den Stempel für zivile Begutachtung von den Einwanderungsbehörden in Quebec. Kanadas Einwanderungspolitik war extrem restriktiv, besonders gegenüber Menschen, die aus religiösen oder „rassischen“ Gründen verfolgt wurden. Diesmal erwies sich Dr. Perls Taufschein doch noch als hilfreich.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Perl Familie Sammlung, AR 25190

Original:

Archivox 1, Ordner 1

Heimatland

Paul Galfi's “Heimatschein”

„HEIMATSCHEIN womit bestätigt wird, dass Paul Galfi Charakter oder Beschäftigung Mittelschüler Alter geb. 25. September, 1921 in Wien. I.K.G. Stand ledig das Heimatrecht in WIEN besitzt.“

WIEN

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mussten österreichische Staatsbürger, ungeachtet ihrer Ethnizität oder Religionszugehörigkeit, im Besitz eines Heimatscheins sein, um ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Lokalität zu dokumentieren. Von praktischer Relevanz war dies in erster Linie dann, wenn der Inhaber in Not geriet: Im Falle von Armut oder Arbeitslosigkeit war es die im Heimatschein angegebene Gemeinde, die ihn unterstützen musste. Das hier gezeigte Dokument wurde am 25. Juli 1938, über vier Monate nach der Machtübernahme durch die Nazis, ausgestellt, was demonstriert, dass sich wenigstens in diesem Zusammenhang die Verfahrensweise gegenüber den Juden des Landes einstweilen nicht geändert hatte.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Trude Galfy Familie Sammlung, AR 11664

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Im Gedenken

Ludwig Schönmanns Goldene Jahre nehmen eine dunkle Wendung

„Trauer-Album dem Andenken meines teueren Vaters Ludwig Schönmann“

Wien

Ludwig Schönmann, der 1865 in Neu-Isenburg in Deutschland geboren wurde, war als junger Mensch nach Österreich gekommen, was ihm die ersten fünf Jahre des Hitlerismus ersparte. Doch von dem Tag an, als die Wehrmacht im März 1938 in Österreich einmarschierte, um das Nachbarland zu annektieren, war der über Siebzigjährige gezwungen, Ähnliches mitzuerleben, wie die Juden in Deutschland – nur in schnellerer Abfolge: Jüdische Geschäfte wurden zerstört und geplündert, ihre Besitzer enteignet, andere Juden öffentlich gedemütigt, Glaubensgenossen aus dem Burgenland vertrieben, wo sich die ersten Juden im 13. Jahrhundert niedergelassen hatten, jüdische Studenten und Dozenten wurden aus der Universität verdrängt, die berüchtigten Nürnberger Gesetze eingeführt, was zu der Entfernung der Juden aus dem öffentlichen Dienst führte, und anderes mehr. Die erste Seite eines Gedenkalbums zu Ludwig Schönmanns Ehren nennt den 24. Juli als seinen Todestag.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Sammlung:

Traueralbum für Ludwig Schönmann

Original:

Archiv. Inv. Nr. 1094

Évian enttäuscht

Keine Zugeständnisse seitens der internationalen Gemeinschaft

„Wie immer sind wir Juden lediglich Objekte, nirgends gleichberechtigte Partner. Das festzustellen, ist am 34. Jahrzeittage Theodor Herzls besonders schmerzlich, aber die Tatsache, dass in Évian an 40 jüdische Organisationen als Zaungäste aufmarschiert waren, kennzeichnet zur Genüge, wie wenig auch wir Juden - sogar in den Fragen unserer eigenen Existenz als Volk - Fortschritte gemacht haben.“

Évian-les-Bains

Nach dem „Anschluss“ wurde das Problem der Flüchtlinge aus Deutschland noch dringender. Um das Thema in Angriff zu nehmen, rief US-Präsident Franklin D. Roosevelt zu einer internationalen Konferenz auf, die im Juli 1938 in Évian gehalten werden sollte. Die Konferenz wurde von der jüdischen Öffentlichkeit in Deutschland mit großen Hoffnungen erwartet, doch infolge der Weigerung der internationalen Gemeinschaft, die Einwanderungsquoten den tatsächlichen Bedürfnissen anzupassen, war der Effekt von Évian äußerst begrenzt. Dennoch versuchte das Jüdische Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen, positive Resultate zu präsentieren, indem es beispielsweise auf die Bereitschaft einiger südamerikanischer Länder hinwies, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Ungeachtet des spürbaren Versuchs, die Hoffnung nicht aufzugeben, zeugt der unterschwellige Ton dieses Leitartikels in der Ausgabe des Jüdischen Gemeindeblatts vom 23. Juli nicht von übermäßigem Optimismus.

