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Nicht das Land ihrer Träume

Emigranten haben keine Wahl

„Ich bemühe mich aber ausserdem noch weiter um U.S.A. und England, und werde dann in Ruhe entscheiden, wo es für mich am besten sein wird. Ich habe nicht viel Lust in Pal. zu bleiben.“

Siena/Turin

Von dem Gedanken, in Palästina zu leben, war Stella nicht begeistert. Wie ihre Freundin Anneliese Riess, der sie am 28. Dezember ihre Gefühle mitteilte, war sie nach Italien geflohen. Aber auch hier war sie als Jüdin nicht willkommen: Laut der neuen Rassengesetze waren nicht in Italien geborene Juden verpflichtet, das Land innerhalb eines halben Jahres zu verlassen. Die 2000 unter den 10000 ausländischen Juden, die sich bereits vor 1919 in Italien niedergelassen hatten, waren von der Bestimmung ausgenommen. Wenigstens hatte Stella ein von der Mandatsregierung ausgestelltes Einwanderungs-Zertifikat für Palästina, und in einer Tel Aviver Klinik wartete auf sie eine unbezahlte Stelle, die freie Wohnung und Verpflegung versprach. Dennoch bemühte sie sich weiter um eine Einreisegenehmigung nach England oder in die USA. Tatsächlich war selbst eine unbezahlte Stelle mehr als viele eingewanderte Ärzte in Palästina erhoffen konnten: seit 1936 herrschte ein Überschuss an Ärzten im Land, und eine neue Einwanderungswelle nach der Annexion Österreichs im Februar 1938 („Anschluss“) hatte die Situation noch verschärft.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Anneliese Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, ordner 10

Ein alter Kopf begegnet neuen Herausforderungen

Von der Schwierigkeit, ein älterer Einwanderer zu sein

„Ich selbst habe Englisch und Ivrith angefangen. Es geht aber in einen alten Kopf nur sehr schwer etwas Neues hinein. Geld zum Stundennehmen habe ich nicht.“

Haifa

Im September 1938 hatten Dr. Hermann Mansbach und seine Frau Selma ihr Zuhause in Mannheim verlassen und sich in Haifa niedergelassen. Ihr Sohn Herbert, ein Zahnarzt wie sein Vater, saß in der Schweiz fest und versuchte, sich seinen Eltern anzuschließen. Nach einem Erlass der Nazis im April 1937, laut dem die Verleihung der Doktorwürde an Juden mit sofortiger Wirkung eingestellt zu werden habe, hatte Herbert Deutschland sofort verlassen und sein Studium in der Schweiz zu Ende geführt. Ein Zertifikat zur Einreise nach Palästina zu bekommen, erwies sich als schwierig, und um die Sache noch schlimmer zu machen, war Herbert um sein gesamtes Geld betrogen worden. Am 19. Dezember erstattete Hermann Mansbach Familie Frank in Zürich, die seinem Sohn zur Seite stand, und Herbert selbst Bericht von seinem neuen Leben in Palästina: durch die diskriminierende Politik der Nazis, die darauf hinzielte, das Leben von Juden in Deutschland wirtschaftlich unmöglich zu machen, und kostspielige Auswanderungsauflagen hatte das Ehepaar wenig Geld übrig, was den Neuanfang erschwerte. Dazu hatte er Mühe, Englisch und Hebräisch zu lernen und einen Lebensunterhalt zu verdienen. Als wären das nicht genug, köchelten im Hintergrund pausenlos politische Unruhen. Frau Mannsbach fügte hinzu, dass sie und ihr Mann das Haus nie gleichzeitig verließen, um ja keinen Patienten zu verpassen. Die Lage war schwer, aber, wie Dr. Mansbach schrieb, in einem Konzentrationslager zu sein, wäre schlimmer.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herbert Joseph Mansbach, AR 7073

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Wenigstens die Kinder

England erklärt sich zur Aufnahme von 10000 jüdischen Kindern bereit

„Der Regierungsentscheid wurde von Kolonialsekretär Malcolm MacDonald bekanntgegeben, der erklärte, jede Änderung der Einwanderungsrate nach Palästina würde die bevorstehenden britisch-arabisch-jüdischen Verhandlungen ,im Voraus beeinflussen‘“.

London

Selbst die völlige Schutzlosigkeit der deutschen Juden angesichts der Gewaltakte der Novemberpogrome führte nicht zu einer nennenswerten Anpassung der internationalen Flüchtlingspolitik. Die Jewish Agency for Palestine hatte daher von den Briten gefordert, 10,000 jüdischen Kindern aus Deutschland die sofortige Einreise nach Palästina zu gestatten. Wie die Jewish Telegraphic Agency am 14. Dezember berichtete, sah die britische Regierung als Mandatsmacht durch einen solchen Schritt ihren diplomatischen Balanceakt gegenüber den beteiligten Gruppen gefährdet und wies den Antrag ab. Sie erklärte sich jedoch bereit, die Kinder vorübergehend in England aufzunehmen.Viele jüdische Eltern waren zu der schmerzhaften Entscheidung bereit, ihre Sprößlinge allein ins Ausland zu schicken, um wenigstens ihnen die ständigen Anfeindungen und die physische Gefahr zu ersparen. Schon vor dem Vorstoß der Jewish Agency, im November, hatte die Regierung grünes Licht für die Einreise 5000 unbegleiteter Kinder unter 17 gegeben. Die erste Gruppe, 196 Kinder aus einem in der Pogromnacht zerstörten Waisenhaus in Berlin, war Anfang Dezember in Harwich an Land gegangen.

