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Erschütterte Existenz

Wie leben mit dem Nationalsozialismus?

New York

Der erste größere Bruch in der Biographie des Künstlers Gustav Wolf war während des Ersten Weltkriegs geschehen: Er hatte sich freiwillig zum Dienst an der Front gemeldet und war schwer verwundet worden. Sein Bruder Willy war im Gefecht gefallen. Die Werke, in denen er seine Kriegserlebnisse verarbeitete, lassen keinen Zweifel an seinen Gefühlen: Statt den Krieg zu verherrlichen, zeigt er dessen Grauen. Die Begegnung mit dem Antisemitismus im Krieg und in der Folge führten zu einem verstärkten Bewusstsein um seine jüdische Identität. 1920 nahm er eine Professur an der Badischen Landeskunstschule in Karlsruhe an, wo er versuchte, sein Ideal eines gleichberechtigten Miteinanders von Lehrer und Schüler zu verwirklichen. Nach einem Jahr gab er diese „tote Tätigkeit“ an der Schule, die er als „Intriganten-Anstalt“ bezeichnete, auf. 1929 entwarf er die Ausstattung zu Fritz Langs Stummfilm „Die Frau im Mond“, einem frühen Science Fiction-Film. Nach der Machtübernahme durch die Nazis kündigte er seine Mitgliedschaft in sämtlichen Künstlervereinigungen auf, denen er angehört hatte. Bei der Badener Secession erklärte er es so: „Ich muss mich erst wieder zurechtfinden. Die Grundlagen meiner Existenz sind in Frage gestellt und erschüttert.“ Nach ausgedehnten Aufenthalten in der Schweiz, in Italien und Griechenland kehrte er 1937 nach Deutschland zurück. Der 26. Juni 1938 war sein 49. Geburtstag.

Leberknödel, Weihnachtsstollen, Mazzenklößchen

Der Nationalsozialismus zerstört im Nu, was langsam wuchs

Krumbach

In Anni Buffs privatem Kochbuch, auf den 25. Juni 1938 datiert, überwogen eindeutig die traditionellen bayerischen Gerichte, wie Leberknödel, Weihnachtsstollen und Topfenkräpfle, gegenüber den jüdischen, wie z.B. Mazzenklößchen. Die jüdische Gemeinde in ihrem Geburtsort Krumbach war gut integriert. Seit ihrem Höchststand Anfang des 19. Jahrhunderts, als sie etwa 46% der Bevölkerung ausmachte, war sie erheblich zurückgegangen, und 1933 waren nur noch 1,5% der Krumbacher Bevölkerung jüdisch. Trotz dieser unwesentlichen Präsenz von Juden machte sich der Nationalsozialismus mit seiner fanatisch anti-jüdischen Botschaft schnell breit, und noch bevor er zur nationalen Politik wurde, kam es in der kleinen Stadt zur Belästigung von Juden durch SA-Leute. 1938 wurden die Übergriffe so unerträglich, dass Annis Vater Julius, der mit Polstermaterial handelte, Möglichkeiten zu untersuchen begann, an sichereren Ufern ein neues Zuhause zu finden, etwa in den Vereinigten Staaten, der Dominikanischen Republik oder Schanghai. Nicht einmal die Tatsache, dass er im Ersten Weltkrieg einen Bruder verloren und selbst im Königlich Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 16 gedient hatte – an der Seite eines jungen Österreichers namens Adolf Hitler – trug dazu bei, seine Position gegenüber den Nazi-Behörden zu verbessern.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Anni Krantz, AR 11284

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Die Menge sieht schweigend zu

Antisemitische Parolen an Schaufenstern

„Das Wort ,Jude‘ war in breiten, roten Buchstaben an die Fenster sämtlicher jüdischer Läden geschmiert, manchmal mit einem Davidstern dazu, um es fest in den Köpfen der Berliner zu verankern, dass dies Läden seien, die es um jeden Preis zu meiden galt.“

Berlin

§17 der Dritten Verordnung zum Reichsbürgergesetz hatte die Kennzeichnung aller jüdischen Betriebe zu einem noch festzulegenden Zeitpunkt gefordert. Die Nazis verloren keine Zeit: Laut diesem Artikel der Jewish Telegraphic Agency wurden bereits Tage später Schaufenster in ganz Berlin systematisch mit dem Wort „Jude“ und mit antisemitischen Parolen beschmiert, wobei überall die gleiche, schwer zu entfernende rote Farbe benutzt wurde. Es stand außer Zweifel, dass die Aktion mit dem Segen der Machthaber durchgeführt wurde. Während kein Widerstand vonseiten der nichtjüdischen Bevölkerung verzeichnet wird, versäumt der Korrespondent nicht, darauf hinzuweisen, dass, im Gegensatz zu Wien und den weniger wohlhabenden Teilen Berlins, die Menge auf dem Kurfürstendamm schweigend, ohne größere Begeisterung zugesehen habe. Die Spannung unter den Juden wurde noch verstärkt durch Berichte von dem Vorhaben, Arbeitslager zu errichten, um dort die in den jüngsten Razzien festgenommenen Juden zur Zwangsarbeit heranzuziehen.