Nichts geht mehr

Visa-Stopp am US-amerikanischen Konsulat in Berlin

Berlin

Am 19. Juli berichtet die Jewish Telegraphic Agency, dass das US-amerikanische Generalkonsulat in Berlin einen Annahmestopp für neue Visaanträge verhängt hat. Nach Angaben des Konsulats hatten sich zuletzt etwa 2000 Personen pro Monat für Visa beworben. Aufgrund der wachsenden Nachfrage entschloss sich das Konsulat nun dazu, zunächst die bereits anhängigen Anträge abzuarbeiten. Zwar gibt es eine Warteliste für neue Bewerber, die oft mühsam beschafften Bürgschaften und andere Dokumente, die sie sich bereits besorgt hatten, werden allerdings nicht mehr angenommen. All dies bedeutet, dass Juden, die ihre Ausreise aus Deutschland oder dem annektierten Österreich planen, in 1938 keine Chance mehr haben, sich um ein Visum zu bewerben. Es kann angenommen werden, dass die 60.000 bis 70.000 Bewerbungen, die am 19. Juli im Konsulat darauf warten, bearbeitet und beschieden zu werden, die jährliche Quote der USA von 27.370 Visas für Bewerber aus dem Deutschen Reich bereits bei Weitem überstieg.

Eine unangemessene Unterstellung

Ein US-Amerikaner warnt seinen Cousin, Amerika sei kein Ort zum Faulenzen

„Ich möchte nicht, dass Du in die Irre geleitet wirst und hinterher bereust, also teile ich Dir im voraus mit, dass Du ehrgeizig arbeiten musst, um voranzukommen. Wenn Du irgendwelche Illusionen hast, Deutschland zu verlassen, um der Arbeit zu entgehen und Dir ein leichtes Leben zu machen, begehst Du einen schweren Fehler.“

New York/Wien

Im Mai 1938 hatte Betty Blum ihren Neffen Stanley Frankfurt in New York kontaktiert: Ihr Sohn Bruno habe seine Anstellung in Wien verloren und es sei unwahrscheinlich, dass er eine andere Beschäftigung finden würde. Über die Situation der österreichischen Juden im allgemeinen seit der Annexion des Landes durch Nazi-Deutschland breitete sie sich nicht weiter aus, fragte aber, ob Stanley etwas für Bruno tun könnte. Als Bruno Stanleys Brief vom 16. Juli bekam, muss er gleichzeitig erleichtert und betreten gewesen sein: während sein Cousin ihm versicherte, er sei für ihn tätig gewesen und habe die erforderliche bürokratische Vorarbeit für seine Einwanderung in die Vereinigten Staaten geleistet, hielt er es für notwendig, ihn darauf hinzuweisen, dass er im Irrtum sei, falls er vorhabe, nach Amerika zu kommen um „sich ein leichtes Leben zu machen“. War Stanley tatsächlich so wenig informiert über das Schicksal der österreichischen Judenheit unter den neuen Machthabern? Es kann angenommen werden, dass seine aufrichtigen Bemühungen um seinen österreichischen Cousin die Verblüffung, die er mit dieser unangemessenen Unterstellung hervorgerufen haben muss, ausgeglichen haben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Blum Familie Sammlung, AR 25132

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Aus dem „Roten Wien“ vertrieben

Die Nutzung öffentlichen Wohnungsbaus verwehrt, wird auch die Einreise in die Schweiz nicht gestattet

„Indem wir uns auf Ihre Eingabe vom 10. Juni 1938 berufen, müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass Ihrem Gesuche um Bewilligung der Einreise in die Schweiz zur Zeit nicht entsprochen werden kann.“

Bern/Wien

Für einen eingefleischten Sozialdemokraten wie den Journalisten, Übersetzer und Schriftsteller Maurus (Moritz) Mezei, müssen die Veränderungen, die unmittelbar nach der ungehinderten Annexion des Landes durch Nazi-Deutschland in Österreich Platz griffen, doppelt problematisch gewesen sein. Während der Ära des „Roten Wien“, der ersten Zeit demokratischer Regierung der Stadt von 1918 bis 1934, war Familie Mezei in den Karl-Marx-Hof, einen Gemeindebau (Komplex von Sozialwohnungen) gezogen. Von 1938 an waren „nicht-arische“ Familien wie die Mezeis mit der Ausweisung aus dem Komplex bedroht. Während nach dem Regierungswechsel anfänglich der Mieterschutz auch für Juden in Kraft blieb, galt er nicht für Gemeindebauten. Am 10. Juni hatte Mezei die Einwanderung in die Schweiz beantragt, doch die Antwort, geschrieben am 14. Juli, fiel negativ aus: Nur wenn er ein Einreisevisum für ein überseeisches Land beschaffe, würden die Schweizer Einwanderungsbehörden seinen Fall erneut überprüfen und ihm möglicherweise vorläufiges Asyl gewähren.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Brief der Eidgenössischen Fremdenpolizei an Maurus Mezei ; Inv. Nr. 20991/ 26

Wahlverwandschaft

Gemeinsamer Nachname gibt Mut zum Risiko

„Bevor ich weiter ausführe, möchte ich ausdrücklich sagen, dass meine Familie Ihre Ankunft in New York kaum erwarten kann.“

