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Der Prater

Schauplatz widerlicher Demütigung und Folter

Wien

Diese Werbebroschüre zeigt den Prater, einen großen Park und Rummelplatz im zentralen 2. Bezirk Wiens, in den dreißiger Jahren. Hier wurden am 23. April hunderte Wiener Juden zusammengetrieben und vor johlenden Zuschauern geschlagen und misshandelt. Manche wurden gezwungen, Gras zu essen. Juden beiderlei Geschlechts, ohne Berücksichtung ihres Alters und Gesundheitszustands, mussten im Kreis herumlaufen, bis sie zusammenbrachen. Viele der so Gedemütigten erlitten Herzanfälle, einige starben.

Vorerst verschont

Ehemailige Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs genießen zeitweiligen Schutz

Wien

Adolph Markus, seine Frau und zwei Kinder gehörten zu den relativ wenigen von Österreichs etwa 200.000 Juden, die nicht in Wien lebten. Am 20. April 1938 fuhr Markus in die Hauptstadt, um seine Familie zu besuchen, die schwierige Situation zu besprechen und Auswanderungsmöglichkeiten zu diskutieren. Während sein Bruder Rudi jeden Tag damit rechnen musste, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, meinte er, Adolph habe als Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs nichts zu befürchten. Tatsächlich waren ehemalige Frontkämpfer und Juden, die ihren Vater oder einen Sohn im Kampf für Deutschland oder seine Verbündeten verloren hatten, von gewissen anti-jüdischen Maßnahmen ausgenommen.

Ein Brief von zu Hause

Mit dem Anschluss Österreichs geht eine befriedete Welt verloren

Wien/Tannwald

Für Arthur Wolf, einen glühenden österreichischen Patrioten und Veteranen des 1. Weltkriegs, bedeutete die Machtübernahme der Nazis in Österreich den Zusammenbruch seiner Welt, den Verlust von Heimat und Gleichheit und den Beginn einer Existenz als „Wandernder Jude“. Wolf war Direktor einer Textilfabrik in Tannwald (damals Tschechoslowakei). Seine in Russland geborene Frau Maria war mit dem Sohn des Paares, Erich (geb. 1923), in Österreich zurückgeblieben. Angesichts der jüngsten Ereignisse ist der Ton von Marias Brief vom 19. April bemerkenswert spielerisch: Sie schwärmt von den Gedichten des fünfzehnjährigen Erich, spricht mit warmen Worten über ihre Mutter-Sohn-Beziehung und drückt ihre Sehnsucht nach Arthur aus, während sie eine offensichtliche Bezugnahme auf das Tagesgeschehen vermeidet.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Arthur Wolf, AR 25270

Original:

Archivbox 2, Ordner 5

Glück im Unglück

Eine Geschäftsreise hält Alfred Schütz im sicheren Ausland

„Es ist auch nach allen Erfahrungen nur zu berechtigt, wenn ihre Frau in der Korrespondenz höchst vorsichtig ist und Sie bittet, es ebenso zu sein. Der Verdacht der Verbreitung von ‘Greuelnachrichten’ genügt, um einen in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen“.

London

Alfred Schütz, ein Weltkriegsveteran, hatte an der Universität Wien Jura, Soziologie und Philosophie studiert. Seit Ende der zwanziger Jahre war er bei dem Internationalen Bankhaus Reiter & Co angestellt. Während des deutschen Einmarsches in Österreich war er zufällig auf Geschäftsreise in Frankreich. Er entschloss sich, im Ausland zu bleiben. Ein Freund, der von London aus Wien besucht hatte, schreibt über sein Gespräch mit Schütz‘ Ehefrau Ilse. In seinem Brief rät er Schütz davon ab, nach Österreich zurückzukehren, da das neue Regime dem internationalen Bankwesen gegenüber misstrauisch sei. Angesichts der drohenden Gefahr erschien es Schütz als bessere Option, sich vorübergehend von der Familie zu trennen, als in seine Heimatstadt zurückzukehren.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Alfred Schutz, AR 25500

Original:

Archivbox 1, Ordner 18

Entrechtung in Österreich, Freilassung in Dachau

Die Nazis in Österreich erlassen eine Flut an neuen Bestimmungen

Wien

Wenig mehr als einen Monat nach der Machtübernahme der Nazis in Österreich lässt eine Kaskade neuer Bestimmungen und Schritte, die von den neuen Machthabern eingeleitet worden sind, wenig Raum für Optimismus: Die Jewish Telegraphic Agency berichtet für den 14. April aus Wien, es sei geplant, Juden innerhalb von 50 Kilometern aus den Grenzgebieten zur Tschechoslowakei zu vertreiben, österreichische Geschäfte würden auf eigene Kosten der Obhut von Nazi-Kommissaren anvertraut (laut der JTA ist diese Bestimmung im Fall hunderter von Geschäften in jüdischem Besitz bereits in Kraft getreten) und es sei ein Gesetz zur Sicherstellung rassischer Reinheit eingeführt worden. Der eine positive Punkt in dieser umfangreichen Meldung ist die Aussicht darauf, dass alle zur Zeit in Dachau internierten Juden nicht nur freigelassen, sondern auch Einreisegenehmigungen nach Palästina erhalten sollen.

Pseudo-Wahlen

Österreicher stimmen ohne Juden nachträglich über den Anschluss ab

„Wer das Stimmrecht ausübt, trotzdem er vom Stimmrecht ausgeschlossen ist oder ihm bekannt ist, dass er von mindestens drei volljüdischen Großeltern abstammt, oder aber als Mischling (mindestens zwei jüdische Großeltern) mit einer jüdischen Person verheiratet ist, hat diesen Wahlausweis sofort an das Gemeindeamt zurückzusenden und von der Wahl fernzubleiben. Andernfalls setzt er sich schwerer Bestrafung aus“.

WIEN

Der Einmarsch deutscher Truppen in Österreich am 12. März war der von Kanzler Schuschnigg für den 13. März geplanten Volksabstimmung über die Vereinigung mit Deutschland zuvorgekommen. Die Nazis, nun im Besitz der Macht, verschoben die Volksabstimmung auf den 10. April in Verbindung mit den ersten gesamtdeutschen Reichstagswahlen. Katholische Bischöfe unter der Führung Erzbischof Theodor Innitzers hatten eine „feierliche Erklärung“ abgegeben, in der sie katholische Wähler aufriefen, für den „Anschluss“ zu stimmen. Laut offiziellen Angaben bestätigten nahezu 100% der Wähler, was bereits eine vollendete Tatsache war. Das hier gezeigte Dokument ist ein Wählerausweis zur ausschließlichen Benutzung des auf der Vorderseite angegebenen Empfängers. Es schließt Juden explizit von der Teilnahme aus.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Sammlung:

Wahlausweis zur Volksabstimmung am 10. April 1938 (Nr. 225)

Original:

Inv. Nr. 26028/9

Meinungsumschwung

Pfarrer Breckle fällt den Juden in den Rücken

"Niemand hat die Juden in die europäischen Länder eingeladen. Sie kamen als ungeladene Gäste und haben sich in allen öffentlichen Berufen so sehr in den Vordergrund gedrängt, und nicht unbedingt durch hervorrangende Leistungen, dass man zumindest sagen kann, dass sich ein großes Missverhältnis entwickelt hat."

WIEN

In der neuen Realität Österreichs konnten sich die Meinungen, auch die von Beamten, mitunter recht schnell ändern. Dies blieb internationalen Beobachtern nicht verborgen. In einer Pressenotiz vom 8. April meldet die Jewish Telegraphic Agency, ein katholischer Geistlicher, Pfarrer Breckle von der Dreifaltigkeitskirche in Wien, habe Juden in einem Artikel in „Katholische Aktion“ als „ungeladene Gäste“ in Europa bezeichnet und sie beschuldigt, sich „in den Vordergrund zu drängen“. Hitlers Vorgehensweise habe er als „frei und menschlich“ sowohl den „Ariern“ als auch den Juden gegenüber bezeichnet. Breckle habe seine Ansichten erst in jüngster Zeit geändert und zuvor als der jüdischen Gemeinde gegenüber freundlich gegolten.

Die Grenzen des Einzelnen

Fritz Machlup signalisiert Bedenken und Hilfsbereitschaft

„Gestern, an einem einzigen Tage, erhielt ich sage und schreibe 11 Ersuchen um Einwanderungsaffidavits, darunter die Ersuchen von gemeinsamen Freunden“.