Ruhe bewahrt

Gestapo zieht unverrichteter Dinge ab

„Falls sie mich verhaften wollen, müssten sie auch meine zwei kleinen Buben, die ohne Pflege jetzt dastehen würden, mit mir mitnehmen, oder sie sollen circa 6 Wochen warten, bis meine Frau vom Krankenhaus zurück ist.“

Linz

Seit Adolph Markus am 20. April mit Verwandten in Wien die Möglichkeit der Auswanderung besprochen hatte, nahm er zwei bis dreimal wöchentlich in der Synagoge Englischunterricht. Am 29. April war sein Schwager von der Gestapo festgenommen worden, und die Spannung und Nervosität des Ehepaars Markus begann sich auf die Kinder zu übertragen. Zwei Wochen später war Frau Markus von der Gestapo bezüglich des Wertes ihres gesamten Besitzes, einschließlich eines Hauses, verhört worden. Schließlich, am 18. Juni, erschienen zwei Gestapo-Beamte in der Wohnung der Familie: Während sie den Inhalt einiger Schachteln durchgingen, versuchte einer der beiden, Adolph Markus zu inkriminieren, indem er ein kommunistisches Flugblatt zwischen seine Papiere schmuggelte. Markus brachte die Ruhe und Selbstsicherheit auf, die Beamten darauf hinzuweisen, dass er nie in irgendeiner Weise politisch aktiv gewesen sei. Sein Hinweis auf seinen Frontdienst im Ersten Weltkrieg, zusammen mit der Bemerkung dass sie, falls sie ihn festnehmen wollten, auch seine beiden kleinen Söhne würden mitnehmen müssen, da ihre Mutter im Krankenhaus sei, brachte sie von ihrem Vorhaben ab. Sie zogen ab – unter der Drohung, sechs Wochen später wieder zu kommen, falls er nicht aus eigenen Stücken das Land verließe.

Die Angst vor Freigeistern

Nationalsozialistische Spitzel im öffentlichen Raum

„Unter den von der Polizei aufgesuchten Gaststätten waren das Café Trump, eines der beliebtesten Cafes der Stadt, wo ein halbes Dutzend Juden aufgegriffen wurden, und Café Meudtner.“

Berlin

Am 17. Juni berichtet die Jewish Telegraphic Agency von erneuten Durchsuchungsaktionen der Nazibehörden in den letzten vier Tagen in Berlin und anderswo im Land, bei denen allein zwischen dem 13. und dem 17. Juni 2000 Juden festgenommen worden seien. Während der Weimarer Republik hatte es eine blühende „Kaffeehauskultur“ gegeben – Künstler und Intellektuelle betrachteten gewisse Cafes praktisch als ihr Zuhause, wo sie halbe Tage und Nächte verbrachten, um Kunst, Literatur und Politik zu diskutieren. Unter den Nazis verschwand dieses Phänomen schnell. Wahre Kunst ist frei, und wie alle autoritären Regimes, fürchteten die Nazis subversive Aktivitäten unter jenen freien Geistern. Der öffentliche Raum war mit Spitzeln übersät. Zum Zeitpunkt der Juni-Aktion, in deren Kontext diese Durchsuchungsaktionen durchgeführt wurden, war die ursprüngliche Klientel weitgehend verschwunden. Die Razzien zielten vorgeblich auf „asoziale Elemente“ ab. Tatsächlich jedoch stellten sie die erste Massenfestnahme von Juden dar. Propagandaminister Goebbels fasste die Absicht mit den markigen Worten „Die Losung ist Schikane, nicht Gesetz“ zusammen.

Ein Strohhalm

Gelingt eine Bürgschaft trotz dünnem Kontakts?

„Es ist sehr schwierig, Ihnen zu schreiben, denn ich bin sicher, Sie haben keine Ahnung, wer ich bin.“

Wien

Erika Langstein war eine junge Englischlehrerin und lebte in Wien. Im Juni 1938, nachdem sie bereits einige Monate lang die Verfolgung der Juden in der österreichischen Hauptstadt persönlich miterlebt hatte, schickte Erika einen Brief an Donald Biever, einen amerikanischen Staatsbürger, und flehte ihn an, ihr und ihrem jüdischen Vater zu helfen, aus Österreich zu entkommen, indem er eine Bürgschaft übernahm. Nichts daran wäre ungewöhnlich, wäre da nicht der Umstand, dass die junge Frau Mister Biever nur ein einziges Mal begegnet war, kurz, auf einer Bahnfahrt ein Jahr zuvor, und seither nicht mit ihm kommuniziert hatte. Ohne sich durch den Mangel an Kontakt von ihrem Vorhaben abbringen zu lassen, beschreibt Erika die Hoffnungslosigkeit der Situation in Wien. Für den Fall, dass Biever sich nicht an ihre Begegnung erinnern könne, heftet sie ihr Foto bei.

In Einzelfällen

Die Flüchtlingspolitik Australiens

Das kanadische Einwanderungsministerium hat aus Melbourne Nachricht erhalten, wonach "keine besonderen Erleichterungen für Gruppen jüdischer Migranten nach Australien" bewilligt werden sollen.

Melbourne

Unter dem Eindruck der Machtübernahme der Nazis in Deutschland und zunehmendem Antisemitismus in Europa bewies der große jiddische Schriftsteller und kulturelle Aktivist Melech Rawitsch die Weitsicht, bereits 1933 die Mittel für eine Reise von seinem Heimatland Polen nach Australien zu organisieren, um die ungastliche Kimberley-Region als möglichen Ort der Ansiedlung von Juden auszuforschen. Seine optimistische Schlussfolgerung war, die Herausforderungen des Outback könnten mit ‚‚mehr Wasser, weniger Bier“ bezwungen werden. 1938 begann auch die territorialistische ‚‚Freilandliga“ diese Möglichkeit zu erörtern. Laut Bericht der Jewish Telegraphic Agency vom 15. Juni war die australische Regierung bereit, individuelle Fälle einreisewilliger Juden in Betracht zu ziehen, war jedoch nicht gewillt, eine jüdische Masseneinwanderung ins Land zu unterstützen.