NEW YORK/WIEN

Als der 28-jährige Wiener Kurt Kleinmann an Familie Kleinman in Amerika schrieb, hätte er nicht auf eine freundlichere, überschwänglichere Antwort hoffen können als die von der 25-jährigen Helen. Nachdem er die Adresse einer Familie Kleinman in den USA gefunden hatte, bat Kurt die völlig Fremden in einem Brief vom 25. Mai, ihm durch Übernahme einer Bürgschaft zu helfen, Österreich zu verlassen. Er hatte in Wien ein Jura-Studium absolviert und führte nun die väterliche Weinhandlung. Helen übernahm bereitwillig die Theorie, dass die Kleinmanns und die Kleinmans tatsächlich miteinander verwandt sein könnten und versprach ihrem „Cousin“, ihm innerhalb einer Woche eine Bürgschaft zu beschaffen. Liebenswürdig und lebhaft versicherte sie ihm, die Kleinmans würden mit ihm korrespondieren, um ihm die Zeit bis zur Abreise kürzer erscheinen zu lassen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Kurt und Helen Kleinman Sammlung, AR 10738

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Papiere in Ordnung?

Die Unbedenklichkeitsbescheinigung eines Zehnjährigen

„Gegen die Ausreise des Hans Weichert, Gymnasiast (10 Jahre) [...] habe ich keine Bedenken.”

Wien

Juden, die sich der Schikane und physischen Gefahr unter den Nazis durch Auswanderung entziehen wollten, mussten eine große Anzahl von Dokumenten beschaffen, um sowohl die Nazi-Behörden als auch die Behörden im Zielland zu befriedigen. Um Erlaubnis zu erhalten, das Land zu verlassen, mussten die Antragsteller nachweisen, dass sie dem Reich keine Steuergelder schuldeten. Zusätzlich zu den Steuern, die allen Staatsangehörigen auferlegt waren, mussten zukünftige Auswanderer die sogenannte „Reichsfluchtsteuer“ zahlen. Das ursprüngliche Ziel dieser während der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre eingeführten Steuer war, ein weiteres Ausbluten der Kassen durch Verlust von Steuereinkünften zu verhindern. Unter den Nazis jedoch war das Hauptziel, Juden zu schikanieren und auszubluten. Die Steuerbehörden der Nazis leisteten gründliche Arbeit: als Familie Weichert aus Wien, bestehend aus dem Rechtsanwalt Joachim Weichert, seiner Frau Käthe und den Kindern Hans und Lilian, sich auf das Weggehen vorbereiteten, würde selbst für den zehnjährigen Sohn eine steuerliche Unbedenklichkeitserklärung ausgestellt. Die Gültigkeitsdauer betrug einen Monat. Alle Dokumente innerhalb der Gültigkeitsdauer bereit zu haben, wenn die eigene Quotennummer an die Reihe kam, war eine weitere Herausforderung, der sich die Auswanderungswilligen stellen mussten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Weichert Familie Sammlung, AR 25558

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Es wird einfacher werden

Zuspruch für eine Siebzehnjährige

„Natürlich dauert es ein bisschen, bis man miteinander warm wird, besonders, wenn man die Sprache nicht beherrscht.“

Teplitz

Frau Pollak in Teplitz (Tschechoslowakei) schwankte zwischen Erleichterung, zu wissen, dass ihre Tochter in sicherem Abstand vom Zugriff der Nazis war, und Sorge um das körperliche und seelische Wohlergehen der 17jährigen Marianne. Nach anfänglichen Plänen, mit der Jugend-Alija nach Palästina auszuwandern, war das junge Mädchen nun ganz allein in England. Die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland hatte in der Tschechoslowakei die Furcht vor einem ähnlichen Schicksal erweckt, und Juden hatten doppelten Grund zur Sorge – als Tschechen und als Juden. Während die Nachrichten aus Wien und Palästina düster waren und die Tschechoslowakei einer ungewissen Zukunft entgegenging, war Frau Pollak liebevoll darum bemüht, Marianne zu versichern, dass das Leben im neuen Land leichter werden würde.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

John Peters Pinkus Familie Sammlung, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 22

Das Loew-Sanatorium

Jüdische Ärzte werden arbeitslos als das bekannte Sanatorium schließt

„Zahlreiche jüdische Ärzte in Wien haben durch die Schließung des berühmten Loew-Sanatoriums ihren Lebensunterhalt verloren.“

Wien

Bis zu seiner zwangsweisen Schließung, von der die Jewish Telegraphic Agency am 7. Juli 1938 berichtete, diente das Loew-Sanatorium als Privatkrankenhaus für Wohlhabende in Wien. Prominente jüdische und nicht-jüdische Patienten kamen hierher, um sich behandeln oder operieren zu lassen. Unter den vielen illustren Patienten der Einrichtung waren der Philosoph Ludwig Wittgenstein, der Komponist Gustav Mahler, der Maler Gustav Klimt und die Gesellschaftsdame und Komponistin Alma Mahler-Werfel. Der Bericht der JTA erwähnt insbesondere die jüdischen Ärzte, die infolge der Schließung des Krankenhauses ihre Anstellung verloren. Laut der von den Nazis aufgestellten Kriterien waren unter Wiens 4900 Ärzten nicht weniger als 3200 Juden und „Judenstämmlinge“, während etwa ein Drittel der Ärzte im ganzen Land jüdischer Abkunft waren.

