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Das Ende eines Familienbetriebes

Das Ende eines Familienbetriebs nach drei Generationen

„Pucki hat seine Tätigkeit in der Fabrik beendet. Ich folge in den nächsten Tagen nach. Mein Privatleben wird aber durch Kochen und Plätten zu Hause wohl auch ganz ausgefüllt sein.“

Neustadt, Oberschlesien/Brünn

Hans Joseph Pinkus‘ Urgroßvater hatte im 19. Jahrhundert in die Familie Fränkel in Neustadt, Oberschlesien, eingeheiratet. Mit vereinten Kräften betrieben die zwei Familien die Firma „S. Fränkel“, eine erfolgreiche Textilfabrik, die zu einem der größten Leinenproduzenten der Welt wurde. Unter gewöhnliche Umständen wäre Hans Joseph wohl den drei Generationen männlicher Vorfahren gefolgt und hätte die Geschicke der Firma gelenkt, aber er war erst 16 Jahre alt und im Internat, als diese „arisiert“ wurde: am 20. Oktober 1938 ließ ihn seine Stiefmutter Lili wissen, sein Vater stünde kurz davor, seinen Posten zu verlassen und sie würde es ihm in Kürze nachtun. Sie ließ nicht durchblicken, ob „Kochen und Plätten zu Hause“ eine attraktive Alternative für sie darstellte und behielt ihre Gefühle für sich.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung John Peters Pinkus Domuenten, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 16

Endlich Antwort!

Wichtige Kommunikationsnetze

„Zu meiner unendlichen Erleichterung habe ich eben Deine Karten vom 30. September und 2. Oktober erhalten. Besten Dank! Ich bin sehr froh, dass du wohl und munter bist.“

Neustadt, Oberschlesien/Brünn

Wie wichtig der persönliche Briefverkehr für eine Familie sein konnte, die ganz verstreut lebte, zeigt die Korrespondenz zwischen Lili Pinkus und ihren Verwandten. So hielt sie etwa mit wöchentlichen Briefen den Kontakt zu ihrem 16-jährigen Stiefsohn Hans Joseph, genannt Pippo, aufrecht, der eine Schule in ihrem Heimatort Brünn in der Tschechoslowakei besuchte. Die gleiche Regelmäßigkeit erwartete sie im Gegenzug allerdings auch von ihrem Stiefsohn. Ihr Brief vom 10. Oktober verdeutlicht, was es bedeutet haben muss, wenn seine Antworten länger ausblieben: „Unendliche Erleichterung“ habe sie gespürt, als nach längerer Zeit endlich zwei erlösende Postkarten des 16-Jährigen eintrafen. Lili Pinkus berichtet ihrem Stiefsohn vom Alltag der Familie – spart dabei aber die Sorgen aus, mit denen sie und ihr Mann gekämpft haben müssen. Die Textilfabrik der Familie im oberschlesischen Neustadt („S. Fränkel“) war einer der größten Leinen-Produzenten der Welt. Lili Pinkus‘ Mann, Hans Hubert, leitete das Familienunternehmen seit 1926. Nun aber stand der Familie die „Arisierung“ des Betriebs bevor.

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung John Peters Pinkus Dokumente, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 16

Schlechte Aussichten

Flüchtlinge in der Tschechoslowakei

„Keiner der Flüchtlinge darf natürlich arbeiten. Unter ihnen sind Geschäftsleute, Fachkräfte und Handwerker, von denen viele früher wohlhabend waren. Ohne materielle Rücklagen, oft abgeschnitten von Familie und Freunden, die sie zurücklassen mussten, vor sich eine unsichere Zukunft, wird diese Flüchtlingkolonie bald zu einem psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Problem.“

Brünn

Die Jewish Telegraphic Agency beschrieb die Situation österreichischer Flüchtlinge in der Tschechoslowakei mit Weitsicht: Ändere sich nichts an ihren prekären Umständen (Arbeitsverbot, Mittellosigkeit, fehlende Bleibe-Perspektiven…), würde die Situation schon bald „zum psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Problem“ werden. Die JTA ging davon aus, dass sich Mitte September 1938 mehr als 1.000 Flüchtlinge in der Tschechoslowakei aufhielten, die meisten von ihnen in Brünn, knapp 50 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Nun sah eine Polizeimaßnahme vor, für Personen, die bereits länger als zwei Monate in der Tschechoslowakei waren, eine Kaution von 2.000 tschechischen Kronen (70 Dollar) zu verlangen – sonst drohte ihnen eine Abschiebung. Wer das Geld auslegen sollte, war vollkommen unklar. Weder die jüdische Gemeinde Brünns noch die Liga der Menschenrechte hatten die Mittel dazu.

„Illegale“ Einwanderin

Gisella Jellinek wird in Palästina zu Nadja

„Ich gratuliere Dir nachträglich zu Deinem 18. Geburtstage und wünsche Dir, das, was Du Dir wünschst, ein recht langes Leben, Gesundheit, Heldentum, Mut, gute Chawera zu sein und dass Dein Ideal in Erfüllung geht und nicht vergessen (...) recht viel Arbeit.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Unter abenteuerlichen Umständen war Gisella Jellinek im Juni 1938 nach Palästina gelangt. Als Teil einer Gruppe von mehreren hundert Jugendlichen war sie in das Mandatsgebiet eingeschmuggelt worden. Um zu verhindern, von den britischen Mandatsbehörden als illegale Einwanderin aufgespürt zu werden, musste sie sich vom Augenblick des Landgangs in Palästina an die Hebräischkenntnisse zunutze machen, die sie im zionistischen landwirtschaftlichen Ausbildungslager in Österreich erworben hatte. Etwa zwei Monate nach ihrer Ankunft in Palästina wurde Gisella, die sich jetzt Nadja nannte, 18 Jahre alt. In diesem nachträglichen Geburtstagsbrief wünscht ihr ihre Schwester Berta „Heldentum, Mut und eine gute Chawerah (Kibbutz-Mitglied) zu sein“.