Ein Mädchen geht voran

Hoffnung auf eine Zukunft in Palästina

„Ich stel mir vor das es Euch dorten gut geht. Es kommt mir vor nach eueren Schreiben wie in einem Paradis. Liebe Lotte du kannst mir glauben ich möchte an euerer Stelle sein, den das Leben hier ist sehr traurig und fad überhaupt jetzt wo Benno nicht zuhause ist.“

Wien/Gan Schmuel

Die Ankunft von Gertrude Münzers erstem Brief aus Palästina war ein Anlass zu Freude, Erleichterung und Hoffnung für ihre Familie, die in Wien zurückgeblieben war. Die Münzers waren eine gut integrierte Familie, aber nach der Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland wandte sich das Blatt, und sie gerieten zunehmend in Bedrängnis: Zunächst wurden sie aus ihrer Wohnung geworfen, dann verlor Moses Münzer seine Stelle. Mit Unterstützung ihrer Eltern ging Gertrude als einziges Mitglied ihrer Familie mit einer zionistischen Jugendgruppe nach Palästina. Angeregt durch ihr Beispiel, war ihr älterer Bruder Benno auf Hachscharah gegangen. In seiner Ratlosigkeit bittet ihr Vater in seinem Antwortbrief seine 15jährige Tochter inständig, im Kibbuz oder anderswo um Unterstützung für ihn nachzusuchen, damit er mit dem Rest der Familie nachkommen kann.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gertrude Knopf Familie, AR 11692

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Die Vertreibung polnischer Juden

Die Vertreibung polnischer Juden

Köln

Da es einen massiven Zustrom polnischer Juden aus dem von Nazi-Deutschland annektierten Österreich befürchtete, verabschiedete das polnische Parlament im März 1938 ein Gesetz, das es ermöglichte, Menschen die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, die mindestens fünf Jahre außer Landes waren. Am 15. Oktober erging eine Verfügung, wonach nur Personen mit einem Prüfvermerk des polnischen Konsulats die Einreise gestattet sei. Die Verfügung sollte am 30. Oktober in Kraft treten. Angesichts der Anwesenheit von weit über 70.000 polnischen Juden im Reichsgebiet entschloss sich das Regime zu schnellem Handeln: Im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“ vom 27. bis zum 29. Oktober wurden tausende polnischer Juden ausgewiesen. Viele dieser polnischen Staatsbürger hatten wenig oder überhaupt keine Verbindung zu ihrem Ursprungsland und nichts und niemanden, zu dem sie hätten zurückkehren können. Eines der Opfer der Aktion war Ida, die Haushälterin der Familie Schönenberg in Köln: Am 29. Oktober schreibt Dr. Schönenberg, seit drei Jahren Idas Dienstherr, an seinen Sohn Leopold in Palästina, wie sich die junge Frau mit gerade einmal 3 1/2 Stunden Vorwarnung bei der Polizei habe einfinden müssen. Ida war gebürtige Kölnerin und hatte einen Verlobten in Deutschland.

QUELLE

Institution:

NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Original:

Best. 46

Looking toward Palestine

The Münzer family hopes for a reunion in Palestine

After Moses Münzer loses his job as a tailor, his wife, Lisa, is forced to work in a soup kitchen. Now the family hopes for a future in Palestine.

WIEN

This photograph, taken in October 1938, shows Moses Münzer, a tailor in Vienna, and his wife Lisa, with their five children, Elfriede, Benno, Nelly, Gertrude and Siegfried. After the “Anschluss,” Moses Münzer, like many Jews, lost his job. Lisa Münzer started working as a cook in the soup kitchen of the Brigittenauer Tempel on Kluckygasse, sometimes assisted by her children. By October 21st, 15-year-old Gertrude was on her way to Palestine on Youth Aliyah, an organization founded by Recha Freier, the wife of an orthodox rabbi in Berlin, before the Nazi rise to power. Its goal was to help Jewish youth escape anti-Semitism in the Reich and settle in Palestine. Gertrude left on her own, but the intention was for the family to reunite in Palestine.

Fluch der Bürokratie

Warten auf ein "Kapitalistenzertifikat"

„Zur Zeit gibt es überhaupt keinen Vorzugs-Zertifikatstransfer. Auf dem letzten Vorzugstransfer sind im ganzen 27 Familien nach Palästina hereingekommen. Eine neue Transfertranche soll im Winter aufgelegt werden, aber man wird nicht damit rechnen können, dass Ledige dabei irgendwie berücksichtigt werden können, insbesondere, wenn sie sich schon im Ausland aufhalten.“

Konstanz/Zürich

Nach seinem Studium in Deutschland war Dr. Herbert Mansbach, ein junger Zahnarzt aus Mannheim, in die Schweiz gegangen, um zu promovieren und sich auf Kieferorthopädie zu spezialisieren. Dies, so glaubte er, war eine gesuchte Fähigkeit in Palästina, wohin er auszuwandern hoffte. Die Einwanderung nach Palästina war jedoch durch die Briten erheblichen Einschränkungen unterworfen: Dr. Mansbachs Freund Alfred Rothschild, ein Justizrat im Ruhestand, teilte ihm mit, es seien zur Zeit keine Vorzugs-Einwanderungszertifikate zu haben und das Zulassungsverfahren für ein „Kapitalistenzertifikat“ (eine Art von Zertifikat, dessen Vergabe davon abhängig war, ob der Antragsteller den Besitz von mindestens £1000 nachweisen konnte und keiner Quotierung unterlag) liefe noch. Die Angelegenheit war sehr dringend, denn Mitte Oktober war Dr. Mansbachs Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz abgelaufen. Rothschild rechnete damit, dass falls der Antrag auf ein gewöhnliches Zertifikat erfolgreich sein würde, die Schweizer Behörden seinem Freund gestatten würden, einstweilen im Land zu bleiben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herbert Joseph Mansbach, AR 7073

