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Eine Vollzeitbeschäftigung

Die aufwändigen Auswanderungs-Vorbereitungen

Basel

Hilde Lachmann-Mosse hatte in ihrem jungen Leben schon einige Umzüge hinter sich. Aufgewachsen war die 26-Jährige in Berlin. Weitere Stationen waren Woodbrooke/Grossbritannien (Schule), Freiburg (Medizin-Studium) und Basel (Promotion im Fach Medizin). Nun stand ihr ein weiterer Umzug bevor: in die Vereinigten Staaten. Die Arbeitsbescheinigung über ihre Zeit als gynaekologische Assistenzärztin in der Baseler Unversitätsklinik hatte sie bereits ins Englische übersetzen lassen – allerdings war dies nur ein Schritt von vielen. Auch wenn die eigentliche Bescheinigung nur wenige Zeilen lang ist: Allein drei Beglaubigungs-Stempel verschiedener Institutionen zeugen davon, wie viele Behördengänge für Hilde Lachmann-Mosse nötig gewesen sein müssen, um schließlich dieses Dokument in Händen halten zu können.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Mosse Familie, AR 25184

Original:

Archivbox 3, Ordner 35

Widerstand durch Passfälschung

Der Postausweis des Felix Perls

Berlin

Der jüdische Kaufmann Felix Perls wird 1883 in Beuthen in Oberschlesien geboren. Zum 1. April 1938 muss er aufgrund von NS-Bestimmungen seine Tätigkeit als Direktor der Oberschlesischen Holzindustrie-Aktiengesellschaft aufgeben. Zwei Monate später ziehen er und seine Frau Herta nach Berlin-Grunewald, um den Anfeindungen in Beuthen zu entgehen. Perls‘ Postausweis aus dem Jahr 1938 wurde von ihm gefälscht: Er änderte das Ausgabedatum und die Gültigkeitsdauer. Postausweiskarten wurden für den Empfang vertraulicher Postsendungen benötigt, wurden aber auch außerhalb der Post als Ausweisdokument anerkannt.

Kontakte sind Geld wert

Agnes Graetz nutzt ihr Netzwerk, um ihrer Tochter die Auswanderung in die USA zu ermoeglichen

„Ich bitte Sie, mir, wenn irgend möglich in Kürze zu schreiben, ob Sie eine Möglichkeit sehen, die nicht - wie das jetzt üblich zu sein scheint - unwahrscheinlich hohe Garantien und Rechtsanwaltskosten erfordert.“

Luzern

Eine Krankheit auf Reisen zwang Wilhelm Graetz 1938, seinen Aufenthalt in der Schweiz auszudehnen. Angesichts der sich zuspitzenden Situation entschloss er sich, sein Zuhause in Berlin aufzugeben. Das vormals gut situierte Ehepaar konnte seinen vier erwachsenen Kindern finanziell nicht unter die Arme greifen, hatte aber den Vorteil weit verzweigter Kontakte: Wilhelm Graetz war Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gewesen und kannte als Leiter des deutschen „ORT“ vielerorts potentielle Helfer. Im August führte ihn eine Reise nach Ungarn. Am 27. nutzte seine Frau Agnes die Zeit, bei dem bekannten Territorialisten und „ORT“-Führer David Lvovicz um Hilfe für eine ihrer drei Töchter zu bitten, die dringend eine Bürgschaft brauchte, um nach Amerika auswandern zu können.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung William Graetz, AR 4121

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Not macht erfinderisch

Intellektuelle planen Wohnkolonie in USA für arbeitslose jüdische Ärzte

„Sie wissen, dass wir alle vom 1. Oktober an nicht mehr Ärzte sind; die deutsche Approbation ist allen unseres Glaubens entzogen. Es gibt natürlich eine Menge, die dann nicht wissen, wovon zu leben und auch hier nicht weiter leben können.“