Tagesgeschehen zum 18. Geburtstag

Hugo Jellinek gratuliert seiner Tochter und kommentiert die aktuellen Entwicklungen

„Böhmen ist eine harte Nuss, an der sich diese Räuberbande die Zähne ausbrechen werden [sic] oder sagen wir eine Buchtel, an der diese wahnsinnig gewordenen Teufel ersticken werden. Trotz der vielen hiesigen deutschen Hochverräter ist [sic] Regierung und Volk einig in dem unerschütterlichen Willen, die Freiheit und demokratischen Errungenschaften bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Hugo Jellinek war stolz auf seine Tochter Gisella, die während der Hachschara zu einer glühenden Zionistin geworden und wenige Monate zuvor als Teil einer Gruppe wagemutiger Jugendlicher nach Palästina eingewandert war. Zum 18. Geburtstag schickte er seiner erstgeborenen Tochter nicht nur Glückwunsche, sondern ließ sie auch ausführlich an seinen Gedanken zum Tagesgeschehen teilhaben: Deutsche Manöver entlang der tschechoslowakischen Grenze beunruhigten ihn sehr, doch er war überzeugt, anders als im Fall Österreichs würde die Wehrmacht mit scharfem Widerstand zu rechnen haben. Das Misstrauen und der Mangel an Solidarität wohlhabender Brünner Juden gegenüber jüdischen Flüchtlingen erfüllten ihn mit Bitterkeit. Auch war er sehr besorgt wegen der Räumungsbescheide, die bei österreichischen Juden eingingen. Bei allen Sorgen und Klagen verschaffte eine neue Damenbekanntschaft einen Lichtblick.

Die Hilfsstelle der Liga für Menschenrechte

„Diese Hunde von Hitler und Göring werden niemals gewinnen“

„Es stirbt halt nicht der jüd. Wohltätigkeitssinn aus und es wird diesen Hunden von Hitler und Göring nicht gelingen, dass die Emigranten in der Gosse krepieren.“

Brünn/Rischon LeZion

Hugo Jellinek war ein vielseitig begabter Mann. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwang ihn, sein Medizinstudium abzubrechen. Als Soldat wurde er in Samarkand schwer verwundet und verliebte sich in die Krankenschwester, die ihn pflegte und später seine Frau und die Mutter seiner drei Töchter wurde. Das Paar siedelte sich in Taschkent (Usbekistan) an. Nach dem Tod seiner noch jungen Frau im Jahr 1926 floh er 1930 aus der Sowjetunion und kehrte schließlich nach Wien zurück. Dort machte er sich die acht Sprachen, die er beherrschte, als Übersetzer zunutze und arbeitete als freiberuflicher Jornalist. Dank einer Warnung bezüglich seiner bevorstehenden Festnahme gelang es ihm im Juni 1938, nach Brünn zu entkommen. Seine älteste Tochter Gisella Nadja brach am selben Tag nach Palästina auf. In diesem schillernden Brief zeigt Hugo väterliche Sorge um Nadjas Wohlbefinden, diskutiert aber auch ausführlich die eigenen Nöte als Flüchtling und vergisst nicht zu berichten, dass der Sohn seines Cousins im Konzentrationslager Dachau interniert sei. Mit Genugtuung erwähnt er die Arbeit der von ihm so genannten „Liga“ (gemeint ist wohl die Hilfsstelle der Liga für Menschenrechte), die sich um die Flüchtlinge kümmerte und damit Hitlers teuflischen Plänen trotzte. Letztendlich jedoch käme es vor allem darauf an, für einen eigenen Staat zu kämpfen.

Erziehung per Briefpost

Eine Stiefmutter ermahnt ihren Sohn, in Kontakt zu bleiben

„Man hat wirklich andere Sorgen, um sich nicht auch noch den Kopf wegen Deines Nichtschreibens zerbrechen zu müssen, denn dass ich ernstlich besorgt war, ehe ich mich zu dem Anruf entschlossen habe, kannst Du mir glauben.“

Neustadt, Oberschlesien/Brünn

Hans Joseph Pinkus war ein direkter Nachfahre Samuel Fränkels, des Gründers einer Textilfabrik in Neustadt (Oberschlesien), die für einige Zeit der Hauptarbeitgeber in der Region und ein weltführender Wäschefabrikant war. Sein Großvater Max war ein persönlicher Freund und Förderer des Autoren und Nobelpreisträgers Gerhart Hauptmann gewesen. Auch sein Großonkel, der Wissenschaftler Paul Ehrlich, wurde mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Lili, Hans Josephs Stiefmutter, zeigte sich von dieser Ahnenriege kaum beeindruckt: In diesem Brief, den sie am 8. Juni 1938 schrieb, verpasst sie ihm eine ernsthafte Kopfwäsche, weil er die Korrespondenz mit den Eltern vernachlässigt hat und erkundigt sich streng, ob er in der Tschechischprüfung durchgefallen sei. Zu diesem Zeitpunkt hielt sich der 16jährige „Pipo“, wie ihn die Familie nannte, bei seiner Stiefgroßmutter in Brno (Tschechoslowakei) auf und ging dort zur Schule. Seine Eltern und Halbschwestern lebten in Neustadt: Die Direktion der Firma S. Fränkel war seit mehreren Generationen an männliche Mitglieder der Familie Pinkus weitergegeben und befand sich nun in den Händen seines Vaters Hans Hubert.

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