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Vom Schwur, niemandem zu schaden

Ein jüdischer Arzt sorgt sich wegen beruflicher Konsequenzen der Nazi-Gesetze

„Mir geht in diesen Wochen oft ein lateinischer Vers des Horaz durch den Kopf, der in deutscher Übertragung etwa so lautet: Und wenn die Welt zusammenstürzt, wird sie einen unerschütterten Mann erschlagen.“

KÖLN

Erstaunlich viele deutsche Ärzte hatten anscheinend nicht nur keine Skrupel, sich durch das Nazi-Regime vereinnahmen zu lassen, sondern unterstützten aktiv dessen rassistische und eugenische Grundsätze, wobei sie bequem außer Acht ließen, dass sie doch vorgeblich dem Hippokratischen Eid mit seiner Forderung, keinen Schaden zuzufügen, verpflichtet waren. Nicht genug damit, dass sie eine Ideologie verbreiteten, die Juden zu einer „Gefahr für die deutsche Rasse“ erklärte, schlossen medizinische Organisationen in Deutschland Juden aus und machten es ihnen zunehmend schwerer, ihren Unterhalt zu verdienen. Unter diesen Umständen überrascht es nicht, dass Dr. Max Schönenberg, ein Kölner Arzt, und seine Frau Erna, eine Musikerin, die Auswanderung ihres Sohnes Leopold 1937 nach Palästina unterstützt hatten, obwohl der Junge zu dem Zeitpunkt erst 15 Jahre alt war. In diesem Brief an seinen Sohn vom 18. September 1938 spricht Dr. Schönenberg verschiedene gewichtige Themen an, darunter die gerade erfolgte Entscheidung des Regimes, jüdischen Ärzten die Approbation zu entziehen und seine Ungewissheit hinsichtlich seiner beruflichen Zukunft (manche jüdischen Ärzte erhielten Erlaubnis, jüdische Patienten zu behandeln).

QUELLE

Institution:

NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Original:

Best. 46

Ein neuer Versuch

Eine Bürgschaft aus den USA brachte Hoffnung

„Leo Abraham, Elsa Marx Abraham und ihre beiden Kinder sollen zu keiner Zeit eine Belastung für die Vereinigten Staaten werden.“

Scranton, Pennsylvania

Eigentlich hätten Leo Abraham, seine Frau Elsa und die beiden Kinder Bertel und Hannelore schon längst in Palästina sein sollen. Denn um Auswanderungs-Unterlagen hatte sich der Familienvater aus dem rheinland-pfälzischen Altenkirchen bereits kurz nach der Machtübernahme der Nazis gekümmert. Ein Autounfall aber hatte Leo Abraham so schwer verletzt, dass eine Ausreise lange unmöglich erschien. Die Visa für Palästina verfielen. Nun startete Familie Abraham einen zweiten Versuch. Leo Abrahams Cousin David Landau war US-Bürger und stellte den Abrahams im September 1938 eine Bürgschaft aus. Als Jurist mit eigener Anwaltskanzlei in Scranton/Pennsylvania verfügte Landau über ein gutes Einkommen. Eine wichtige Voraussetzung, denn Landau musste versichern, für sämtliche finanziellen Bedürfnisse der Familie Abraham selbst aufzukommen.

Ma’ayan Tsvi

Makkabi-Bewegung bereitete in Deutschland Gruendungsmitglieder der Siedlung aus

Ma'ayan

Der wachsende Zustrom europäischer Juden auf der Flucht vor den Nazis nach Palästina führte zum Widerstand seitens der palästinensischen Araber: 1936 brach eine bewaffnete Revolte aus. Während dieser Zeit machten sich jüdische Siedler ein Gesetz aus der Zeit des Osmanischen Reiches zunutze, laut dem ein nicht genehmigter Bau nicht abgerissen werden durfte, sobald er ein Dach besaß: Sie errichteten im Schutz der Nacht aus vorgefertigten Teilen einen von einer Palisade umgebenen Zaun, so dass im Fall der Entdeckung durch Beamte der britischen Mandatsmacht nichts dagegen unternommen werden konnte. Gleichzeitig war ein Bau dieser Art sofort verteidigungsfähig gegenüber Angriffen lokaler Araber. Eine dieser Siedlungen war Ma’ayan (später bekannt als Ma’ayan Tsvi), westlich von Sichron Jaakow auf der nördlichen Küstenebene gelegen. Ihre 70 Gründungsmitglieder waren als Mitglieder der Makkabi-Bewegung in Deutschland (und ab 1935 in Palästina selbst) auf das Pionierleben im Lande vorbereitet worden.