Markiert

Eine neue Verordnung verlangt die Kennzeichnung jüdischer Geschäfte

Berlin

Ungeachtet der patriotischen Gesinnung vieler deutscher Juden und ihrer vielfachen Beiträge zugunsten der Gesellschaft, hatte das „Reichsbürgergesetz“ von 1935 Juden offiziell einen niedrigeren Status zugeordnet, indem es sie zu bloßen „Staatsangehörigen“ erklärte und sie zusätzlich vom Rest der Bevölkerung isolierte. Im Laufe der Zeit wurden Zusatzverordnungen erlassen, die die genaue Definition der Nazis beinhalteten, was einen Juden ausmache und jüdische Beamte in den Ruhestand zwangen. Am 14. Juni 1938 bestimmte die dritte solche Verordnung, dass Geschäfte in jüdischem Besitz als solche zu kennzeichnen seien.

Vogelfrei

Juden aus Burgendland vertrieben

„Man lernt hier, was wirklich wichtig ist im Leben. Den Leuten spielt auch Geld keine Rolle mehr, auch das ist unwichtig geworden.“

Eisenstadt

Die jüdische Gemeinde in Eisenstadt im österreichischen Burgenland war nie besonders groß gewesen, aber als älteste Gemeinde in der Gegend reichte sie bis ins 14. Jahrhundert zurück und hatte ein reiches kulturelles Leben. Im Augenblick der Annexion Österreichs an Deutschland am 12. März 1938 wurden Juden vogelfrei: Unter dem zutiefst rassistischen Gauleiter Tobias Portschy war das Burgenland der erste Teil Österreichs, der seine jüdische Bevölkerung vertrieb. Um ihren alten Eltern mit den Vorbereitungen zum Umzug zu helfen, hielt sich Hilde Schlesinger im Juni 1938 in Einsenstadt auf. In ihrem Geburtstagsbrief an ihre Tochter Elisabeth in Amerika bemerkt sie, diese sei „zu einem echten jüdischen Kind geworden, zu einem nicht sesshaften, zum Wandern immer bereiten“, im Gegensatz zu ihrer eigenen emotionalen Verbundenheit zu Eisenstadt, aus dem sie sich nun entwurzeln musste. Frau Schlesinger Schiff hofft, ihre Eltern werden bald die Einreisegenehmigung in die Tschechoslowakei erhalten, aber noch ist die bürokratische Seite nicht geklärt. Es ist offensichtlich, wie unangenehm sie die Erpichtheit der Nichtjuden auf Schnäppchen berührt, die sie als „Leichenraub“ bezeichnet, während Ihre Familie gezwungen ist, einen Großteil ihres Eigentums zu veräußern.

Anne weiß es besser

Familie Frank feiert den 9. Geburtstag ihrer Tochter

Amsterdam

Um das zunehmend antisemitische Deutschland hinter sich zu lassen, war Familie Frank aus Frankfurt am Main kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die Niederlande geflohen. Sie ließ sich auf dem Merwedeplein in Amsterdams Fluss-Viertel nieder, wo mehr und mehr deutschsprachige Flüchtlinge Zuflucht fanden. So groß war der Zustrom von Juden, dass manche unter den lokalen Juden besorgt waren, es würde ihren gesellschaftlichen Stand beeinträchtigen und Antisemitismus hervorrufen. Die ältere Tochter der Franks, Margot, ging auf der Jekerstraat zur Schule. Anne besuchte die 6. Montessori-Schule, die nur fünf Minuten Fußweg von der Wohnung der Familie entfernt war. Fünfzehn ihrer Klassenkameraden waren jüdisch. Sie liebte es, Geschichten zu erzählen und zu schreiben. Anne war neugierig, anspruchsvoll, interessiert und ausgesprochen wortgewandt. Wie die Mutter ihrer guten Freundin Hanneli zu sagen pflegte, “Gott weiß alles, aber Anne weiß es besser.“ 1938 beantragte Annes Vater Otto Frank Einreisevisen für die Vereinigten Staaten. Der 12. Juni 1938 war ihr 9. Geburtstag.

QUELLE

Ein absurdes Privileg

Emil Toffler behält seinen Job, um die Arier einzuarbeiten

Wien

Die Familie Therese Wiedmanns (geb. Toffler) in Wien war säkular und bestens integriert. Während sich die Tofflers der Situation in Deutschland wohl bewusst waren, hatte niemand unter Thereses Verwandten vorausgesehen, dass viele Österreicher Hitler willkommen heißen und bereit sein würden, auf die Unabhängigkeit Österreichs zu verzichten. Der „Anschluss“ im März 1938 hatte zum sofortigen Verlust ihrer Stelle bei der Tiller AG geführt. Ihr Großvater, bis vor kurzem der Präsident der Firma, durfte sein Büro nicht mehr betreten, ihr Vater Emil, der leitende Geschäftsführer, wurde einstweilen dort behalten, um das neue, „arische“ Management mit dem Funktionieren der Firma vertraut zu machen. Glücklicherweise hatte er schon vor dem „Anschluss“ einen Teil seines Besitzes nach England geschafft. In besseren Zeiten hatte man die jüdische Firma für ausreichend österreichisch erachtet, um sie zum kaiserlich-königlichen Hoflieferanten zu ernennen und Armeeuniformen von ihr produzieren zu lassen. Dieser am 11. Juni 1938 ausgestellte Pass Therese Wiedmanns enthält ein Visum, das „alle Staaten der Erde“ und die „Rückreise ins Deutsche Reich“ einschließt.