Buffalo, New York/Wien

Dank eines Rockefeller-Stipendiums, das 1933 an ihn vergeben worden war, hatte der herausragende Wiener Volkswirtschaftler Fritz Machlup Österreich Jahre vor dem „Anschluss“ verlassen. 1935 erhielt er eine Professur für Volkswirtschaftslehre an der Universität Buffalo. Es überrascht nicht, dass Freunde und Kollegen ihre Hoffnungen darauf setzten, ihn als Bürgen zu gewinnen, als die Nazis in Österreich Fuß zu fassen begannen. In diesem Brief vom 5. April an seinen Freund Alfred Schütz äußert er die Sorge, seine Hilfsversprechen, so vielen gegeben, würden an Glaubwürdigkeit verlieren. Er fügt aber dennoch ein Schreiben bei, in dem er Schütz anbietet, ihm bei der Niederlassung in den Vereinigten Staaten behilflich zu sein.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Alfred Schutz, AR 25500

Original:

Archivbox 1, Ordner 17

Hotel Métropole

Ein Luxushotel wird zum Gestapo-Quartier

Wien

Das Hotel Métropole in Wien, am Morzinplatz im zentralen 1. Bezirk gelegen, war für die Weltausstellung 1873 errichtet worden. Das luxuriöse Gebäude, entworfen von den Architekten Carl Schumann und Ludwig Tischler, war mit einem prunkvollen Speisesaal und einem prächtigen Innenhof ausgestattet. Am 1. April 1938 nahm die Gestapo in dem Hotel, das von seinen jüdischen Besitzern konfisziert worden war, ihre Tätigkeit auf und machte es zu ihrem Hauptquartier. Mit 900 Angestellten war es die größte Gestapo-Stelle im Reich. Der erste Befehl, der von der neuen Zentrale ausging, war der Abtransport einer ersten Gruppe österreichischer Gefangener ins Konzentrationslager Dachau. Dieses Foto zeigt eine Tischdecke aus besseren Zeiten im Hotel Métropole.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Sammlung:

Tischtuch aus Hotel Metropol

Original:

Inv. Nr. 20526

Kein Weg zurück

Das polnische Parlament verabschiedet ein neues Gesetz gegen jüdische Rückkehrer

„Das Gesetz wird Tausende von Juden in Österreich, Deutschland, Palästina und anderswo beeinträchtigen“.

Warschau

Infolge der Annexion Österreichs, des sogenannten „Anschluss“, verabschiedete das polnische Parlament („Sejm“) ein Gesetz, das die Rückkehr von bis zu 20.000 polnischen Staatsbürgern aus Österreich befürchtete, ein Gesetz, laut dem Polen, die mehr als fünf Jahre im Ausland gelebt hatten, ihre Staatsbürgerschaft verlieren sollten. Während sich unter der Piłsudski-Regierung die Lage der Juden etwas verbessert hatte, trat nach dem Tod des Marschalls, insbesondere in der durch das „Lager der Nationalen Einheit“ (ab 1937) geschaffenen Atmosphäre, der Antisemitismus wieder hervor: Universitäten unterwarfen jüdische Studenten einem Numerus Clausus und führten „Ghettobänke“ für sie ein, Juden wurden für die Weltwirtschaftskrise verantwortlich gemacht, ihre Geschäfte boykottiert und geplündert, und hunderte von Juden wurden körperlich verletzt oder sogar getötet.

So weit weg wie möglich

Die Auswanderungsanträge im australischen Konsulat in Österreich erreichen einen neuen Höchststand

„The British consulate general admitted the would-be emigrants in groups of a hundred, giving out applications for visas and information on requirements for settlement in all parts of the British empire“.

Wien

Mehr als zwei Wochen waren seit der Machtübernahme der Nazis in Österreich vergangen. Nach dem anfänglichen Schock und der Fassungslosigkeit unter den Juden des Landes griffen Verzweiflung und Panik um sich. Viele reagierten, indem sie sich über Visabestimmungen für Länder wie die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Australien erkundigten, die Sicherheit und ausreichende Distanz zu der dramatischen neuen Situation in Österreich versprachen. Zwischen dem 24. und dem 28. März gingen allein beim australischen Konsulat 6000 Einwanderungsanträge ein – eine Zahl, die die offizielle Einwanderungsquote des Landes bei Weitem überstieg.