Ein Strohhalm

Gelingt eine Bürgschaft trotz dünnem Kontakts?

„Es ist sehr schwierig, Ihnen zu schreiben, denn ich bin sicher, Sie haben keine Ahnung, wer ich bin.“

Wien

Erika Langstein war eine junge Englischlehrerin und lebte in Wien. Im Juni 1938, nachdem sie bereits einige Monate lang die Verfolgung der Juden in der österreichischen Hauptstadt persönlich miterlebt hatte, schickte Erika einen Brief an Donald Biever, einen amerikanischen Staatsbürger, und flehte ihn an, ihr und ihrem jüdischen Vater zu helfen, aus Österreich zu entkommen, indem er eine Bürgschaft übernahm. Nichts daran wäre ungewöhnlich, wäre da nicht der Umstand, dass die junge Frau Mister Biever nur ein einziges Mal begegnet war, kurz, auf einer Bahnfahrt ein Jahr zuvor, und seither nicht mit ihm kommuniziert hatte. Ohne sich durch den Mangel an Kontakt von ihrem Vorhaben abbringen zu lassen, beschreibt Erika die Hoffnungslosigkeit der Situation in Wien. Für den Fall, dass Biever sich nicht an ihre Begegnung erinnern könne, heftet sie ihr Foto bei.

Vogelfrei

Juden aus Burgendland vertrieben

„Man lernt hier, was wirklich wichtig ist im Leben. Den Leuten spielt auch Geld keine Rolle mehr, auch das ist unwichtig geworden.“

Eisenstadt

Die jüdische Gemeinde in Eisenstadt im österreichischen Burgenland war nie besonders groß gewesen, aber als älteste Gemeinde in der Gegend reichte sie bis ins 14. Jahrhundert zurück und hatte ein reiches kulturelles Leben. Im Augenblick der Annexion Österreichs an Deutschland am 12. März 1938 wurden Juden vogelfrei: Unter dem zutiefst rassistischen Gauleiter Tobias Portschy war das Burgenland der erste Teil Österreichs, der seine jüdische Bevölkerung vertrieb. Um ihren alten Eltern mit den Vorbereitungen zum Umzug zu helfen, hielt sich Hilde Schlesinger im Juni 1938 in Einsenstadt auf. In ihrem Geburtstagsbrief an ihre Tochter Elisabeth in Amerika bemerkt sie, diese sei „zu einem echten jüdischen Kind geworden, zu einem nicht sesshaften, zum Wandern immer bereiten“, im Gegensatz zu ihrer eigenen emotionalen Verbundenheit zu Eisenstadt, aus dem sie sich nun entwurzeln musste. Frau Schlesinger Schiff hofft, ihre Eltern werden bald die Einreisegenehmigung in die Tschechoslowakei erhalten, aber noch ist die bürokratische Seite nicht geklärt. Es ist offensichtlich, wie unangenehm sie die Erpichtheit der Nichtjuden auf Schnäppchen berührt, die sie als „Leichenraub“ bezeichnet, während Ihre Familie gezwungen ist, einen Großteil ihres Eigentums zu veräußern.

Ein absurdes Privileg

Emil Toffler behält seinen Job, um die Arier einzuarbeiten

Wien

Die Familie Therese Wiedmanns (geb. Toffler) in Wien war säkular und bestens integriert. Während sich die Tofflers der Situation in Deutschland wohl bewusst waren, hatte niemand unter Thereses Verwandten vorausgesehen, dass viele Österreicher Hitler willkommen heißen und bereit sein würden, auf die Unabhängigkeit Österreichs zu verzichten. Der „Anschluss“ im März 1938 hatte zum sofortigen Verlust ihrer Stelle bei der Tiller AG geführt. Ihr Großvater, bis vor kurzem der Präsident der Firma, durfte sein Büro nicht mehr betreten, ihr Vater Emil, der leitende Geschäftsführer, wurde einstweilen dort behalten, um das neue, „arische“ Management mit dem Funktionieren der Firma vertraut zu machen. Glücklicherweise hatte er schon vor dem „Anschluss“ einen Teil seines Besitzes nach England geschafft. In besseren Zeiten hatte man die jüdische Firma für ausreichend österreichisch erachtet, um sie zum kaiserlich-königlichen Hoflieferanten zu ernennen und Armeeuniformen von ihr produzieren zu lassen. Dieser am 11. Juni 1938 ausgestellte Pass Therese Wiedmanns enthält ein Visum, das „alle Staaten der Erde“ und die „Rückreise ins Deutsche Reich“ einschließt.