BERLIN/NEW YORK

Die Existenzkrise jüdischer Ärzte in Deutschland, die verschiedene Stadien (Ausschluss aus dem öffentlichen Gesundheitswesen und aus Krankenkassen, Verbot der Zusammenarbeit zwischen jüdischen und „arischen“ Ärzten etc.) durchlaufen hatte und durch das Berufsverbot im Juli 1938 eskalierte, machte schöpferische Lösungsansätze erforderlich. Am 25. August schrieb Dr. Felix Pinkus, ein renommierter Berliner Dermatologe, an seinen Freund Sulzberger in Amerika, um ihn als Mitstreiter für ein Hilfsprojekt zu gewinnen: Der Soziologe und Nationalökonom Franz Oppenheimer war darauf gekommen, in den Vereinigten Staaten eine Art Wohnkolonie für ehemalige Ärzte einzurichten, deren Finanzierung durch Spenden amerikanisch-jüdischer Ärzte bestritten werden sollte. Laut Oppenheimers Berechnungen wäre damit zu rechnen, dass etwa 1000 Ärzte diese Lösung in Anspruch nehmen würden. (Dr. Pinkus schätzte, es wären eher 3000.)

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Felix Pinkus Familie, AR 25456

Original:

Archivbox 1, Ordner 41

650 Reichsmark und 50 Pfennige

Mit der Columbus nach New York

„Schiffskarten - Eisenbahnkarten - Flugkarten nach allen Ländern“

Berlin/Bremen/New York

Nur wenige Häuser vom Palästina-Amt der Jewish Agency for Palestine entfernt, auf der Meinekestraße 2 in Berlin, befand sich das Reisebüro „Palestine & Orient Lloyd“, das in enger Zusammenarbeit mit der Agency stand und vielen Tausenden von Juden bei der Auswanderung aus Nazi-Deutschland behilflich war – durchaus nicht nur nach Palästina. Einer dieser Auswanderer war Dr. Rolf Katzenstein. Am 20. August 1938 stellte ihm der „Palestine & Orient Lloyd“ diese Rechnung für die Überfahrt nach New York aus, die am 27.8. an Bord der Columbus von Bremen aus starten sollte.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Sammlung:

Rechnung "Palestine & Orient Lloyd" für Rolf Katzenstein, Jüdisches Museum Berlin, Sammlung Ruth Gützlaff geb. Katzenstein

Sara und Israel

Pflicht zu jüdischen Zusatz-Vornamen

„(1) Soweit Juden andere Vornamen führen, als sie nach § 1 Juden beigelegt werden dürfen, müssen sie vom 1. Januar 1939 ab zusätzlich einen weiteren Vornamen annehmen, und zwar männliche Personen den Vornamen Israel, weibliche Personen den Vornamen Sara.“

Berlin

Zweimal im Verlauf der deutschen Geschichte wurden die Juden gezwungen, ihre Namen zu ändern: Zum ersten Mal durch die Einführung von (oft stigmatisierenden) Familiennamen während der Emanzipation, zum zweiten Mal durch die Einführung der obligatorischen Zusatz-Vornamen Sara für jüdische Frauen und Israel für jüdische Männer (17. August 1938). Auf diese Weise sorgte das Regime für die Ausgrenzung der Juden, deren Identität nun keine Privatsache mehr sein konnte. Wenn der Vorname eines Juden oder einer Jüdin auf einer offiziell abgesegneten Liste stand, wurde kein zusätzlicher Name verlangt. Außerdem verlangte das Regime von Juden, die ihren Familiennamen geändert hatten, um sich anzugleichen und Diskriminierung zu verhindern, ihren vorherigen Namen wieder anzunehmen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt Hirschfeld, AR 25708

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Jahreschronik 1938

Juden gezwungen, neue Vornamen anzunehmen

Auf dem Pass einer jüdischen Frau ist der gesetzlich verordneten Mittelname „Sara“ deutlich sichtbar. Sammlung Marianne Salinger, Leo Baeck Institute.

Jüdische Deutsche mit einem Vornamen, der aus Sicht der Nationalsozialisten nicht „typisch jüdisch“ ist, werden per Verordnung gezwungen, ab 01. Januar 1939 einen zusätzlichen Vornamen anzunehmen—Männer den Namen Israel, Frauen den Namen Sara. Die Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen zielte darauf ab, Juden anhand ihrer Vornamen als Juden kenntlich zu machen. Es handelt sich um den ersten Versuch, die Juden äusserlich als solche zu kennzeichnen und dauerhaft von der übrigen deutschen Bevölkerung zu trennen. Am 24. Januar 1939 dehnen die Nationalsozialisten die Gültigkeit der Verordnung auf Österreich und die sudetendeutschen Gebiete aus.