In der Heimat verloren

Österreichische Juden und das US-Konsulat in Wien

„Hunderte kamen in der Annahme, die Vereinigten Staaten seien bereit, die Überfahrt von 20.000 Einwanderern zu genehmigen und zu finzieren. Vertreter des Konsulats wandten sich an Gruppen von Antragstellern, um ihnen den tatsächlichen Sachverhalt zu erklären“.

Wien

In einem weiteren dramatischen Bericht aus Österreich beschreibt die „Jewish Telegraphic Agency“ verängstige Juden, die in der fehlgeleiteten Hoffnung auf Unterstützung in das Konsulat der Vereinigten Staaten strömten. Gerade prominente Juden mussten mit Schikanen und Festnahme durch die Gestapo rechnen. Führende Persönlichkeiten des österreichischen Judentums waren gezwungen, die Polizei über ihre Aktivitäten zu unterrichten, während es ihren deutschen Amtskollegen aufgrund eines Einreiseverbots für Juden unmöglich war, ihnen einen Solidaritätsbesuch abzustatten. Des Weiteren berichtet die JTA, die Situation tausender jüdischer Schauspieler sei mittlerweile dermaßen verzweifelt, dass selbst der nationalsozialistische Beauftragte des österreichischen Bühnenvereins eine Kampagne zu ihren Gunsten zulasse.

Soma Morgenstern

Ein Universalist lässt alles zurück und trifft im Exil auf einen alten Freund

Wien/Paris

Soma Morgenstern war promovierter Jurist, doch er zog es vor, seinen Lebensunterhalt als Schriftsteller und Journalist zu verdienen und schrieb Feulliettons über Musik und Theater. Der gebürtige Ost-Galizianer beherrschte mehrere Sprachen, darunter Ukrainisch und Jiddisch. Er schrieb in deutscher Sprache. Nach seiner Entlassung 1933 von der Frankfurter Zeitung, deren Kulturkorrespondent er gewesen war, hielt er sich mühsam mit journalistischen Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Die Annexion Österreichs an Nazi-Deutschland machte seine Situation vollends untragbar: In die Emigration gezwungen, hinterließ er seine Ehefrau, ein Kind und zahlreiche Manuskripte. Am 23. März war er bereits im sicheren Paris, wo er mit einem weiteren berühmten galizianer Exilanten, seinem alten Freund, dem Schriftsteller Joseph Roth, im Hôtel de la Poste wohnte.

Jüdisches Geschäft

Ausgrenzung in Österreich

Wien

Diese Stereofotografie vom März 1938 zeigt ein Damenwäschegeschäft in Wien, auf dessen Schaufenster ein Aufkleber mit dem Schriftzug „Jüdisches Geschäft“ angebracht wurde. Unmittelbar nach dem vielfach umjubelten Einmarsch der Deutschen Wehrmacht am 12. März in Österreich begann für die dortige jüdische Bevölkerung eine Diffamierung, wie sie deutsche Jüdinnen und Juden bereits seit 1933 erlitten. Das Bild ist Teil der „Sammlung Schönstein“ am Deutschen Historischen Museum. Anfang der 1930er Jahre gründete der Nürnberger Otto Schönstein (1891-1958) seinen „Raumbild-Verlag“, in dem er Alben mit Stereofotografien verlegte. 1937 engagierte sich Heinrich Hoffmann, Hitlers „Leibfotograf“, in dem wirtschaftlich schwächelnden Verlag und nutzte ihn für die Verbreitung von NS-Propaganda.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Sammlung:

Stereofotografie eines jüdischen Geschäfts für Damenwäsche in Wien

Original:

Inv. Nr. Schönstein 4207

Die Welt zur Rettung

Jüdische Vorsteher und Medien wissen: Sie brauchen jede Unterstützung, die sie bekommen können

„Die österreichischen Juden haben eine alte Tradition als voll gleichberechtigte Bürger, die stets ihre Kräfte in den Dienst der Heimat gestellt haben und zum Aufschwung derselben auf allen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gebieten wesentlich beigetragen haben“.