Der Stölpchensee

Das letzte öffentliche Schwimmbad für Juden in Berlin

Berlin/Stölpchensee

Bereits 1935 hatte die Parteipresse eine Kampagne geführt, Juden aus öffentlichen Schwimmbädern zu verdrängen, wobei auf „unliebsame Vorkommnisse“ verwiesen oder die Öffentlichkeit vor der „Gefahr“ gewarnt wurde, die angeblich von den Juden ausgehe. Fast überall wurden Schilder mit Aufschriften wie „Juden haben in diesen Anlagen keinen Zutritt“ aufgestellt. Der Stölpchensee, einer der Seen in der Umgebung Berlins, war das letzte öffentliche Schwimmbad, zu dem die Berliner Juden Zutritt hatten. Fritz und Friedel F. waren verheiratet und lebten in Berlin, wo Fritz Inhaber eines Lampengeschäfts war. Im Juni 1938 war das Wochenendhaus am Stölpchensee für die Familie noch immer ein Refugium von der Stadt und von antisemitischen Schikanen.

QUELLE

Institution:

Private Collection William J. Davidson

Original:

“From the Freudenthal Family Album”

Unaushaltbare Verzweiflung

Jewish Telegraphic Agency veröffentlicht Liste von den jüngsten Suiziden unter Juden

“4 Deaths Announced Among Arrested Jews in Vienna; Family of 4 Committs suicide”

Wien

Der „Anschluss“, die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland im März 1938, hatte eine Welle anti-jüdischer Gewalt in Gang gesetzt: Die durch Ihren neuen Status und die völlige Hilflosigkeit der Juden ermutigten Nazis und Sympathisanten drangen in jüdische Wohnungen ein und nahmen sich, was ihnen gefiel. Betriebe, die in jüdischem Besitz waren, wurden geplündert oder zerstört. Juden und Jüdinnen jeden Alters wurden zu der demütigenden Handlung gezwungen, die Straßen zu schrubben, um unter unter den Augen johlender Zuschauer politische Slogans gegen den „Anschluss“ zu entfernen. Da von der Polizei keinerlei Schutz zu erwarten war, wurden viele Juden von einem Gefühl völliger Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit erfasst und in den Selbstmord getrieben: Allein in den ersten zwei Monaten nach dem „Anschluss“ entzogen sich 218 Juden der staatlich sanktionierten und geförderten Grausamkeit durch Selbstmord. Diese Notiz der Jewish Telegraphic Agency listet die jüngsten Selbstmorde – darunter der einer vierköpfigen Familie – und Todesfälle im Konzentrationslager Dachau auf.

Jüdische Schulen

Ungewollter Schutzraum jüdischer Identität

„Bialik teilt in seinem Aufsatz ,Halacha und Aggada’ eine Deutung mit, die er von Achad Haam gehört hat: ,...Wer auf den Geist achtet, wird auch aus ihr [dieser Mischna] zwischen den Zeilen das Rauschen des Herzens und die zitternde Sorge um das künftige Schicksal eines Volkes heraushören, das 'auf dem Wege geht,‘ und nichts mehr von seinem Besitz in der Hand hat als ein Buch, und dessen ganzer innerer Zusammenhang mit irgendeinem seiner Aufenthaltsländer nur auf seinem Geiste beruht.‘ “

Berlin

Für viele jüdische Kinder wurde der Schulbesuch unter den Nazis zur Hölle: Schon der Schulweg konnte zu einem Spießrutenlauf unter anti-jüdischen Kränkungen werden. Ausgrenzung durch Mitschüler und Lehrer war die Regel. Um den Kindern diese Qual zu ersparen, schickten Eltern, die es sich leisten konnten, ihre Kinder auf jüdische Schulen. Bis 1933 hatten die überwiegend assimilierten deutschen Juden wenig Interesse an eigenen Schulen, aber das feindselige Klima unter dem Naziregime ließ mehr und mehr Einrichtungen dieser Art entstehen. Dr. Elieser L. Ehrmann, ein Pädagoge und Mitarbeiter in der Schulabteilung der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, hatte seit 1936 Arbeitspläne für Lehrkräfte an jüdischen Schulen ausgearbeitet, die die Kenntnis der jüdischen Feiertage und des sie begleitenden Brauchtums vertiefen und damit eine positive jüdische Identität vermitteln sollten. Der hier gezeigte Auszug stammt aus Ehrmanns „Arbeitsplan für Omerzeit und Schawuot“, herausgegeben 1938 von der Reichsvertretung der Juden in Deutschland. In diesem Jahr fiel der erste Tag des Schawuot-Festes auf den 5. Juni.

Kein Zutritt für Juden

Bad Ischl sondert Juden in spezielle Hotels ab

„In österreichischem Kurort sollen Ghetto-Hotels eingerichtet werden.“

BAD ISCHL

Bereits im 19. Jahrhundert begann der Central-Verein Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens, Listen von Badeorten und Hotels zu veröffentlichen, in denen jüdische Gäste nicht willkommen waren. An manchen Orten ging man so weit, mit dem Prädikat ‚‚judenfrei“ zu werben. Nach dem Ersten Weltkrieg breitete sich das als “Bäder-Antisemitismus“ bekannte Phänomen aus, bis es mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 zur offiziellen Politik wurde. 1935 war Juden der Besuch der norddeutschen Badeorte, 1937 auch der im Innern des Landes gelegenen, praktisch verboten. Erst mit dem “Anschluss“ im März 1938 wurde Juden auch aus österreichischen Badeorten verdrängt. Bad Ischl und andere Ortschaften im Salzkammergut waren bei Juden besonders beliebt, so dass der österreichisch-jüdische Schriftsteller Hugo Bettauer bereits 1922 scherzte, in den dortigen Badeorten ‚‚erregte es direkt Aufsehen, wenn Leute auftauchten, die im Verdacht standen, Arier zu sein“. In einem Bericht vom 2. Juni teilt die Jewish Telegraphic Agency mit, Juden würden auf Anordnung des zuständigen Nazi-Kommissars ‚‚in jüdische Hotels und Pensionen abgesondert“ werden und dürfen nicht länger kulturellen Veranstaltungen in Bad Ischl beiwohnen.