Zur Jahreschronik 1938

Selbst ist die Frau

Eine unabhängige Unternehmerin muss um Hilfe bitten

„Ich glaube, ich schreibe an die Kinder von Emanuel und Victoria Magen, und ich flehe Euch an, uns zu helfen, nach Amerika zu kommen.“ ”

Berlin

Die Berlinerin Gusty Bendheim hatte den amerikanischen Zweig ihrer Familie nie kennengelernt. 42 Jahre alt und geschieden, hatte sie keine andere Wahl, als sich an ihre Verwandten in Übersee zu wenden. Sie bat die quasi Fremden um Hilfe, ihr und ihren Kindern Ralph (13) und Margot (17) die Auswanderung zu ermöglichen. Gusty war ein unternehmerischer Typ: Zum Zeitpunkt ihrer Heirat mit Arthur Bendheim, einem Kaufmann aus Frankfurt am Main, hatte sie bereits das dritte Knopfgeschäft gegründet. Nach der Hochzeit übernahm Arthur die Geschäftsleitung, und Gusty wurde zur Hausfrau. Trotz der zunehmend besorgniserregenden anti-jüdischen Maßnahmen des Naziregimes war Arthur nicht gewillt, das Land zu verlassen. Nach der Scheidung des Paares 1937 nahm Gusty die Dinge selbst in die Hand: In diesem Brief vom 14. August 1938 an ihre unbekannten Verwandten ergänzt sie ihre Bitte um Hilfe durch die Versicherung, ihr geschiedener Mann sei bereit, die Reisekosten für sie und die Kinder in die Vereinigten Staaten zu übernehmen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Margot Friedlander, AR 11397

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Schrittweise Arisierung

Jüdische Ärzte sollen nun die Zulassung verlieren

„Die Anzahl der Juden, die von dieser neuen Verordnung betroffen sind, wird auf zwischen 6000 und 7000 geschätzt.”

Berlin

Der Anteil von Juden unter den deutschen Ärzten war so hoch, dass den Nazis anfänglich ein umfassendes Berufsverbot nicht opportun erschien. Einstweilen begnügten sie sich damit, durch die „Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen“ vom 22. April 1933 „nicht-arischen“ Ärzten die Zulassung zur Arbeit in Zusammenhang mit den gesetzlichen Krankenkassen zu entziehen. Ausnahmen waren möglich, wenn sie bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs praktiziert hatten oder beweisen konnten, dass sie selbst oder ihr Vater Frontkämpfer gewesen seien. Ab 1937 konnten Juden nicht länger den Doktortitel erwerben. In einer Nachricht vom 3. August weist die Jewish Telegraphic Agency auf die Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz hin, die einige Tage zuvor erlassen worden war und laut der jüdische Ärzte mit Gültigkeit vom 30. September ihre Zulassung verlieren würden.

Aus Respekt gegenüber der Volksgemeinschaft

Neue Gesetze erklären jüdische Erbschaften für ungültig

„§ 48 Eine Verfügung von Todes wegen ist nichtig, soweit sie in einer gesundem Volksempfinden gröblich widersprechenden Weise gegen die Rücksichten verstößt, die ein verantwortungsvoller Erblasser gegen Familie und Volksgemeinschaft zu nehmen hat.“

Berlin

Mit dem Ermächtigungsgesetz von 24. März 1933 hatte die neu eingesetzte Regierung unter Adolf Hitler wenig Zweifel hinsichtlich ihrer Rechtsauffassung gelassen: Das neue Gesetz erlaubte es ihr, nach Belieben die Verfassung außer Kraft zu setzen, Dekrete und Gesetze zu formulieren und Abkommen mit anderen Staaten zu schaffen, ohne der Zustimmung des Reichstags oder der Übereinstimmung mit der Verfassung zu bedürfen. Die Willkür und Beliebigkeit des Rechtssystems, das so geschaffen wurde, wurde noch verstärkt durch die häufige Berufung auf das „gesunde Volksempfinden“, ein Begriff, der implizierte, dass die unverdorbenen, natürlichen Instinkte des Volkes die Grundlage der deutschen Rechtsprechung bilden sollten. Ein solcher Fall war das „Gesetz über die Errichtung von Testamenten und Erbverträgen“ (§48) vom 31. Juli: Indem es „Rücksichten gegenüber der Volksgemeinschaft“ heraufbeschwor, benutzte es diese Wendung, um zu implizieren, dass Verträge, durch die der Besitz einer verstorbenen Person an einen Juden vererbt wurde, als ungültig zu betrachten seien.