Wien

Das gesamte Titelblatt der deutschsprachigen religiös-zionistischen „Allgemeinen Jüdischen Zeitung“ in Bratislava ist dem „Anschluss“ gewidmet: Juden werden aufgerufen, ihren österreichischen Glaubensgenossen zur Seite zu stehen. Eine anonyme Quelle weist auf die Verarmung weiter Teile der österreichischen Judenheit und die daraus resultierende Notwendigkeit hin, das Sozialwesen neu zu ordnen und sich den immer dringender werdenden Angelegenheiten der Umschulung und der Emigration zuzuwenden. Der Leser wird daran erinnert, dass Österreich noch immer Mitglied des Völkerbunds sei und dass das österreichische Recht gleiche Rechte für religiöse und nationale Minderheiten einfordere. Unter anderen Quellen wird der britische Unterstaatssekretär für Äußeres, Butler, zitiert, der berichtet, er habe Zusicherungen bekommen, die deutsche Regierung werde in Bezug auf Minderheiten „alle Anstrengungen unternehmen, eine Mäßigung der Politik zu erzielen“. Auch berichtet das Blatt, der Präsident des Jüdischen Weltkongress, Rabbi Wise, habe an den Völkerbund appelliert, den Juden beizustehen. Ansonsten zeichnet sich ein düsteres Bild ab: Die Produktion jüdischer Zeitungen eingestellt, prominente Juden arrestiert, ein jüdisches Theater geschlossen, die jüdische Ärzte entlassen und andere Schikanen. Die Zeitung ruft Juden in aller Welt auf, den Brüdern und Schwestern in Österreich zur Seite zu stehen.

Hitler auf Heimatbesuch

Adolph Marcus hält seine Eindrücke im Tagebuch fest

„Die Angst unter dem Personal wächst von Tag zu Tag [...]“.

Linz

Vom 12. bis zum 14. März hatte sich Hitler in Linz aufgehalten, das er seit seinen dort verbrachten Jugendjahren als seine Heimatstadt betrachtete. In seiner Rede an die Bevölkerung der Stadt hatte er sich zum Vollstrecker des Volkswillens stilisiert und den „Opferwillen“ der deutschen Soldaten und die „Größe und Herrlichkeit“ des deutschen Volkes beschworen. Viele unter seinem Publikum reagierten begeistert, andere wurden von Furcht ergriffen. Mit zwei Sätzen gelingt es Adolph Markus, die angstvolle Atmosphäre an seinem Arbeitsplatz in Linz Tage nach dem „Anschluss“ einzufangen.

Diskriminierungen und Verhaftungen

Einen Tag nach dem Anschluss eskalieren die Feindseligkeiten

Wien

Nach ihrem triumphalen Einzug in Österreich verloren die Nazis keine Zeit, die jüdische Bevölkerung des Landes einzuschüchtern und sie aus einflussreichen Stellungen und aus dem gesellschaftlichen Leben zu verdrängen: Prominente Bankiers und Geschäftsmänner wurden verhaftet, andere Juden – besonders solche, die in Bereichen tätig waren, die als „jüdisch“ galten, wie die Presse und das Theater – wurden entlassen und durch „Arier“ ersetzt. Die Atmosphäre in Österreich Juden gegenüber wurde zunehmend feindselig. In Organisationen, deren Ziel es war, die Auswanderung von Juden nach Palästina zu fördern, fanden Razzien statt. Gleichzeitig hatte man die Annullierung der Pässe „gewisser Leute“ angekündigt. Erwähnenswert ist, dass die Zahl der Juden in Österreich im März 1938 etwa 206.000 betrug, womit sie gerade 3% der Gesamtbevölkerung ausmachten.