Unaushaltbare Verzweiflung

Jewish Telegraphic Agency veröffentlicht Liste von den jüngsten Suiziden unter Juden

“4 Deaths Announced Among Arrested Jews in Vienna; Family of 4 Committs suicide”

Wien

Der „Anschluss“, die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland im März 1938, hatte eine Welle anti-jüdischer Gewalt in Gang gesetzt: Die durch Ihren neuen Status und die völlige Hilflosigkeit der Juden ermutigten Nazis und Sympathisanten drangen in jüdische Wohnungen ein und nahmen sich, was ihnen gefiel. Betriebe, die in jüdischem Besitz waren, wurden geplündert oder zerstört. Juden und Jüdinnen jeden Alters wurden zu der demütigenden Handlung gezwungen, die Straßen zu schrubben, um unter unter den Augen johlender Zuschauer politische Slogans gegen den „Anschluss“ zu entfernen. Da von der Polizei keinerlei Schutz zu erwarten war, wurden viele Juden von einem Gefühl völliger Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit erfasst und in den Selbstmord getrieben: Allein in den ersten zwei Monaten nach dem „Anschluss“ entzogen sich 218 Juden der staatlich sanktionierten und geförderten Grausamkeit durch Selbstmord. Diese Notiz der Jewish Telegraphic Agency listet die jüngsten Selbstmorde – darunter der einer vierköpfigen Familie – und Todesfälle im Konzentrationslager Dachau auf.

Im Dunkel gelassen

Keine Informationen für die Familien von tausenden von inhaftierten Juden

„Ob alle oder einige wenige der mehreren Tausend Festgenommenen nach Dachau oder in die Steiermark geschickt worden sind und ob sie bald entlassen werden, ist eine beängstigend ungewisse Angelegenheit. Die Ereignisse der letzten Tage werden wohl nie aus dem Bewusstsein Tausender von Frauen hier getilgt werden.

WIEN

Niemand hielt es für nötig, die besorgten Familien tausender von den Nazis festgenommener Juden über deren Verbleib und die veranschlagte Dauer der Inhaftierung in Kenntnis zu setzen. Notgedrungen entschlossen sich viele jüdische Frauen, das Gefängnis in der Rossauer Lände aufzusuchen, um sich nach dem Verbleib ihrer Ehemänner zu erkundigen. Laut diesem Bericht der Jewish Telegraphic Agency waren die Männer in überfüllten Eisenbahnwaggons abtransportiert worden, nachdem viele von ihnen stundenlang in unbequemer Haltung hatten verharren müssen. Während es Andeutungen gab, dass die ins Konzentrationslager Dachau Verschickten als Bauarbeiter bei der Erweiterung des Lagers ausgenutzt werden und danach freigelassen werden sollten, hatten viele keine Ahnung, wo ihre Angehörigen waren. Der Verfasser des Berichts empfindet die ‚‚außerordentliche Gefühllosigkeit, mit der die Polizei Information zurückgehalten hat“, als ‚‚einen der erschreckendsten Aspekte der Situation“.

Kein Zutritt für Juden

Bad Ischl sondert Juden in spezielle Hotels ab

„In österreichischem Kurort sollen Ghetto-Hotels eingerichtet werden.“

BAD ISCHL

Bereits im 19. Jahrhundert begann der Central-Verein Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens, Listen von Badeorten und Hotels zu veröffentlichen, in denen jüdische Gäste nicht willkommen waren. An manchen Orten ging man so weit, mit dem Prädikat ‚‚judenfrei“ zu werben. Nach dem Ersten Weltkrieg breitete sich das als “Bäder-Antisemitismus“ bekannte Phänomen aus, bis es mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 zur offiziellen Politik wurde. 1935 war Juden der Besuch der norddeutschen Badeorte, 1937 auch der im Innern des Landes gelegenen, praktisch verboten. Erst mit dem “Anschluss“ im März 1938 wurde Juden auch aus österreichischen Badeorten verdrängt. Bad Ischl und andere Ortschaften im Salzkammergut waren bei Juden besonders beliebt, so dass der österreichisch-jüdische Schriftsteller Hugo Bettauer bereits 1922 scherzte, in den dortigen Badeorten ‚‚erregte es direkt Aufsehen, wenn Leute auftauchten, die im Verdacht standen, Arier zu sein“. In einem Bericht vom 2. Juni teilt die Jewish Telegraphic Agency mit, Juden würden auf Anordnung des zuständigen Nazi-Kommissars ‚‚in jüdische Hotels und Pensionen abgesondert“ werden und dürfen nicht länger kulturellen Veranstaltungen in Bad Ischl beiwohnen.