Das Israelitische Krankenhaus in Hamburg

Trotz Untergrabung durch die Nazis läuft der Krankenhaus betrieb

„Zur freundlichen Erinnerung an gemeinsame Jahre im I.K.“

Hamburg

Auf diesem Bild ist die Fassade des Israelitischen Krankenhauses in Hamburg zu sehen. Das Foto gehört zu einem Album, dem eine Inschrift vom 29. Mai 1938 vorangestellt ist. Das Krankenhaus wurde von dem Kaufmann und Bankier Salomon Heine, auch bekannt als der „Rothschild von Hamburg“, im Andenken an seine Frau Betty gestiftet und 1843 in Betrieb genommen. Der Dichter Heinrich Heine, ein Neffe und Protégé Salomons, ehrte den Anlass mit seinem Gedicht „Das neue israelitische Hospital zu Hamburg“, in dem er es „Ein Hospital für arme, kranke Juden, Für Menschenkinder, welche dreifach elend, Behaftet mit den bösen drei Gebresten, Mit Armuth, Körperschmerz und Judenthume!“ nannte. Obwohl die Nazis die Finanzen des Hospitals seit 1933 untergruben, hatte es diesen Maßnahmen standgehalten und konnte im Mai 1938 noch immer seine Patienten versorgen.

Reichsfluchtsteuer

Auswanderer müssen ein Meer an finanziellen und bürokratischen Hürden überwinden

LÖRRACH

Seit 1937 bemühten sich Lina und Siegmund Günzburger aus Lörrach in Südwestdeutschland und ihr Sohn Herbert, ihre Auswanderungspapiere zusammenzustellen. Die Auflagen waren nichts weniger als ein Albtraum: Zukünftige Auswanderer mussten eine Vielzahl persönlicher Dokumente, Empfehlungsschreiben und Bürgschaften beschaffen und waren verpflichtet, ein Inventar ihres gesamten Besitzes zusammenzustellen. Auch mussten sie dokumentieren, dass keine Steuerrückstände bestanden. Besonders perfide war die sogenannte „Reichsfluchtsteuer“: Ursprünglich eingeführt in der Endphase der Weimarer Republik, um die Kapitalflucht in Reaktion auf die Sparpolitik der Regierung zu verhindern, wurde sie zu einem Werkzeug in der Hand der Regierung, um die Juden für das Verlassen des Landes zu bestrafen, das es ihnen unerträglich machte, zu bleiben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herbert Guenzburger, AR 5947

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Schneller und schneller

Leo Baeck wird 65

„Dieses Jahr wird ein schwieriges sein; das Rad dreht sich schneller und schneller. Es wird unsere Nerven und unsere Fähigkeit zu sorgfältigem Nachdenken auf die Probe stellen.“

Berlin

Bereits in April 1938 hatte Rabbiner Leo Baeck, der Präsident der Reichsvertretung der Juden in Deutschland und damit der Hauptrepräsentant des deutschen Judentums weitsichtig geschrieben: „Dieses Jahr wird ein schwieriges sein; das Rad dreht sich schneller und schneller. Es wird unsere Nerven und unsere Fähigkeit zu sorgfältigem Nachdenken auf die Probe stellen.“ Baeck hatte als Feldgeistlicher im Ersten Weltkrieg gedient und muss als Patriot vom erzwungenen Niedergang des deutschen Judentums tief getroffen gewesen sein. Angesichts der Verarmung weiter Teile der jüdischen Bevölkerung, der Beschneidung jüdischer Rechte und der Abdrängung der Juden an den Rand der Gesellschaft und keinerlei Aussicht auf Besserung war Leo Baecks 65. Geburtstag am 23. Mai vermutlich eine triste Angelegenheit.

Bereit für Deutschland

Psychische Bewältigungsversuche eines nationalistischen deutschen Juden

„Ich bin Jude! – Jude in verzweifelter Position: jüdischer Deutscher, der trotzt Allem, was ihm wiederfuhr- oder gerade dieserhalb-seine Deutschen Bindungen nicht abstreifen kann (…).“

Hildesheim/Berlin

Der Verfasser dieses Briefes ist ein junger Mann aus Hildesheim, Fritz Schürmann (später Frank Shurman), geboren 1915. Obwohl er lange vor der Machtübernahme der Nazis mit Antisemitismus zu kämpfen hatte, trat er 1934 dem „Deutschen Vortrupp“ bei, einer extrem nationalistischen Gruppierung junger deutscher Juden mit dem Motto „Bereit für Deutschland“, die den Nationalsozialismus als eine Kraft begrüßten, die den Untergang Deutschlands verhindere. Angesichts dieser Einstellung muss es für ihn besonders schmerzhaft gewesen sein, der bitteren Realität der Ablehnung durch die deutsche Gesellschaft gegenüber zu stehen. In dem Brief dankt er einem Herrn Dilthey in Berlin für die Auszeichnung, mit ihm Zeit verbracht zu haben und klärt ihn dramatisch über seine jüdische Identität auf: „Ich bin Jude! – Jude in verzweifelter Position: jüdischer Deutscher, der trotz allem, was ihm widerfuhr – oder gerade dieserhalb – seine deutschen Bindungen nicht abstreifen kann […].“ Nachdem ihm seine Identität als Deutscher durch das Naziregime verweigert wurde, kommuniziert er die lähmenden Auswirkungen der politischen Situation auf seine Psyche und die Absurdität des Gedankens, Deutschland verlassen zu müssen, um Deutscher sein zu können.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Frank M. Shurman, AR 25219