Fassungslosigkeit

„Was heut geschehen ist, kommt einem Tode gleich“

„Was ich gestern noch für einen kaum fassbaren Gedanken hielt, ja ihn von mir stieß, damit er mir nur nicht zu Bewusstsein käme, ist mir heute keine Frage des Bangens und der Trauer mehr: die Auswanderung“

Wien

Trotz zahlreicher Signale einer politischen Kursänderung in Österreich kam der „Anschluss“ am 12. März für viele jüdische Österreicher überraschend. Einer von ihnen war der 25-jährige Jurist Paul Steiner. Wie viele andere Zeugen umwälzender historischer Ereignisse erfasste er die Größenordnung der Veränderung nicht, bis sie vollends eingetreten war. Am Tag des „Anschlusses“ brachte er in seinem Tagebuch seine Fassungslosigkeit zum Ausdruck. Innerhalb weniger Stunden nach der historischen Umwälzung schlugen Steiners Liebe und Bindung an Österreich in Gleichgültigkeit um. Da ihm die neue politische Realität in Österreich hoffnungslos erschien, fasste er den schnellen aber rationalen Entschluss, die Heimat so schnell wie möglich zu verlassen.

 

Verfolgen Sie eine 24-Stunden-Rekonstruktion der Machtergreifung des Nationalsozialismus in Österreich online unter www.zeituhr1938.at

Live im Internet vom 11. März 2018, 18:00 Uhr bis 12. März 2018, 18:00 Uhr

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Steiner, AR 25208

Original:

Archivbox 1, Ordner 7

Jahreschronik 1938

Der Anschluss Österreichs

Österreichische Frauen bejubeln den Einmarsch deutscher Soldaten während des Anschluss.

Der Österreichische Bundespräsident Wilhelm Miklas bestellt nach deutschen Drohungen das sogenannte Anschlusskabinett ein, das vom 11. – 13. März regiert. Wehrmacht, SS und Polizeieinheiten marschieren am 12. März in Österreich ein. Die nationalsozialistische Bundesregierung führt am 13. März 1938 im Auftrag von Adolf Hitler den „Anschluss“ durch. Er bewirkt sukzessive das völlige Aufgehen Österreichs im Deutschen Reich. Die Herrschaft des Nationalsozialismus währt in Wien und Umgebung bis zum Vorrücken der Roten Armee Mitte April 1945. Der „Anschluss“ wird in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 für „null und nichtig“ erklärt. In vielen anderen Landesteilen Österreichs endet das NS-Regime erst mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Mai 1945.

Zur Jahreschronik 1938

Ruhe vor dem Sturm

Ahnungslosigkeit am Tage vor dem Anschluss

„Die Strassen sind merkwürdig ruhig, “Ruhe vor dem Sturm”. Um 5 Uhr nachmittag sind auf manchen Häusern (Meyerzetthaus) Hakenkreuzfahnen sichtbar. Laut Radiobericht ist die österr. Regierung zurückgetreten und Seyß-Inquart soll die Macht übernommen haben. Wir eilen vom Geschäft in größter Aufregung nach Hause.“

Linz

Adolph Markus lebte mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Linz, Österreich. Einen Monat vor dem „Anschluss“ (der Annexion Österreichs an Nazi-Deutschland am 12. März 1938) begann er, ein Tagebuch zu führen, das auf packende Weise die wachsende Spannung schildert. Die Situation änderte sich von Tag zu Tag, und die Juden konnten nur raten, was als nächstes geschehen würde. Einen Tag vor der Annexion schrieb Markus in sein Tagebuch: „Die Strassen sind merkwürdig ruhig, ‚Ruhe vor dem Sturm‘“.

 

Verfolgen Sie eine 24-Stunden-Rekonstruktion der Machtergreifung des Nationalsozialismus in Österreich online unter www.zeituhr1938.at

Live im Internet vom 11. März 2018, 18:00 Uhr bis 12. März 2018, 18:00 Uhr

 

Stimmen in London

Das Zionistische Aktionskomittee berät zur Lage der Juden in Europa

London

„Die Stimme“ galt als das offizielle Organ des zionistischen Landeskomittees für Österreich. In ihrer Ausgabe vom 9. März zitiert sie eine Meldung der „Jewish Telegraphic Agency“ über die Konferenz des Zionistischen Aktionskomittees in London. Während die Spannung in Österreich stieg, standen auf der Tagesordnung der Konferenz andere dringende Angelegenheiten, wie z.B. die Einwanderung nach Palästina und die Veränderung der britischen Haltung zu diesem Thema. Als besonders wichtig wurden Vorschläge eingestuft, in verschiedenen osteuropäischen Staaten den Preis des Schekels zu senken und Koordinationsräte für zionistische Aktivitäten einzurichten.