Dekorierter Soldat, Pazifist und Kabarettist

Fritz Grünbaum wird im Konzentrationslager Dachau interniert

„Ich sehe nichts, absolut gar nichts, da muss ich mich in die nationalsozialistische Kultur verirrt haben.“

DACHAU

Nachdem er seine österreichischen Landsleute drei Jahrzehte lang zum Lachen gebracht hatte, wurde die Karriere des Kabarettisten Fritz Grünbaum durch den „Anschluss“ abrupt beendet. Seine Politik allein hätte genügt, ihn für das Regime untragbar zu machen: Grünbaum war aus dem Ersten Weltkrieg nicht nur als dekorierter Soldat, sondern auch als erklärter Pazifist zurückgekehrt. Was den Nationalsozialismus betraf, nahm er kein Blatt vor den Mund: Seit 1933 war er politischer geworden, und als 1938 während einer Vorstellung ein Stromausfall eintrat und die Lichter ausgingen, kommentierte er schlagfertig: „Ich sehe nichts, absolut gar nichts, da muss ich mich in die nationalsozialistische Kultur verirrt haben.“ Seinem letzten Auftritt im berühmten Kabarett Simpl in Wien am 10. März, zwei Tage vor dem „Anschluss“, folgte ein Auftrittsverbot für jüdische Künstler. Grünbaum und seine Frau Lilly, eine Nichte Theodor Herzls, versuchten in die Tschechoslowakei zu fliehen, wurden jedoch an der Grenze zurückgewiesen. Am 24. Mai wurde er im Konzentrationslager Dachau interniert. – Grünbaum war auch als ernsthafter Kunstsammler vor allem modernistischer österreichischer Werke und als Librettist bekannt.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Fritz Grünbaum auf dem Appellplatz in Dachau; Inv. Nr. 24631

Gnadenlos

Göring fordert strikten anti-jüdischen Boykott

„(...) einen "gnadenlosen anti-jüdischen Boykott", bis der letzte Jude gezwungen ist, Österreich zu verlassen.“

Wien

In ihrer heutigen Ausgabe berichtet die Jewish Telegraphic Agency, das „Deutsche Volksblatt“ in Wien dränge zu einem „gnadenlosen anti-jüdischen Boykott“. Dies, so das Blatt, sei die von Hermann Göring in seiner jüngsten Rede in Wien geforderte Linie. Als im Ersten Weltkrieg hoch dekorierter Jagdflieger war Göring frühzeitig der NSDAP beigetreten und gehörte dem inneren Kreis an. 1933 baute er die Geheime Staatspolizei auf, er war Oberbefehlshaber der Luftwaffe, und als Bevollmächtigter des Vierjahresplans übte er Kontrolle über die deutsche Wirtschaft aus. Darüber hinaus ist er für seine zentrale Rolle in der Durchsetzung des „Anschluss“ und als leidenschaftlicher Sammler von Kunstwerken bekannt, die er sich nicht selten auf dubiose Weise aneignete.

Mit Dirigentenstab im Tonstudio

Erich Wolfgang Korngold arbeitet an Auftrag der Warner Brothers

HOLLYWOOD

Vom ersten Augenblick war das Naziregime bestrebt, jeden Teil der menschlichen Existenz ideologisch zu durchdringen. Bereits 1933 wurde die Reichskulturkammer gegründet, um alle Aspekte kulturellen Lebens in Deutschland unter Kontrolle zu bringen. Obwohl er Staatsbürger und Einwohner Österreichs war, bekam der Komponist und Dirigent Erich Wolfgang Korngold bald die Auswirkungen dieser Veränderung zu spüren, denn er arbeitete viel in Deutschland: Jüdische Künstler waren nicht länger willkommen. In diesem Klima musste er nicht lange nachdenken, ehe er 1934 der Einladung Max Reinhardts folgte, die Filmmusik zu seiner Hollywood-Produktion von „Ein Sommernachtstraum“ zu schreiben. Mit seiner Einführung der symphonischen Filmmusik schlug er neue Wege ein und schuf den typischen „Hollywood-Klang“. 1937, während eines ausgedehnten Besuches in Wien, um die Orchestrierung seiner Oper „Die Kathrin“ zu vervollständigen, erhielt er eine Einladung der Warner Brothers, die Filmmusik zu „Robin Hood, König der Vagabunden“ zu komponieren. Dieser Auftrag ersparte ihm die Wirren des „Anschlusses“: Er kehrte lange vor dem 12. März 1938 in die USA zurück. Dieses Foto zeigt wahrscheinlich eine Aufnahmesitzung für den Soundtrack des Filmes, in dem Errol Flynn die Hauptrolle spielte. Der Schauspieler auf dem Foto ist Basil Rathbone, der Robin Hoods Erzfeind, Sir Guy von Gisbourne, spielte. Für seine überzeugende Partitur gewann Korngold einen Oscar – seinen zweiten nach „Ein rastloses Leben“ (1937).