Mit einem Anstrich der Legalität

Juden müssen nun Identifizierungskarten bei sich tragen

„Der Besitz der Karte ist Pflicht für jeden Juden und für jeden ,Arier‘ im militärpflichtigen Alter, aber freiwillig für alle anderen Arier.‘“

Berlin

Laut Erlass des Innenministers Frick am 22. Juli 1938 waren in Deutschland Kennkarten zur Verwendung im Inland eingeführt worden. Frick, von Hause aus Jurist, versah konsequent die anti-demokratischen, anti-jüdischen Maßnahmen des Regimes mit dem Anstrich der Legalität. Es kann daher keine große Überraschung gewesen sein, als bereits am 23. Juli geklärt wurde, was am Vortag vage belassen worden war („Der Reichsminister des Innern bestimmt, welche Gruppen von deutschen Staatsangehörigen und in welchem Umfang diese Gruppen dem Kennkartenzwang unterliegen.“): Abgesehen von nicht-jüdischen Männern in militärpflichtigem Alter waren es in erster Linie Juden aller Altersgruppen, die Kennkarten beantragen mussten. Der Zweck der Kennkarten war, Juden klar zu identifizieren und zu stigmatisieren und sie zusätzlich vom Rest der Bevölkerung zu trennen. In einer Mitteilung am 28. Juli berichtet die Jewish Telegraphic Agency über diese neueste juristische Untat.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

“Reich Jews from Age of 3 Months Must Carry Identity Cards”

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Die Abreise eines Gelehrten

Ismar Elbogen, ein großer Geschichtler des deutschen Judentums, verlässt sein Heimatland

„Professor Ismar Elbogen, ein bekannter jüdischer Gelehrter, bricht auf in die Vereinigten Staaten, um sich dort dauerhaft niederzulassen.“

BERLIN

Dank Jahrzehnten wissenschaftlicher Arbeit, besonders seiner grundlegenden Werke „Die Religionsanschauungen der Pharisäer“ (1904) und „Der Jüdische Gottesdienst in seiner Entwicklung“ (1913), war Prof. Ismar Elbogen international gut bekannt als er 1938 nach Jahren des Zögerns beschloss, auszuwandern. Seine Bemühungen als Vorsitzender des Erziehungsausschusses der Reichsvertretung der Juden in Deutschland waren durch das Regime erheblich behindert worden, und sein letztes in Deutschland veröffentlichtes Buch, „Die Geschichte der Juden in Deutschland“ (1935) war durch das Propagandaministerium massiv zensiert worden. In den zwanziger Jahren hatten ihm verschiedene Hochschulen in den Vereinigten Staaten (Jewish Institute of Religion, Hebrew Union College in Cincinnati; einen Ruf an die Columbia University hatte er abgelehnt) Lehraufträge erteilt, so dass er vielfältige Kontakte nach Übersee besaß, als die Zeit kam, Deutschland zu verlassen. In der heutigen Ausgabe informiert die Jewish Telegraphic Agency ihre Lehrer über die bevorstehende Abreise des Gelehrten.

Verhalten optimistisch

Reichsvertretung der Juden in Deutschland bewertet Évian-Konferenz

„Die Auswanderungspolitik der Reichsvertretung ist korrekt. Darüber hinaus macht die Stellungnahme deutlich, dass die Einrichtung eines internationalen Flüchtlingshilfswerks zu einer Zunahme und Beschleunigung der Auswanderung führen würde.“

Berlin

Laut Bericht der Jewish Telegraphic Agency an diesem Tag des Jahres 1938 veröffentlichte die Reichsvertretung der Juden in Deutschland fünf Tage nach Ende der Konferenz von Évian (6.-15. Juli) ihre erste Stellungnahme zu den Ergebnissen der Zusammenkunft in der Jüdischen Rundschau, dem Organ der zionistischen Bewegung. Die Organisation äußerte sich verhalten optimistisch. Sie prophezeite, das Internationale Flüchtlingskomitee, das während der Konferenz mit dem Ziel gegründet worden war, permanente Neuansiedlung voranzutreiben, werde positive Auswirkungen auf die Auswanderung haben.