Original:

Archivbox 1, Ordner 25

Gnadenlos

Göring fordert strikten anti-jüdischen Boykott

„(...) einen "gnadenlosen anti-jüdischen Boykott", bis der letzte Jude gezwungen ist, Österreich zu verlassen.“

Wien

In ihrer heutigen Ausgabe berichtet die Jewish Telegraphic Agency, das „Deutsche Volksblatt“ in Wien dränge zu einem „gnadenlosen anti-jüdischen Boykott“. Dies, so das Blatt, sei die von Hermann Göring in seiner jüngsten Rede in Wien geforderte Linie. Als im Ersten Weltkrieg hoch dekorierter Jagdflieger war Göring frühzeitig der NSDAP beigetreten und gehörte dem inneren Kreis an. 1933 baute er die Geheime Staatspolizei auf, er war Oberbefehlshaber der Luftwaffe, und als Bevollmächtigter des Vierjahresplans übte er Kontrolle über die deutsche Wirtschaft aus. Darüber hinaus ist er für seine zentrale Rolle in der Durchsetzung des „Anschluss“ und als leidenschaftlicher Sammler von Kunstwerken bekannt, die er sich nicht selten auf dubiose Weise aneignete.

Der „Arier-Nachweis“

Dirigent Erich Erck leitet das Orchester des Jüdischen Kulturbunds

MÜNCHEN

Seit dem Inkrafttreten des sogenannten „Arier-Paragraphen“ im „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 waren bestimmte Berufsgruppen zum Nachweis ihrer „rein arischen Abstammung“ verpflichtet, um weiterhin ihren Beruf ausüben zu können. Auch der 38-jährige Chirurg Dr. Walter Bernhard Kunze aus Freiberg in Sachsen musste für den „Arier-Nachweis“ einen Fragebogen über seine Abstammungslinie ausfüllen. Der Fragebogen vom 15. Mai 1938 enthält personenbezogene Angaben bis in die Generation seiner Großeltern. Diesem waren die entsprechenden standes- und pfarramtlichen Unterlagen beizulegen. Die Einholung der zahlreichen Abschriften aus den Kirchen- und Gemeindeämtern der Geburts- und Wohnorte der Vorfahren bedeutete für den einzelnen oft einen sehr hohen Verwaltungsaufwand. Der „Arier-Nachweis“ war ein wirksames Instrument der NS-Rassenpolitik, durch welches als „Nichtarier“ angesehene Personen stigmatisiert und zunehmend aus der Gesellschaft ausgegrenzt wurden.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Original:

Erich Eisner als Dirigent in der Liberalen Synagogoe München, Sammlung Erich Eisner, Schenkung von Manfred Eisner

Durchbrochene Ausbildung

Ruth Wertheimer navigiert antisemitische Diskriminierung und Auswanderung

Paris

Ruth Wertheimer wurde 1915 in Halberstadt (Sachsen-Anhalt) geboren. Dank der Erträge aus einem erfolgreichen Korsett- und Damenunterwäsche-Geschäft mit mehreren Filialen lebte die Familie in bequemen Verhältnissen. Allerdings soll das Familienunternehmen bereits 1929, mehrere Jahre vor der Machtübernahme durch die Nazis, durch eine verleumderische, antisemitisch motivierte Behauptung gegen eine der Inhaberinnen, Ruths Tante Johanna, wirtschaftlichen Schaden erlitten haben. 1932, auf der Handelsschule in Berlin, wohin die Familie in Ruths Kindheit umgezogen war, war Ruth durch Lehrer und Mitschüler dermaßen starkem Antisemitismus ausgesetzt, dass sie sich entschloss, ohne Abschluss abzubrechen. Der hier gezeigte Pass wurde am 16. Mai in Paris ausgestellt und gibt Paris als Ruths Wohnort an: Ihre Mutter und ihr Stiefvater waren 1935 dorthin ausgewandert. In Paris nahm Ruth ihre Ausbildung wieder auf.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Ruth Worth, AR 25024

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Der „Arier-Nachweis“

Kein Arbeitsplatz bei „unreiner“ Abstammung

Freiberg

Seit dem Inkrafttreten des sogenannten „Arier-Paragraphen“ im „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 waren bestimmte Berufsgruppen zum Nachweis ihrer „rein arischen Abstammung“ verpflichtet, um weiterhin ihren Beruf ausüben zu können. Auch der 38-jährige Chirurg Dr. Walter Bernhard Kunze aus Freiberg in Sachsen musste für den „Arier-Nachweis“ einen Fragebogen über seine Abstammungslinie ausfüllen. Der Fragebogen vom 15. Mai 1938 enthält personenbezogene Angaben bis in die Generation seiner Großeltern. Diesem waren die entsprechenden standes- und pfarramtlichen Unterlagen beizulegen. Die Einholung der zahlreichen Abschriften aus den Kirchen- und Gemeindeämtern der Geburts- und Wohnorte der Vorfahren bedeutete für den einzelnen oft einen sehr hohen Verwaltungsaufwand. Der „Arier-Nachweis“ war ein wirksames Instrument der NS-Rassenpolitik, durch welches als „Nichtarier“ angesehene Personen stigmatisiert und zunehmend aus der Gesellschaft ausgegrenzt wurden.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Fragebogen zum Nachweis der arischen Abstammung