Wie ein Bruder

Albert Göring steht für seine jüdischen Mitmenschen ein

„Nachdem inzwischen doch eine wesentliche Beruhigung eingetreten ist, glaube ich nicht, dass für Ihre Brüder oder Sie künftighin noch irgendwelche Gefahr besteht. Sollte dieser Fall aber eintreten, so können Sie jeder Zeit auf mich rechnen.“

WIEN

Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder Hermann, der mehrere führende Ämter in der Naziregierung innehatte und ein berüchtigter Hasser von Juden und Dissidenten war, verabscheute der Ingenieur Albert Göring den Nationalsozialismus und war bereit, seinen Überzeugungengen nach zu handeln: Er weigerte sich, der Partei beizutreten und nahm demonstrativ die österreichische Staatsbürgerschaft an. Als Einwohner Wiens soll er sich Juden angeschlossen haben, die nach dem „Anschluss“ zu der demütigenden Aufgabe gezwungen wurden, auf Knien das Pflaster zu reinigen, und er zögerte nicht, Juden und politischen Gegnern des Regimes zu helfen. In diesem Brief an den jüdischen Rechtanwalt Dr. Hugo Wolf kommuniziert er seinen Eindruck einer „wesentlichen Beruhigung“ und die Annahme, die Gefahr sei vorüber, sagt aber auch für den Notfall seine Hilfe zu.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Max und Margareta Wolf, AR 10699

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Im Niemandsland

Der Völkerbund interveniert für 56 Vertriebene

Belgrad

Die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland im März 1938 hatte der tausendjährigen Geschichte jüdischen Lebens im Burgenland, Österreichs östlichstem Bundesland, ein jähes Ende bereitet: Die Vertreibung der zahlenmässig kleinen jüdischen Bevölkerung, ausgeführt durch SS, lokale Nazi-Beamte und zivile Kollaborateure, setzte sofort ein. Dieser Artikel der Jewish Telegraphic Agency berichtet über die Intervention des Völkerbunds für 56 Vertriebene, die im „Niemandsland“ im Grenzgebiet zwischen Österreich und Jugoslawien feststeckten. Der Hochkomissar des Völkerbunds für deutsche Flüchtlinge hatte um die vorübergehende Aufnahme der nun Heimatlosen durch Jugoslawien gebeten, der eine permanente Neuansiedlung folgen sollte.

Betty Blum kämpft für ihren Sohn

Blick in die USA nach Verlust der Arbeitsstelle in Wien

Bruno, mein ältester Sohn, trägt seit Jahren zu unserem Unterhalt bei. Nun, nachdem er seine Stelle verloren und keine Aussicht auf eine neue hat, beabsichtigt er, das Land zu verlassen. Doch leider verschließen sich fast alle Länder vor Einwanderern. Daher sehe ich keine andere Möglichkeit als zu versuchen, eine Einreisegenehmigung in die Vereinigten Staaten zu bekommen.

Wien/New York

Unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Österreich waren jüdische Geschäfte und Firmen der Leitung „arischer“ Kommissare übergeben worden. Im Verlauf dieser „Arisierung“ – tatsächlich die Enteignung und der Raub jüdischen Besitzes – hatte der 30jährige Bruno Blum nach kaum mehr als vier Jahren seine Stelle bei der „Wiener Margarin-Compagnie“ verloren. Da sie begriff, wie gering die Chancen ihres ältesten Sohnes waren, unter dem Naziregime eine neue Stelle zu finden, wandte sich Betty Blum an ihren Cousin Moses Mandl in New York um Hilfe mit einer Bürgschaft. Als sie keine Antwort bekam, schrieb sie diesen Brief an ihren Neffen Stanley Frankfurter, um ihn zu bitten, Moses Mandl zuzureden oder mit der Bitte um Unterstützung an die Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS) heranzutreten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Blum Family, AR 25132

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Der trockene Humor eines Psychoanalytikers

Sigmund Freud feiert seinen letzten Geburtstag in Wien

Wien

Während Sigmund Freud, der „Vater der Psychoanalyse“, sicher die Bedeutung des „Anschlusses“ nicht unterschätzte – „Finis Austriae“ war der lapidare Kommentar, den er in seinem Tagebuch notierte – trieb ihn nicht einmal die Durchsuchung seines Verlages und seiner Wohnung durch die Nazis dazu, die Möglichkeit der Emigration zu untersuchen. Er soll sogar den unerbetenen Besuch der Nazis, die sich mit einer beträchtlichen Summe Geldes aus dem Staub gemacht hatten, mit der trockenen Bemerkung „Ich habe für einen einzigen Besuch nie so viel genommen“ kommentiert haben. Doch als seine Tochter Anna, selbst renommierte Psychoanalytikerin, kurz danach von der Gestapo verhört wurde, reagierte der gewöhnlich reservierte Freud hochemotional und begann, die verschiedenen Asylangebote abzuwägen, die er bekommen hatte. Der 6. Mai 1938 war sein letzter Geburtstag in Wien.