QUELLE

Institution:

Courtesy of Kedem Auction House

Original:

Photograph Album – Establishment of Ma'ayan Tzvi Kibbutz

„Illegale“ Einwanderin

Gisella Jellinek wird in Palästina zu Nadja

„Ich gratuliere Dir nachträglich zu Deinem 18. Geburtstage und wünsche Dir, das, was Du Dir wünschst, ein recht langes Leben, Gesundheit, Heldentum, Mut, gute Chawera zu sein und dass Dein Ideal in Erfüllung geht und nicht vergessen (...) recht viel Arbeit.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Unter abenteuerlichen Umständen war Gisella Jellinek im Juni 1938 nach Palästina gelangt. Als Teil einer Gruppe von mehreren hundert Jugendlichen war sie in das Mandatsgebiet eingeschmuggelt worden. Um zu verhindern, von den britischen Mandatsbehörden als illegale Einwanderin aufgespürt zu werden, musste sie sich vom Augenblick des Landgangs in Palästina an die Hebräischkenntnisse zunutze machen, die sie im zionistischen landwirtschaftlichen Ausbildungslager in Österreich erworben hatte. Etwa zwei Monate nach ihrer Ankunft in Palästina wurde Gisella, die sich jetzt Nadja nannte, 18 Jahre alt. In diesem nachträglichen Geburtstagsbrief wünscht ihr ihre Schwester Berta „Heldentum, Mut und eine gute Chawerah (Kibbutz-Mitglied) zu sein“.

Tagesgeschehen zum 18. Geburtstag

Hugo Jellinek gratuliert seiner Tochter und kommentiert die aktuellen Entwicklungen

„Böhmen ist eine harte Nuss, an der sich diese Räuberbande die Zähne ausbrechen werden [sic] oder sagen wir eine Buchtel, an der diese wahnsinnig gewordenen Teufel ersticken werden. Trotz der vielen hiesigen deutschen Hochverräter ist [sic] Regierung und Volk einig in dem unerschütterlichen Willen, die Freiheit und demokratischen Errungenschaften bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Hugo Jellinek war stolz auf seine Tochter Gisella, die während der Hachschara zu einer glühenden Zionistin geworden und wenige Monate zuvor als Teil einer Gruppe wagemutiger Jugendlicher nach Palästina eingewandert war. Zum 18. Geburtstag schickte er seiner erstgeborenen Tochter nicht nur Glückwunsche, sondern ließ sie auch ausführlich an seinen Gedanken zum Tagesgeschehen teilhaben: Deutsche Manöver entlang der tschechoslowakischen Grenze beunruhigten ihn sehr, doch er war überzeugt, anders als im Fall Österreichs würde die Wehrmacht mit scharfem Widerstand zu rechnen haben. Das Misstrauen und der Mangel an Solidarität wohlhabender Brünner Juden gegenüber jüdischen Flüchtlingen erfüllten ihn mit Bitterkeit. Auch war er sehr besorgt wegen der Räumungsbescheide, die bei österreichischen Juden eingingen. Bei allen Sorgen und Klagen verschaffte eine neue Damenbekanntschaft einen Lichtblick.

650 Reichsmark und 50 Pfennige

Mit der Columbus nach New York

„Schiffskarten - Eisenbahnkarten - Flugkarten nach allen Ländern“

Berlin/Bremen/New York

Nur wenige Häuser vom Palästina-Amt der Jewish Agency for Palestine entfernt, auf der Meinekestraße 2 in Berlin, befand sich das Reisebüro „Palestine & Orient Lloyd“, das in enger Zusammenarbeit mit der Agency stand und vielen Tausenden von Juden bei der Auswanderung aus Nazi-Deutschland behilflich war – durchaus nicht nur nach Palästina. Einer dieser Auswanderer war Dr. Rolf Katzenstein. Am 20. August 1938 stellte ihm der „Palestine & Orient Lloyd“ diese Rechnung für die Überfahrt nach New York aus, die am 27.8. an Bord der Columbus von Bremen aus starten sollte.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Sammlung:

Rechnung "Palestine & Orient Lloyd" für Rolf Katzenstein, Jüdisches Museum Berlin, Sammlung Ruth Gützlaff geb. Katzenstein

Nach Haifa? Nicht jetzt.

Onkel Alfred rät Neffen ab von Besuch

„Der Zeitpunkt, zu dem wir hierherkommen sollen, wird nach meiner Auffassung von weit höherer Seite bestimmt, das Schicksal wird uns zeigen, wenn wir hierherkommen sollen. Ich habe noch niemals so viele unglückliche Menschen in einem Land konzentriert gesehen, wie hier.“

Haifa/Meran

Nach sechs Jahren in Palästina war Alfred Hirschs Urteil eindeutig: Angesichts der politischen, klimatischen und wirtschaftlichen Struktur des Landes könnten selbst ausgesprochen intelligente, ausdauernde Menschen nicht viel erreichen. Bei seinem Versuch, seinem Neffen Ulli das Kommen auszureden, nahm er kein Blatt vor den Mund. Im sehr säkularen Haifa ansässig, war Alfred Hirsch überzeugt, für einen jungen orthodoxen Juden wie Ulli wäre das Leben in Palästina zum gegenwärtigen historischen Zeitpunkt eine große Enttäuschung. Zwischen der Atmosphäre, die durch das kollektive Elend einer großen Anzahl entwurzelter, bedrückter Menschen erzeugt wurde und den politischen Unruhen, die ernsthafte wirtschaftliche Probleme hervorriefen, erschien Onkel Alfred der Zeitpunkt nicht richtig. (Mit politischer Unruhe gemeint sind der Arabische Aufstand in Reaktion auf den massiven Zustrom europäischer Juden und die Aussicht auf die Errichtung einer Nationalen Heimstätte für die Juden, wie durch die Balfour-Erklärung 1917 vereinbart.)