Unentschieden

Hakoah Wien und jüdische Sportkultur

Wien

Das Spiel des Fußballvereins Hakoah Wien gegen den SV Straßenbahn Wien am 7. März endete mit einem 2:2. Die Mannschaft war Teil des berühmten jüdischen Sportvereins Hakoah Wien. Dieser war 1909 infolge der veränderten Einstellung innerhalb des liberalen Judentums zu Körper und Gesundheit gegründet worden. Der hier gezeigte Mitgliedsausweis gehörte einem der führenden Trainer des Vereins, dem Schwimmtrainer Zsigo Wertheimer. Wertheimer trainierte Ruth Langer, eine berühmte, damals fünfzehnjährige Schwimmerin, die es trotz ihres Erfolgs ablehnte, sich 1936 der österreichischen Olympiamannschaft anzuschließen.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Sammlung:

Mitgliedsausweis von Zsigo Wertheimer

Original:

Inv. Nr. 16776

Antisemitismus in Österreich

Die Jewish Telegraphic Agency berichtet

Wien

Die „Vaterländische Front“ war 1933 als alleinige Vertretung aller Bürger Österreichs und als Ersatz für die parlamentarische Demokratie ins Leben gerufen worden. Mit ihren starken Verbindungen zur Katholischen Kirche war sie zutiefst antisemitisch. Dennoch waren Juden unter ihren Mitgliedern, und sie verstand sich als Opposition zu den (protestantisch dominierten) Nazis. Als im März 1938 Nazi-Gruppen auf die Straße gingen und stolz das Hakenkreuz zur Schau stellten, berichtet die „Jewish Telegraphic Agency“ auch über eine antisemitische Demonstration an der Wiener Universität, einer Institution, an der seit Jahrhunderten eine anti-jüdische Geisteshaltung grassierte. Am selben Tag berichtet die Nachrichtenagentur über Gegendemonstrationen der „Vaterländische Front“.

Parochet, tiefblau

Die letzten Tages des Jüdischen Blindeninstituts in Wien

Wien

Diese dunkelblaue Parochet (Torahvorhang) gehört zur Sammlung des Israelitischen Blindeninstituts in Wien. Die Anstalt wurde 1871 mit dem Ziel gegründet, blinden jüdischen Schülern eine Berufsausbildung zu ermöglichen. Die von ihr vermittelten Berufe reichten von manuellen Tätigkeiten bis hin zum Übersetzen und Dolmetschen. Aufgrund ihres hervorragenden Rufes zog die Schule Schüler nicht nur aus Österreich, sondern fast aus dem gesamten europäischen Ausland an. Am 4. März erlebte die Institution einen ihrer letzten Tage ungestörter Aktivität.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Sammlung:

Parochet

Original:

Inv. Nr. 2837

Vertrauen in Kanzler Schuschnigg

Der Oberrabbiner Wiens zeigt sich optimistisch

„Wir hatten immer und haben auch weiterhin volles Vertrauen in unseren Kanzler, seine Offenherzigkeit, seine Unvoreingenommenheit und seine Ernsthaftigkeit. Dieses Vertrauen ist durch seine Erklärung am Donnerstag gestärkt worden indem er die Standhaftigkeit zur Verfassung vom Mai 1934 betonte.“

Wien

Ende Februar 1938 schien es für Österreichs Juden noch einige Hoffnungsschimmer zu geben: In einer Predigt in der Wiener Zentralsynagoge brachte Oberrabbiner Israel Taglicht das Vertrauen der österreichischen Juden gegenüber Kanzler Schuschnigg zum Ausdruck. Einige Tage vorher hatte der Kanzler versichert, Österreich werde an den Prinzipien der Verfassung vom Mai 1934 festhalten, die Juden Gleichheit vor dem Gesetz und Religionsfreiheit versprach. Etwa zur selben Zeit war der nazi-freundliche Bürgermeister von Graz entlassen worden, weil er über dem Rathaus die Hakenkreuzfahne hatte hissen lassen. Um Nazi-Demonstrationen zu verhindern, waren die Universität Graz und die Technische Hochschule vorübergehend geschlossen worden.