„Juden ohne Maske“

Die NS-Zensur erklärt antisemitischen Film für „staatspolitisch wertvoll“

„Inhaltsangabe. Der Film bringt einen Querschnitt durch das jüdische Filmschaffen der Systemzeit [abwertende Bezeichnung für die Weimarer Republik] und zeigt die Notwendigkeit der Nürnberger Gesetze, die diese Zersetzungsarbeit in kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht beendeten.“

Berlin

Sofort nach ihrem Aufstieg zur Macht im Januar 1933 begannen die Nazis, ihre Kontrolle auf alle Aspekte kulturellen Lebens in Deutschland auszudehnen. Als populäres Medium, das große Mengen von Menschen erreichen konnte und als jüdisch dominiert galt, war der Film für das neue Regime von zentraler Bedeutung. Bevor die Produktion eines neuen Films beginnen konnte, musste das Drehbuch eine Vorzensur durchlaufen. Das Endprodukt wurde von der Film-Prüfstelle, die dem Reichspropagandaministerium unterstellt war, strengstens untersucht. Die Nazis änderten die Beziehung des Staates zur Filmindustrie: Während bisher das Hauptanliegen gewesen war, Material zu zensieren oder zu unterdrücken, das als schädlich betrachtet wurde, wurde die Filmindustrie nun auch aktiv vom Staat als Vehikel der nationalsozialistischen Weltanschauung benutzt. Der antisemitische Film „Juden ohne Maske“, dessen Prüfkarte hier gezeigt wird, ist ein solcher Fall. Er bekam das Prädikat „staatspolitisch wertvoll“, durfte aber nur im Rahmen von Veranstaltungen der NSDAP, nicht aber vor Jugendlichen, vorgeführt werden.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Zensurkarte der Film-Prüfstelle Berlin für den NS-Propagandafilm „Juden ohne Maske“ (1937) ; CJA, 7.78

Nichts geht mehr

Visa-Stopp am US-amerikanischen Konsulat in Berlin

Berlin

Am 19. Juli berichtet die Jewish Telegraphic Agency, dass das US-amerikanische Generalkonsulat in Berlin einen Annahmestopp für neue Visaanträge verhängt hat. Nach Angaben des Konsulats hatten sich zuletzt etwa 2000 Personen pro Monat für Visa beworben. Aufgrund der wachsenden Nachfrage entschloss sich das Konsulat nun dazu, zunächst die bereits anhängigen Anträge abzuarbeiten. Zwar gibt es eine Warteliste für neue Bewerber, die oft mühsam beschafften Bürgschaften und andere Dokumente, die sie sich bereits besorgt hatten, werden allerdings nicht mehr angenommen. All dies bedeutet, dass Juden, die ihre Ausreise aus Deutschland oder dem annektierten Österreich planen, in 1938 keine Chance mehr haben, sich um ein Visum zu bewerben. Es kann angenommen werden, dass die 60.000 bis 70.000 Bewerbungen, die am 19. Juli im Konsulat darauf warten, bearbeitet und beschieden zu werden, die jährliche Quote der USA von 27.370 Visas für Bewerber aus dem Deutschen Reich bereits bei Weitem überstieg.

Doppelte Gefährdung

Als jüdischer Mensch mit Behinderung wurde Ursula Meseritz zum zweifachen Ziel der Nazipolitik.