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Julius und Elisabeth Hirsch, AR 25585

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Einzelhachscharah in England

Die 17-jährige Marianne leidet allein in der Fremde

„Jetzt zu dem Punkt, der Dir momentan am wichtigsten ist. Papi hat Dir ja schon seine Ansicht geschrieben, es ist uns sehr darum zu tun, dass Du in England bleibst und so leid Du uns tust, dass Du Dich doch irgendwie durchfressen musst.“

Teplitz

Im Juli 1938 reiste die 17jährige Marianne Pollak ganz allein von Teplitz (Tschechoslowakei) nach England. Nicht an das dortige Klima gewöhnt, holte sich das junge Mädchen Rheuma und war rundherum in elender Verfassung. Alle paar Tage erhielt sie von ihrer Mutter fürsorgliche, liebevolle Briefe. Während Mariannes unglückliche Situation sie eindeutig bedrückte, führten ihr Frau Pollak und ihr Mann vor Augen, wie wichtig es sei, dass sie in England bleibe. Anscheinend war Marianne auf Einzelhachscharah, d.h., sie eignete sich Fähigkeiten an, die sie auf das Pionierleben in Palästina vorbereiten sollten. In Osteuropa hatte die Pionierbewegung „HeChaluz“ bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts zukünftigen Siedlern Schulungskurse angeboten. Eine deutsche Zweigstelle wurde 1923 eröffnet, aber die Bewegung gewann in Westeuropa erst während der Weltwirtschaftskrise an Boden und erlangte ihre größte Reichweite während der Jahre der Verfolgung durch die Nazis. Anstatt sich auf Lehrhöfen kollektiv vorbereiten zu lassen, konnten die jungen Leute ihre Ausbildung auch individuell bekommen, was bei Marianne der Fall gewesen zu sein scheint.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung John Peters Pinkus, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 22

Die Hilfsstelle der Liga für Menschenrechte

„Diese Hunde von Hitler und Göring werden niemals gewinnen“

„Es stirbt halt nicht der jüd. Wohltätigkeitssinn aus und es wird diesen Hunden von Hitler und Göring nicht gelingen, dass die Emigranten in der Gosse krepieren.“

Brünn/Rischon LeZion

Hugo Jellinek war ein vielseitig begabter Mann. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwang ihn, sein Medizinstudium abzubrechen. Als Soldat wurde er in Samarkand schwer verwundet und verliebte sich in die Krankenschwester, die ihn pflegte und später seine Frau und die Mutter seiner drei Töchter wurde. Das Paar siedelte sich in Taschkent (Usbekistan) an. Nach dem Tod seiner noch jungen Frau im Jahr 1926 floh er 1930 aus der Sowjetunion und kehrte schließlich nach Wien zurück. Dort machte er sich die acht Sprachen, die er beherrschte, als Übersetzer zunutze und arbeitete als freiberuflicher Jornalist. Dank einer Warnung bezüglich seiner bevorstehenden Festnahme gelang es ihm im Juni 1938, nach Brünn zu entkommen. Seine älteste Tochter Gisella Nadja brach am selben Tag nach Palästina auf. In diesem schillernden Brief zeigt Hugo väterliche Sorge um Nadjas Wohlbefinden, diskutiert aber auch ausführlich die eigenen Nöte als Flüchtling und vergisst nicht zu berichten, dass der Sohn seines Cousins im Konzentrationslager Dachau interniert sei. Mit Genugtuung erwähnt er die Arbeit der von ihm so genannten „Liga“ (gemeint ist wohl die Hilfsstelle der Liga für Menschenrechte), die sich um die Flüchtlinge kümmerte und damit Hitlers teuflischen Plänen trotzte. Letztendlich jedoch käme es vor allem darauf an, für einen eigenen Staat zu kämpfen.

Es wird einfacher werden

Zuspruch für eine Siebzehnjährige

„Natürlich dauert es ein bisschen, bis man miteinander warm wird, besonders, wenn man die Sprache nicht beherrscht.“

Teplitz

Frau Pollak in Teplitz (Tschechoslowakei) schwankte zwischen Erleichterung, zu wissen, dass ihre Tochter in sicherem Abstand vom Zugriff der Nazis war, und Sorge um das körperliche und seelische Wohlergehen der 17jährigen Marianne. Nach anfänglichen Plänen, mit der Jugend-Alija nach Palästina auszuwandern, war das junge Mädchen nun ganz allein in England. Die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland hatte in der Tschechoslowakei die Furcht vor einem ähnlichen Schicksal erweckt, und Juden hatten doppelten Grund zur Sorge – als Tschechen und als Juden. Während die Nachrichten aus Wien und Palästina düster waren und die Tschechoslowakei einer ungewissen Zukunft entgegenging, war Frau Pollak liebevoll darum bemüht, Marianne zu versichern, dass das Leben im neuen Land leichter werden würde.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

John Peters Pinkus Familie Sammlung, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 22

Radio, Grammophon, Zeitungen, Belletristik

Die Kunst des Fremdsprachenlernens

„Für den Anfänger ist der "native instructor" nur dann der förderlichste, wenn er hinreichende Kenntnisse der Muttersprache des Schülers hat, um die diesem entgegenstehenden Schwierigkeiten zu erkennen und genügend didaktische Schulung, um mit den geeigneten Mitteln ihrer Herr zu werden.“