Mit Dirigentenstab im Tonstudio

Erich Wolfgang Korngold arbeitet an Auftrag der Warner Brothers

HOLLYWOOD

Vom ersten Augenblick war das Naziregime bestrebt, jeden Teil der menschlichen Existenz ideologisch zu durchdringen. Bereits 1933 wurde die Reichskulturkammer gegründet, um alle Aspekte kulturellen Lebens in Deutschland unter Kontrolle zu bringen. Obwohl er Staatsbürger und Einwohner Österreichs war, bekam der Komponist und Dirigent Erich Wolfgang Korngold bald die Auswirkungen dieser Veränderung zu spüren, denn er arbeitete viel in Deutschland: Jüdische Künstler waren nicht länger willkommen. In diesem Klima musste er nicht lange nachdenken, ehe er 1934 der Einladung Max Reinhardts folgte, die Filmmusik zu seiner Hollywood-Produktion von „Ein Sommernachtstraum“ zu schreiben. Mit seiner Einführung der symphonischen Filmmusik schlug er neue Wege ein und schuf den typischen „Hollywood-Klang“. 1937, während eines ausgedehnten Besuches in Wien, um die Orchestrierung seiner Oper „Die Kathrin“ zu vervollständigen, erhielt er eine Einladung der Warner Brothers, die Filmmusik zu „Robin Hood, König der Vagabunden“ zu komponieren. Dieser Auftrag ersparte ihm die Wirren des „Anschlusses“: Er kehrte lange vor dem 12. März 1938 in die USA zurück. Dieses Foto zeigt wahrscheinlich eine Aufnahmesitzung für den Soundtrack des Filmes, in dem Errol Flynn die Hauptrolle spielte. Der Schauspieler auf dem Foto ist Basil Rathbone, der Robin Hoods Erzfeind, Sir Guy von Gisbourne, spielte. Für seine überzeugende Partitur gewann Korngold einen Oscar – seinen zweiten nach „Ein rastloses Leben“ (1937).

Wie ein Bruder

Albert Göring steht für seine jüdischen Mitmenschen ein

„Nachdem inzwischen doch eine wesentliche Beruhigung eingetreten ist, glaube ich nicht, dass für Ihre Brüder oder Sie künftighin noch irgendwelche Gefahr besteht. Sollte dieser Fall aber eintreten, so können Sie jeder Zeit auf mich rechnen.“

WIEN

Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder Hermann, der mehrere führende Ämter in der Naziregierung innehatte und ein berüchtigter Hasser von Juden und Dissidenten war, verabscheute der Ingenieur Albert Göring den Nationalsozialismus und war bereit, seinen Überzeugungengen nach zu handeln: Er weigerte sich, der Partei beizutreten und nahm demonstrativ die österreichische Staatsbürgerschaft an. Als Einwohner Wiens soll er sich Juden angeschlossen haben, die nach dem „Anschluss“ zu der demütigenden Aufgabe gezwungen wurden, auf Knien das Pflaster zu reinigen, und er zögerte nicht, Juden und politischen Gegnern des Regimes zu helfen. In diesem Brief an den jüdischen Rechtanwalt Dr. Hugo Wolf kommuniziert er seinen Eindruck einer „wesentlichen Beruhigung“ und die Annahme, die Gefahr sei vorüber, sagt aber auch für den Notfall seine Hilfe zu.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Max und Margareta Wolf, AR 10699

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Antisemitische Prämissen

Ungarischer Abgeordneter kritisiert Gesetzesvorlage

„Der Gesetzesentwurf, der Juden im wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes Schranken auferlegt, wurde heute in der Abgeordnetenkammer durch den Abgeordneten Graf Aponyi [sic] scharf angegriffen. Er erklärte, dass er, abgesehen von seiner Unmenschlichkeit, ungerechtfertigte Beleidigungen und Betrachtungen gegen die ungarischen Juden enthalte.“

Budapest

Von Anfang an hatte die Horthy-Regierung aus ihrem Antisemitismus kein Geheimnis gemacht. Tatsächlich war Ungarn 1920 das erste europäische Land nach dem Ersten Weltkrieg, das einen Numerus Clausus einführte, um den Zutritt von Juden zu höherer Bildung einzuschränken. Zunächst hauptsächlich als Reaktion auf territoriale und Bevölkerungsverluste im Ersten Weltkrieg, später im Zuge der Weltwirtschaftskrise, gab es in Ungarn eine auffallende Vielzahl faschistischer und rechtsextremer Bewegungen, von denen sich einige „nationalsozialistisch“ nannten. Eine dieser Gruppierungen war die 1935 gegründete, fanatisch antisemitische Pfeilkreuzlerpartei. Antisemitismus war weit verbreitet, als 1938 eine Gesetzesvorlage eingebracht wurde, um die wirtschaftliche und kulturelle Freiheit der Juden im Land einzuschränken. Dieser Bericht der Jewish Telegraphic Agency vom 11. Mai beschreibt die heftige Kritik des Abgeordneten Graf Apponyi an der Gesetzesvorlage, in der er auf ihre fehlerhaften Prämissen hinwies, und ihre Verteidigung durch Dr. Istvan Milotaj, den Abgeordneten einer Rechtsaußen-Partei, der behauptete, Juden könnten nicht assimiliert werden, und selbst Persönlichkeiten wie Disraeli und Blum seinen „spirituell Juden geblieben.“

Im Niemandsland

Der Völkerbund interveniert für 56 Vertriebene

Belgrad

Die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland im März 1938 hatte der tausendjährigen Geschichte jüdischen Lebens im Burgenland, Österreichs östlichstem Bundesland, ein jähes Ende bereitet: Die Vertreibung der zahlenmässig kleinen jüdischen Bevölkerung, ausgeführt durch SS, lokale Nazi-Beamte und zivile Kollaborateure, setzte sofort ein. Dieser Artikel der Jewish Telegraphic Agency berichtet über die Intervention des Völkerbunds für 56 Vertriebene, die im „Niemandsland“ im Grenzgebiet zwischen Österreich und Jugoslawien feststeckten. Der Hochkomissar des Völkerbunds für deutsche Flüchtlinge hatte um die vorübergehende Aufnahme der nun Heimatlosen durch Jugoslawien gebeten, der eine permanente Neuansiedlung folgen sollte.