Heimat auf dem Papier

Jüdischer Geschäftsmann bekommt Residenzrecht bescheinigt

Wien

Österreichische Ortschaften waren gesetzlich verpflichtet, ihren Einwohnern Urkunden auszustellen, die ihr Wohnrecht bestätigten. Diese Papiere garantierten unbehinderten Aufenthalt und Unterstützung im Falle der Verarmung. Im Mai 1938 war das Gesetz aus dem Jahr 1849, auf dem diese Praxis beruhte, zumindest auf dem Papier noch voll gültig: Der „Heimatschein“ Carl Grossers, eines jungen jüdischen Geschäftsmannes, wurde am 2. Mai 1938 erneuert. Grosser hatte 1932 am renommierten Wasagymnasium mit seinem auffallend hohen Anteil jüdischer Schüler maturiert. Danach war er in das Krawattengeschäft seines Vaters eingestigen, hatte Zeit in Deutschland und England verbracht, um seine professionellen Horizonte zu erweitern und ausgiebige Reisen in ganz Europa unternommen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Carl Grosser, AR 10559

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Welche Höhen man erreichen könnte

Der Wunsch nach Selbstbestimmung angesichts jüdischer Entrechtung

„Empört zeigt sich wohl die ,zivilisierte‘ Welt über die Barbarei der Deutschen, die wahrhaft wenig sanft mit uns umgehen. Was aber tun sie für hunderte von burgenländischen Juden, die zum Beispiel auf einem Schlepper mitten auf der Donau hausen oder auf einem Fleckchen Land zwischen Deutschland und Jugoslawien?”

Wien

Eineinhalb Monate nach dem „Anschluss“ erscheint Paul Steiner noch immer fassungslos: Alles kommt ihm so unglaublich vor, dass „selbst die eigenen Worte erstaunlich und zweifelhaft werden“. Er fragt sich, was die Außenwelt angesichts der deutschen Barbarei für die Juden täte, besonders für die Juden des Burgenlands, die gleich nach dem „Anschluss“ brutal vertrieben worden und in vollkommen unzulänglichen Unterkünften gestrandet waren, während sich ihre früheren Nachbarn ihren Besitz aneigneten. Er schreibt eine Vision jüdischer „Rache“ nieder, die gefordert werden soll, indem die Welt dadurch beschämt wird, dass man ihr zeigt, welche Höhen Juden erreichen können, wenn man ihnen die Möglichkeit zur Selbstbestimmung gibt.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Original:

Sammlung Paul Steiner, AR 25208

Liesl

Politische Gegner im Polizeigefängnis

„In Deiner Angelegenheit mache ich nach wie vor alle notwendigen Wege. Die Herren zeigen sich äußerst entgegenkommend, können aber infolge Überbürdung nicht alles so rasch erledigen“.

WIEN

Schon während der Jahre des autoritären Regimes, das 1934 in Österreich eingeführt worden war („Austrofaschismus“), war das Polizeigefängnis Rossauer Lände in Wien (von den Einheimischen „Liesl“ genannt) als Haftanstalt nicht nur für Kriminelle, sondern auch für politische Gegner benutzt worden. Nach der Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland am 12. März 1938 wurden von hier aus die ersten 150 Österreicher ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Edmund Wachs wurde im April 1938 in der „Liesl“ in „Schutzhaft“ genommen, ein bequemes Mittel in den Händen der Nazibehörden, um Juden und politische Gegner loszuwerden, da sie willkürlich verhängt werden konnte und den Gefangenen kaum oder gar keinen Rückgriff auf Rechtsbeistand ließ. Auf dieser Postkarte versichert ihm sein Bruder, Rechtanwalt Dr. Karl Wachs, er täte alles Notwendige, um seinen Fall zu unterstützen und bittet ihn um Geduld.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Edmund und Berta Wachs, AR 25093.

Original:

Archivbox 1, Ordner 6

Rasse, nicht Religion

Trotz Taufschein als Jude entlassen

„Wenn Sie kommen, werden wir unser Bestes tun, um Ihnen zu helfen. Sie können dem Kanadischen Hochkommissar versichern, dass wir die Verantwortung für Sie übernehmen, so dass sie dem Staat nicht zur Last fallen werden“.

Wien/Winnipeg

In düsteren Zeiten wie diesen bedeutete ein Brief, der eine Arbeitsmöglichkeit in Kanada versprach, einen immens wichtigen Hoffnungsschimmer. Obwohl er im Besitz dessen war, was Heinrich Heine bekanntlich als „Entréebillet zur europäischen Kultur“ bezeichnete – einen Taufschein – wurde Anton Felix Perl 1938 aus „rassischen“ Gründen von seiner Stelle als Assistenzarzt im Wiener Allgemeinen Krankenhaus entlassen. Zu seinem Glück genoss er die Unterstützung eines so prominenten Fürsprechers wie dem Erzbischof von Winipeg, der ihm in diesem Brief vom 25. April 1938 wertvolle Ratschläge bezüglich der Einwanderung nach Kanada erteilte und ihm praktische Hilfe versprach.

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