NEW YORK

In seinem Artikel „Zehn Gebote für Sprachbeflissene“, der in der Juli-Ausgabe des „Aufbau“ veröffentlicht wurde, empfiehlt Dr. Eugene I. Stern, sich des gesamten Instrumentariums zu bedienen, das dem modernen Englisch-Schüler zur Verfügung steht: Radio, Grammophon, Zeitungen, Belletristik. Die Genauigkeit, mit der er beschreibt, was er für die vielversprechendste Methode des Sprachstudiums hält, entspricht jedem Stereotyp, das mit deutschen Juden in Verbindung gebracht wird. Dr. Stern verspricht keine Patentlösungen, und seine Einschätzung der Aussichten des Sprachschülers ist nicht besonders optimistisch: Gleich eingangs erklärt er, das Meistern einer Fremdsprache sei ein nicht zu erreichendes Ziel. Nichtsdestotrotz erlernten jüngere deutsch-jüdische Einwanderer die Sprache in der Regel innerhalb weniger Jahre, im Gegensatz zu ihren Landsleuten in Palästina, die sich die neue Sprache notorisch langsam und zögerlich aneigneten. Verschiedene Institutionen in Amerika waren ihnen bei ihren Bemühungen behilflich, so z.B. der National Refugee Service und das Adult Education Council, YMCA und YWCA, die den Neuankömmlingen kostenlosen Englischunterricht anboten.

Praktische Ausbildung für Palästina

Neue Absolventinnen an der Jüdischen Fachschule für Schneiderinnen in Hamburg

Hamburg

Als die Chaluz-Bewegung in den zwanziger Jahren begann, in Deutschland Fuß zu fassen, hatte sie es schwer, auf die überwiegend assimilierten Juden, die sich als „deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens“ sahen, irgendwelche Anziehungskraft auszuüben. Die Bewegung zielte darauf ab, junge Juden durch die Lehre der hebräischen Sprache sowie landwirtschaftlicher und handwerklicher Fähigkeiten auf das Leben in Palästina vorzubereiten. Erste nennenswerte Verstärkung kam durch die Weltwirtschaftskrise (ab 1929), die die Auswanderung wie eine Gelegenheit zur wirtschaftlichen Verbesserung erscheinen ließ. Größeren Zulauf erhielt sie allerdings nach der Machtübergabe an die Nazis: Sogenannte „Hachscharot“ entstanden überall in Deutschland, um jungen Juden eine gehaltvolle jüdische Identität und nützliche Fähigkeiten zu vermitteln. Dieses Foto zeigt Absolventinnen der Jüdischen Fachschule für Schneiderinnen auf der Heimhuderstraße.

QUELLE

Institution:

Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ)

Original:

Bilder-Datenbank des Instituts für die Geschichte der Deutsche Juden, Sammlung Ursula Randt, mit freundlicher Genehmigung von Rahel Calm ; 21-015/105

Seelenverfassung

Keine Begeisterung, aber Wille zum Erfolg

„Ich glaube, wenn Du Dich für Palästina entscheiden solltest, dass Du dazu zwar keine Begeisterung brauchst. Die Mehrheit wandert heute ein ohne jede Begeisterung, aber Du brauchst den festen Willen hier trotz aller Schwierigkeiten, geringem Einkommen und schwerer Arbeit bei klimatischen Schwierigkeiten Dich durchzusetzen.“

TEL AVIV/ZÜRICH

Herbert Mansbach, ein deutscher Student der Zahnmedizin, der vorübergehend in der Schweiz ansässig war, hatte Glück: Ein Freund von ihm war bei der Krankenkasse (Kupat Cholim) des Allgemeinen Verbands der Arbeiter in Eretz Israel (Histadrut) angestellt und konnte ihm wertvolle Informationen zur Aufnahme in einem Kibbutz und zum Auffinden eines Arbeitsplatzes in Palästina geben: Die Hauptvoraussetzungen für eine Kibbuzmitgliedschaft waren die Zugehörigkeit zur HeChaluz-Pionier-Jugendbewegung und einige Hebräischkenntnisse. Um allerdings eine Anstellung als Zahnarzt in Tel Aviv zu bekommen, war perfektes Hebräisch unabdingbar. Herberts Freund zeichnete ein ernüchterndes Bild von der Seelenverfassung der Neueinwanderer: Die Mehrheit, schreibt er, käme ohne Begeisterung – Entschlossenheit zum Erfolg sei wichtiger.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herbert Joseph Mansbach, AR 7073

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Martin Buber folgt Ruf an Hebräische Universität

Der Sozialphilosoph und seine Ehefrau Paula ziehen nach Jerusalem

Jerusalem

1933 entschloss sich der renommierte Religionsphilosoph Martin Buber, aus Protest gegen die Machtübernahme durch die Nazis seine Honorarprofessur an der Goethe Universität Frankfurt niederzulegen. Daraufhin verbat im das Regime, öffentlich Vorträge zu halten. In der Folgezeit gründete Buber die Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung und begegnete den Bemühungen der Nazis, die deutsche Judenheit zu marginalisieren und zu zerstören, indem er jüdische Identität durch Bildung stärkte. Erst Ende Mai 1938 folgte er einem Ruf an die Hebräische Universität, um den neuen Lehrstuhl für Sozialphilosophie zu übernehmen, und zog mit seiner Frau Paula, einer Schriftstellerin, nach Jerusalem. Das Ehepaar ließ sich im Stadtviertel Talbiyeh im Westteil der Stadt nieder, das zu dieser Zeit von Juden und Arabern bewohnt war. Es grenzt an Rechavia an – damals eine Hochburg von Einwanderern aus Deutschland. Buber gehörte zu jenen, denen eine friedliche Koexistenz in einem binationalen Staat vorschwebte.