„Die schöne Kehrseite in angeregter Unterhaltung. Hach, diese Sonne!“

Berlin

Als taubstumme Jüdin war Ursula Meseritz in den Augen der Nazis doppelt minderwertig: Seit dem 14. Juli 1933 galt das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das die Zwangssterilisierung von Menschen mit Behinderung sowie von Epileptikern legalisierte. Ursula hatte die einzige jüdische Schule für Gehörlose in Deutschland besucht, die „Israelitische Taubstummenanstalt“ in Berlin-Weißensee. Unter dem Naziregime wurde der Gebrauch von Zeichensprache in staatlichen Schulen verboten, und 1936 wurden jüdische Kinder aus Schulen ausgeschlossen, die gehörlose Kinder förderten. Laut einem „Fragebogen für Auswanderer“, den sie im April 1938 eringereicht hatte, war Ursula Laborantin für medizinische Diagnostik und hoffte, in Amerika in diesem Beruf tätig zu werden. Die Aufschriften auf diesen Fotos, datiert auf den 17. Juli 1938, zeigen, dass der Neunzehnjährigen ihr Sinn für Humor trotz der schwierigen Zeiten nicht abhanden gegangen war. Offenbar zeigen die Bilder Ursula mit ihrer Schwester und ihren Eltern, wie sie ein letztes Mal feiern vor der Abreise Ursulas in die USA.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Ursula Meseritz Elgart Familie Sammlung, AR 25544

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Absage

Von der Post gekündigt weil sie Jüdin war, sucht Johanna eine neue Anstellung

„Ich bin 37 Jahre alt, war 14 Jahre auf dem Postamt Berlin und bin auf Grund des Arierparagraphen entlassen worden. Das Amt war mit meinen Leistungen sehr zufrieden.“

Berlin

„Der betreffende Posten ist bereits anderweitig besetzt“, hieß es lapidar als Antwort zu einer Bewerbung der ehemaligen Postbeamtin Johanna Rosenthal vom 11. Juli 1938. Nach 14 Dienstjahren bei der Deutschen Reichspost war sie Jahresende 1933 entlassen worden. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ hatte ihre Beschäftigung als Jüdin im öffentlichen Dienst, was sie in ihrem Schreiben auch anmerkt, unmöglich gemacht. Die ihr übergangsweise zugesprochene Rente von 68 Reichsmark im Monat reichte indes nicht zum Lebensunterhalt. So versuchte sie, als einfache Telefonistin Arbeit zu finden.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Bewerbungsschreiben von Johanna Rosenthal mit Ablehnungsvermerk ; Inv.Nr. Do2 2002/762

Mitarbeiterverlust

Noch ein wertvoller Mitarbeiter der Zionistischen Vereinigung wandert aus

„Alle ihm übertragenen Arbeiten hat Herr Friedmann mit einer weit über das gewöhnliche Maß hinausgehenden Hingabe und mit eisernem Fleiß durchgeführt.“

Berlin

Die Zionistische Vereinigung für Deutschland war in einer heiklen Lage: Während sie die Auswanderung von Juden aus Nazi-Deutschland unterstützte, tat sie sich schwer mit dem ständigen Aderlass fähiger Mitarbeiter, besonders auf der Führungsebene, und der Notwendigkeit, sie zu ersetzen. Dennoch unterstützte Benno Cohn, Mitglied der Exekutive, großzügig einen weiteren abreisenden Kollegen mit diesem zutiefst anerkennenden Empfehlungsschreiben: Rudolf Friedmann war seit 1933 in verschiedenen Kapazitäten im Zionistischen Zentralbüro in Berlin beschäftigt und diente ihm mit äußerster Gewissenhaftigkeit und Hingabe. Cohn lobt seine organisatorischen Fähigkeiten und Ideen und empfiehlt ihn wärmstens an jede zionistische oder andere jüdische Organisation.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Willy Nordwind Sammlung, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Richtungswechsel

Der „Hilfsverein der Juden in Deutschland“ unterstützt jüdische Aus- anstatt Einwanderer

Berlin

Der 1901 in Berlin gegründete „Hilfsverein der deutschen Juden“ unterstützte vor allem jüdische Einwanderer nach Deutschland. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kümmerte sich der nun zwangsweise umbenannte „Hilfsverein der Juden in Deutschland“ umgekehrt um die Vorbereitung und Umsetzung der Emigration aus Deutschland. Dazu bot er Hilfe bei Behördenfragen, Passangelegenheiten oder beruflicher Umschulung an und gewährte auch finanzielle Unterstützung. Ein wichtiges Organ für seine Arbeit war das Periodikum „Jüdische Auswanderung“, das über allgemeine Lebens- und Arbeitsbedingungen, aber auch über spezifische Fragen jüdischer Kultur in verschiedenen Ländern informierte. Im Juli-Heft von 1938 wurden die USA, Kuba und die Philippinen vorgestellt.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Informationsheft „Jüdische Auswanderung“. Korrespondenzblatt für Auswanderungs- und Siedlungsfragen ; Inv. Nr: Do2 91/194