Für und wider Abtreibung

Ärztegruppe des German Jewish Club lädt zu Vortrag ein

New York

Am 9. Mai lud die Ärztegruppe des German Jewish Club (ein informeller Zusammenschluss von Ärzten) in New York zu einem Vortrag zum Thema Abtreibung ein. Während der Weimarer Republik waren wiederholte Versuche gemacht worden, den Anti-Abtreibungsparagraphen (§218) abzuschaffen oder wenigstens abzuschwächen. Seine Gegner wiesen darauf hin, dass er die Arbeiterklasse unverhältnismäßig benachteilige, da Armut das Hauptmotiv für Abtreibungen darstelle. Ein Abgeordneter, der einen Zusammenschluss dreier Rechtsaußen-Parteien vertrat, darunter die NSDAP, schlug 1926 vor, Abtreibung nur bei Juden zu legalisieren. Unter dem Naziregime, das die Erzeugung „rassisch wertvollen“ Nachwuchses propagierte, war Abtreibung illegal – es sei denn, sie verhinderte die Geburt von Kindern, die als „unerwünscht“ betrachtet wurden. In den Vereinigten Staaten hatte die Wirtschaftskrise zu einer verstärkten Nachfrage nach Abtreibungen geführt, und bereits zu Beginn der dreißiger Jahre waren Hunderte von Abtreibungskliniken aus dem Boden geschossen. Armut und mangelnde Erreichbarkeit qualifizierter Ärzte führten of zu Verletzung oder Tod schwangerer Frauen durch selbst-induzierte Abgänge. Der Vortragende, Dr. Walter M. Fürst, war ein Neuankömmling aus Hamburg.

Der trockene Humor eines Psychoanalytikers

Sigmund Freud feiert seinen letzten Geburtstag in Wien

Wien

Während Sigmund Freud, der „Vater der Psychoanalyse“, sicher die Bedeutung des „Anschlusses“ nicht unterschätzte – „Finis Austriae“ war der lapidare Kommentar, den er in seinem Tagebuch notierte – trieb ihn nicht einmal die Durchsuchung seines Verlages und seiner Wohnung durch die Nazis dazu, die Möglichkeit der Emigration zu untersuchen. Er soll sogar den unerbetenen Besuch der Nazis, die sich mit einer beträchtlichen Summe Geldes aus dem Staub gemacht hatten, mit der trockenen Bemerkung „Ich habe für einen einzigen Besuch nie so viel genommen“ kommentiert haben. Doch als seine Tochter Anna, selbst renommierte Psychoanalytikerin, kurz danach von der Gestapo verhört wurde, reagierte der gewöhnlich reservierte Freud hochemotional und begann, die verschiedenen Asylangebote abzuwägen, die er bekommen hatte. Der 6. Mai 1938 war sein letzter Geburtstag in Wien.

Schwarze Dreiecke

Unerwünschte ins KZ Buchenwald

Buchenwald

Der 30. April 1938 war der zehnte und letzte Tag der „Aktion Arbeitsscheu Reich“, einer Strafaktion, die auf Menschen abzielte, die für „asozial“ oder „arbeitsscheu“ erachtet wurden. Die Definition war ausreichend vage und breit gesteckt, es zu ermöglichen, sich einer großen Bandbreite von „Unerwünschten“ zu entledigen. Zwischen 1500 und 2000 so eingestufte Männer wurden in einer ersten Verhaftungswelle ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht, unter ihnen auch Juden. Sie wurden durch schwarze Dreiecke an der Häftlingskleidung identifiziert.

Liesl

Politische Gegner im Polizeigefängnis

„In Deiner Angelegenheit mache ich nach wie vor alle notwendigen Wege. Die Herren zeigen sich äußerst entgegenkommend, können aber infolge Überbürdung nicht alles so rasch erledigen“.

WIEN

Schon während der Jahre des autoritären Regimes, das 1934 in Österreich eingeführt worden war („Austrofaschismus“), war das Polizeigefängnis Rossauer Lände in Wien (von den Einheimischen „Liesl“ genannt) als Haftanstalt nicht nur für Kriminelle, sondern auch für politische Gegner benutzt worden. Nach der Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland am 12. März 1938 wurden von hier aus die ersten 150 Österreicher ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Edmund Wachs wurde im April 1938 in der „Liesl“ in „Schutzhaft“ genommen, ein bequemes Mittel in den Händen der Nazibehörden, um Juden und politische Gegner loszuwerden, da sie willkürlich verhängt werden konnte und den Gefangenen kaum oder gar keinen Rückgriff auf Rechtsbeistand ließ. Auf dieser Postkarte versichert ihm sein Bruder, Rechtanwalt Dr. Karl Wachs, er täte alles Notwendige, um seinen Fall zu unterstützen und bittet ihn um Geduld.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Edmund und Berta Wachs, AR 25093.

Original:

Archivbox 1, Ordner 6

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