Mehr Unruhen in Palästina

Six dead, Jews and Arabs

„Heute Morgen wurde ein Bus auf dem Weg nach Jerusalem bei Lifta beschossen. Ein begleitender Polizist erwiderte das Feuer und soll mehrere Menschen getötet haben.“

Jerusalem

Immer wieder erreichten beunruhigende Nachrichten über Unruhen in Palästina die jüdischen Leser in der Diaspora: Am 25. Mai berichtete die Jewish Telegraphic Agency, eine der wichtigsten Informationsquellen zur Situation der Juden unter den Nazis und über die Entwicklungen im Jischuw. Sie schreibt unter der Überschrift „Terror in Palästina fordert 6 weitere Todesopfer“ über die letzten Opfer in Jerusalem, Haifa und Tiberias – Juden und Araber – und über die Umstände, unter denen sie umgekommen waren.

Unruhiges Palästina

Weg vom Nationalsozialismus, aber nicht von der Gewalt

„Es gab keine Todesopfer.“

Jerusalem

Nichts in diesem Bericht der Jewish Telegraphic Agency vom 19. Mai war dazu angetan, deutschen oder österreichischen Juden, die dringend zu sichereren Ufern aufbrechen wollten, Hoffnung zu geben, dass das Leben in Palästina ihnen Ruhe und Frieden bescheren würde: Bei arabischen Angriffen auf jüdische Arbeiter oder Infrastruktur und Unruhen unter beschäftigungslosen Juden war der einzige beruhigende Aspekt die Entfernung zum Epizentrum nationalsozialistischer Aktivität. Seit Beginn des Arabischen Aufstands waren Araber, Briten und Juden in Palästina in einen oft gewalttätigen Konflikt verwickelt – nicht gerade eine Attraktion für erschöpfte mitteleuropäische Juden, deren größter Wunsch ein Szenenwechsel hin zu Sicherheit und Frieden war.

Das Gericht

Jüdischer Kulturbund zeigt Versöhnung zwischen Juden und Arabern in Theaterinszenierung

Berlin

Nach ihrer Rückkehr von mehreren Studienjahren in Berlin bei den Größen des deutschen Theaters, Erwin Piscator und Max Reinhardt, änderte die in Polen geborene Shulamit Gutgeld ihren Namen in „Bat Dori“ („Tochter meiner Generation“ oder „Zeitgenossin“). Und das war sie auf sehr bewusste Weise: Ihre Stücke waren hochpolitisch und gingen auf das Tagesgeschehen ein, und zwar so sehr, dass die britischen Mandatsbehörden die Aufführung ihres 1936 entstandenen Schauspiels „Das Gericht“, das zum Frieden zwischen Juden und Arabern aufruft und Kritik an den Briten übt, verbaten. Die Berliner Zweigstelle des Jüdischen Kulturbunds entschloss sich jedoch, das Stück zu inszenieren. Das hier gezeigte Dokument ist eine Einladung zu der Vorstellung am 8. Mai im Kulturbund-Theater auf der Kommandantenstraße unter der Regie von Fritz Wisten.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Einladung zur Uraufführung des Stücks „Das Gericht“ von [Shulamit] Bat Dori, bearbeitet von Herbert Friedenthal, im Theater des Jüdischen Kulturbund in der Kommandantenstraße 57; CJA, 1 D Gr 1, Nr. 10, #13322, Bl. 13

Hürden mit vielen Nullen

Die Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung verlangt viel Geld von auswandernden Juden

Berlin/Dresden

Bevor Martha Kaphan ihre Reise in das unter britischem Mandat stehende Palästina antreten konnte, musste sie bei der Dresdner Bank den sehr hohen Geldbetrag von 800 Reichsmark als Depositum für die Ausstellung eines Touristenvisums hinterlegen. Grundlage dafür war eine Bestimmung der Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung, die im NS-Staat maßgeblicher Träger der Ausplünderung auswanderungswilliger deutscher Juden war. Mit solchen Touristenvisa suchten einige tausend Juden als „illegale“ Einwanderer den Weg nach Palästina, um dort eine permanente Aufenthaltserlaubnis zu erlangen. Martha Kaphan emigrierte wohl nicht dauerhaft: Das britische Konsulat bestätigte 24. Dezember 1938 die Abreise, das Depositum wurde am 29. Dezember in Breslau ausgezahlt und das Konto am 10. Januar 1939 erledigt. Ob es sich hier um die 1877 in Militsch geborene Martha Kaphan handelt, die 1942 im Lager Grüssau interniert war, kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Hinterlegungsbescheinigung für den Erhalt eines Touristenvisums nach Palästina; Do2 2000/1000

Ein jüdisches Filminstitut?

Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda tut seinen Job

Berlin

Laut einem Bericht der Jewish Telegraphic Agency genehmigte das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda am 21. April die Einrichtung eines Jüdischen Filminstituts. Der Name war irreführend: Es war nicht zur kulturellen Bereicherung der jüdischen Öffentlichkeit gedacht. Der Hauptzweck des Instituts sollte die Produktion von Filmen sein, die das Leben in Palästina zeigten und deutsche Juden zur Emigration drängten. Mit anderen Worten, der Plan war ein weiterer Teil der Strategie der Nazis, Deutschlands Juden „aus dem Weg zu räumen“. Zur selben Zeit erklärte „Der Stürmer“, eines der schärfsten antisemitischen Blätter in Nazi-Deutschland, Juden müsse der Zutritt zu Kinos und Theatern verwehrt werden.