Gefahr im Verzug

Das Tagebuch eines Linzer Juden füllt sich mit dunklen Vorahnungen

„Unterdessen nehmen die Nazidemonstrationen immer größere Formen an, so dass man die immense Gefahr, die jetzt Österreich droht, immer näher kommen sieht.“

Linz

Am 12. Februar, dem Tag, an dem Hitler dem österreichischen Bundeskanzler Schuschnigg das „Berchtesgadener Abkommen“ aufzwang, hatte der Österreicher Adolph Markus begonnen, ein Tagebuch zu führen. Das Abkommen forderte die Freilassung inhaftierter Nationalsozialisten, garantierte den österreichischen Nationalsozialisten freie Betätigung und ihren politischen Vertretern ein größeres Maß an Beteiligung an Regierungsgeschäften. Markus war zum Zeugen des aggressiven Benehmens der Freigelassenen und ihres Empfangs durch Sympathisanten auf den Straßen von Linz geworden. In seinem Tagebucheintrag vom 20. Februar hält er die Geschehnisse des Tages fest und lässt seine Sorge um sein Land erkennen.

Das Maul der Hydra

Alte Diskussionen um den Zionismus und Assimilierung werden angesichts des zunehmenden Antisemitismus wieder hitzig.

„Erst der Einbruch des jüdisch-nationalen Zionismus, die Vereinigung Polens mit russischen Gebieten, mit den 'Litwakis‘, öffnete der antisemitischen Hydra das dreckspeiende Maul. Vom politischen Zionismus her bekamen sie die Legitimation für die Behauptung vom 'fremden' Volk.“

Warschau

Einen Monat vor dem Anschluss ermahnt die österreichisch-jüdische Wochenzeitung „Die Wahrheit“ die österreichischen Juden, von der Entwicklung des Antisemitismus in Polen zu lernen. Das Blatt, das seit den zwanziger Jahren für Integration eingetreten war und sich vom Zionismus distanziert hatte, sieht den Zionismus als gefährlichen Bruch mit der polnisch-jüdischen Geschichte: In der Vergangenheit, so der Autor, der sich als polnischer Jude zu erkennen gibt, hätten sich die Juden in Polen durch Vaterlandsliebe und Einsatz für nationale Belange eingesetzt. Die Hinwendung zu Palästina erwecke den Eindruck mangelnder Loyalität und gebe daher den Judenhassern Munition. Überdies beschuldigt der Artikel die Zionisten, ungebührlichen Druck auf andersdenkende Juden auszuüben.

Erschreckende Zahlen

Der demographische Wandel der Juden in Wien

Wien

Die Zahlen, die vom Matrikelamt der Jüdischen Kultusgemeinde Wien errechnet und in der jüdischen Zeitung „Die Stimme“ veröffentlicht wurden, zeichnen ein düsteres Bild: Zwischen 1923 und 1937 ist die Zahl der Juden in Wien von 201,208 auf zwischen 166.000 und 167.000 gesunken. Die Meldung hebt besonders die Auswanderung in den Jahren 1935 und 1936 hervor. Auch ist, wohl infolge der allgemeinen Unsicherheit und der Änderung der Altersstruktur der Gemeinde, die Anzahl der Geburten von 2733 im Jahr 1923 auf bloße 720 im Jahr 1937 zurückgegangen. Unter den 2824 Todesfällen im Jahr 1937 sind 105 Selbstmorde verbucht.

Schutzlos

Die jüdische Gemeinde in Wien steht vor ihrem Zerfall—700 Jahre nach Erteilung des Schutzprivilegs

Wien

Diese Fotografie zeigt ein malerisches Panorama des 1. Bezirks der Stadt Wien aus der Vogelschau. Anfang 1938 lebten in der österreichischen Hauptstadt noch immer fast 170.000 Juden und 80.000 Personen, die christlich-jüdischen Mischehen entstammten, zu Hause. Juden machten etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus. Die Mehrheit war gut in die österreichische Gesellschaft integriert: Nicht nur betrachteten sie Deutsch als ihre Muttersprache, sie prägten auch die kulturelle und soziale Landschaft der Stadt. Unter ihnen waren der Vater der Psychoanalyse, Sigmund Freud, der Albanist Norbert Jokl, der Schriftsteller Friedrich Torberg und der Komponist Arnold Schönberg.

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