Gestapo-Schutzhaftbefehl

Malerin Lea Grundig im Dresdner Gerichtsgefängnis

Berlin/Dresden

Der Gestapo-Schutzhaftbefehl vom 29. Juni 1938 bestätigte die bis dahin formell nur vorläufig gültige Festnahme der jüdischen und kommunistischen Malerin Lea Grundig (siehe auch Eintrag vom 1. Juni). Nach ihrer Verurteilung wegen Hochverrats war Grundig im Dresdner Gerichtsgefängnis.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Schutzhaftbefehl der Zentrale der Geheimen Staatspolizei Berlin für Lea Grundig; Inv.Nr. Do 62/1126.4

Abschied, um neu anzufangen

Hans Lamm geht auf „Amerika-Wanderung“

Berlin

So tief war das Hüten des Sabbats, der Feiertage und der jüdischen Speisegesetze im Leben der Familie Lamm verwurzelt, dass selbst die katholische Köchin Babett für die Einhaltung der Bräuche sorgte. Bei traditioneller Auffassung des Judentums waren die Lamms weltlichen Dingen gegenüber aufgeschlossen. Nach dem Gymnasium studierte Hans für kurze Zeit Jura, verstand aber schnell, das er als Jude in dem neuen politischen Klima in diesem Bereich nicht vorankommen würde und sattelte daher auf eine journalistische Laufbahn um. Die Karrieren jüdischer Journalisten wurden zu dieser Zeit massiv dadurch behindert, dass nicht-jüdische Zeitungen sie nicht anstellten und jüdische nach und nach zur Einstellung gezwungen waren. 1937 zog Lamm nach Berlin, wo er bei Leo Baeck und Ismar Elbogen an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums studierte, um sein Verständnis des Judentums zu vertiefen. Tief verwurzelt in der deutschen Kultur, konnte er sich nur schwer zur Auswanderung entscheiden. Doch schließlich überzeugte ihn sein älterer Bruder, dass es in Deutschland für Juden keine Zukunft gebe. In diesem Brief verabschiedet sich der 25-jährige Lamm herzlich und höflich, aber ohne spürbare Emotionen, von der Redaktion der Monatszeitung „Der Morgen“, einer anspruchsvollen Publikation, deren Mitarbeiter er gewesen war, und bedankt sich für die Förderung.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Abschiedsschreiben von Hans Lamm an die Redaktion des „Morgen“ vor seiner Auswanderung in die USA; CJA, 1 C Mo 1, Nr. 2, #12509, Bl. 29

Besuch beim US-Konsulat

Heinz Ries kann endlich einwandern

Havanna

Nachdem sein erster offizieller Einwanderungsversuch unter abenteuerlichen Bedingungen gescheitert war, bemühte sich der zwanzigjährige Heinz Ries aus Berlin ein weiteres Mal darum, dauerhaft und rechtmäßig in den USA leben zu dürfen. Monatelang hatte er sich illegal in New York durchgeschlagen. Erst mit Hilfe einer Bürgschaft, einer erneuten Einreise über Havanna (Kuba) und wiederholter Vorsprache beim dortigen amerikanischen Konsulat, wo er am 23. Juni 1938 erstmals vorstellig wurde, gelang sein Vorhaben. Nach dem Krieg kehrte er zunächst als Mitarbeiter der Alliierten, dann als Fotoreporter der New York Times für einige Zeit nach Deutschland zurück. Aus diesen Jahren stammen die Fotos der Berliner Blockade und Luftbrücke, die ihn unter dem Namen Henry Ries weltberühmt machten.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Einwandererausweis der Vereinigten Staaten von Amerika für Heinz Ries ; Inv.No. Do2 2009/488