Entrechtung in Österreich, Freilassung in Dachau

Die Nazis in Österreich erlassen eine Flut an neuen Bestimmungen

Wien

Wenig mehr als einen Monat nach der Machtübernahme der Nazis in Österreich lässt eine Kaskade neuer Bestimmungen und Schritte, die von den neuen Machthabern eingeleitet worden sind, wenig Raum für Optimismus: Die Jewish Telegraphic Agency berichtet für den 14. April aus Wien, es sei geplant, Juden innerhalb von 50 Kilometern aus den Grenzgebieten zur Tschechoslowakei zu vertreiben, österreichische Geschäfte würden auf eigene Kosten der Obhut von Nazi-Kommissaren anvertraut (laut der JTA ist diese Bestimmung im Fall hunderter von Geschäften in jüdischem Besitz bereits in Kraft getreten) und es sei ein Gesetz zur Sicherstellung rassischer Reinheit eingeführt worden. Der eine positive Punkt in dieser umfangreichen Meldung ist die Aussicht darauf, dass alle zur Zeit in Dachau internierten Juden nicht nur freigelassen, sondern auch Einreisegenehmigungen nach Palästina erhalten sollen.

Eine Retterin feiert Geburtstag

Rose Luria Halprin macht sich für deutsch-jüdische Jugendliche stark

Jerusalem/Berlin

Als führende Funktionärin in verschiedenen zionistischen Organisationen, insbesondere in der nordamerikanischen Frauenorganisation „Hadassah“ (Hadassah Women’s Zionist Organization of North America) war Rose Luria Halprin 1934 nach Palästina gezogen, wo sie als Kontaktperson zwischen der lokalen Hadassah-Zweigstelle und dem nationalen Büro in den Vereinigten Staaten fungierte. Nachdem sie sich mit Henrietta Szold angefreundet hatte, die die Jugend-Alija in Palästina leitete, begann auch Rose Halprin, sich für die Rettung deutsch-jüdischer Jugendlicher durch deren Verbringung nach Palästina zu engagieren. Gegründet wurde die Jugend-Alija durch die vorausschauende Recha Freier, die Frau eines in Berlin ansässigen Rabbiners. Das war derselbe Tag, an dem die Nazis an die Regierung gebracht wurden, der 30. Januar 1933. In den Jahren 1935 bis 1938 besuchte Rose Halprin wiederholt Berlin. Der 11. April 1938 war ihr 42. Geburtstag.

QUELLE

Institution:

American Jewish Historical Society

Sammlung:

Rose Halprin in 1934. Haddassah Archiv beim American Jewish Historical Society.

Der Name ist Programm

Das Kinderheim "Beit Ahawah" schenkt jüdischen Kindern Geborgenheit in Berlin—und darüber hinaus

Berlin

Das als übermäßig autoritär bekannte preußische Erziehungssystem hatte traditionell auf Gehorsamkeit und Pflichterfüllung abgezielt, wobei den Kindern oft frühzeitig die Flügel gebrochen wurden. Im Kinderheim „Ahawah“ (hebr. für „Liebe“) auf der Auguststraße in Berlin-Mitte herrschte ein anderer Geist: Die Kinder durften in einem „Kinderrat“ mitentscheiden, sie sollten zu Staatsbürgern, nicht zu Untertanen erzogen werden. Körperliche Bestrafung war verboten und alle Mitarbeiter waren dazu angehalten, die Atmosphäre eines echten Zuhauses zu schaffen. Beate Berger, eine Krankenschwester und Leiterin des Heims seit 1922, nahm eine Gruppe von Kindern mit sich, als sie 1934 nach Palästina emigrierte und kehrte in den folgenden Jahren oft nach Deutschland zurück, um weitere Kinder zu retten. Die Fotos zeigen kostümierte Kinder bei der Purimfeier des Heims.

Diskriminierungen und Verhaftungen

Einen Tag nach dem Anschluss eskalieren die Feindseligkeiten

Wien

Nach ihrem triumphalen Einzug in Österreich verloren die Nazis keine Zeit, die jüdische Bevölkerung des Landes einzuschüchtern und sie aus einflussreichen Stellungen und aus dem gesellschaftlichen Leben zu verdrängen: Prominente Bankiers und Geschäftsmänner wurden verhaftet, andere Juden – besonders solche, die in Bereichen tätig waren, die als „jüdisch“ galten, wie die Presse und das Theater – wurden entlassen und durch „Arier“ ersetzt. Die Atmosphäre in Österreich Juden gegenüber wurde zunehmend feindselig. In Organisationen, deren Ziel es war, die Auswanderung von Juden nach Palästina zu fördern, fanden Razzien statt. Gleichzeitig hatte man die Annullierung der Pässe „gewisser Leute“ angekündigt. Erwähnenswert ist, dass die Zahl der Juden in Österreich im März 1938 etwa 206.000 betrug, womit sie gerade 3% der Gesamtbevölkerung ausmachten.

Stimmen in London

Das Zionistische Aktionskomittee berät zur Lage der Juden in Europa

London

„Die Stimme“ galt als das offizielle Organ des zionistischen Landeskomittees für Österreich. In ihrer Ausgabe vom 9. März zitiert sie eine Meldung der „Jewish Telegraphic Agency“ über die Konferenz des Zionistischen Aktionskomittees in London. Während die Spannung in Österreich stieg, standen auf der Tagesordnung der Konferenz andere dringende Angelegenheiten, wie z.B. die Einwanderung nach Palästina und die Veränderung der britischen Haltung zu diesem Thema. Als besonders wichtig wurden Vorschläge eingestuft, in verschiedenen osteuropäischen Staaten den Preis des Schekels zu senken und Koordinationsräte für zionistische Aktivitäten einzurichten.

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