Der sechste Geburtstag im Exil

Billy Wilder arbeitet für Paramount Pictures in den USA

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HOLLYWOOD

Samuel (später „Billy“) Wilder hatte seinen eigenen Kopf: 1906 als Kind einer österreichisch-jüdischen Familie in der galizischen Stadt Sucha Beskidzka geboren, wurde von ihm erwartet, dass er ins väterliche Geschäft einsteigen würde, das hauptsächlich aus einer Kette von Bahnhofslokalen bestand. Doch nach dem Realgymnasium und einem kurzen Versuch des Jura-Studiums (er sprang nach drei Monaten ab) in Wien, entschloss er sich, seinen eigentlichen Neigungen zu folgen: Bei der Zeitung „Die Stunde“, einer Boulevardzeitung von zweifelhaftem Ruf, bekam er die erste Gelegenheit, sein Schreibtalent zu üben. 1926 ergab sich für ihn die Möglichkeit, nach Berlin zu ziehen, wo er freiberuflich bei verschiedenen Boulevardzeitungen arbeitete und mit dem Schreiben von Drehbüchern begann. Nach der Machtübernahme der Nazis zog Wilder nach Paris und bekam die Gelegenheit, seinen ersten Film, „Mauvaise graine“, zu inszenieren. 1934 reiste er mit einem Besuchervisum in die Vereinigten Staaten ein. Ab 1936 stand er bei Paramount Pictures unter Vertrag. Der 22. Juni war sein 32. Geburtstag – der sechste, den er im Exil feierte.

QUELLE

Institution:

The Oscar Academy Award

Sammlung:

Billy Wilder

Die Menge sieht schweigend zu

Antisemitische Parolen an Schaufenstern

„Das Wort ,Jude‘ war in breiten, roten Buchstaben an die Fenster sämtlicher jüdischer Läden geschmiert, manchmal mit einem Davidstern dazu, um es fest in den Köpfen der Berliner zu verankern, dass dies Läden seien, die es um jeden Preis zu meiden galt.“

Berlin

§17 der Dritten Verordnung zum Reichsbürgergesetz hatte die Kennzeichnung aller jüdischen Betriebe zu einem noch festzulegenden Zeitpunkt gefordert. Die Nazis verloren keine Zeit: Laut diesem Artikel der Jewish Telegraphic Agency wurden bereits Tage später Schaufenster in ganz Berlin systematisch mit dem Wort „Jude“ und mit antisemitischen Parolen beschmiert, wobei überall die gleiche, schwer zu entfernende rote Farbe benutzt wurde. Es stand außer Zweifel, dass die Aktion mit dem Segen der Machthaber durchgeführt wurde. Während kein Widerstand vonseiten der nichtjüdischen Bevölkerung verzeichnet wird, versäumt der Korrespondent nicht, darauf hinzuweisen, dass, im Gegensatz zu Wien und den weniger wohlhabenden Teilen Berlins, die Menge auf dem Kurfürstendamm schweigend, ohne größere Begeisterung zugesehen habe. Die Spannung unter den Juden wurde noch verstärkt durch Berichte von dem Vorhaben, Arbeitslager zu errichten, um dort die in den jüngsten Razzien festgenommenen Juden zur Zwangsarbeit heranzuziehen.

Post aus Shanghai

Ein deutsch-jüdischer Auswanderer berichtet

„Es gibt nicht einen einzigen Juden hier, der sich nicht ernähren kann.“

Schanghai/Berlin

Zu einer Zeit, als mehr und mehr Juden den dringenden Wunsch verspürten, das Land zu verlassen, muss dieser Brief eines deutsch-jüdischen Auswanderers in Shanghai, gerichtet an die „Herren vom Hilfsverein“, zukünftige Auswanderer mit neuer Hoffnung erfüllt haben: Der Schreiber dankt dem Hilfsverein überschwänglich für die Beratung und berichtet begeistert von der Vielzahl beruflicher Optionen, die Einwanderern an seinem neuen Standort zur Verfügung stehen: „Voraussetzung ist natürlich, dass man irgend etwas können muss und intensiv arbeiten kann.“ Seiner Einschätzung nach waren Musiker, Ärzte und Kaufleute stark gefragt und die Situation für Sekretärinnen und Stenotypistinnen besonders vielversprechend – unter der Bedingung, dass sie über perfekte Englischkenntnisse verfügten, was unter deutschen Juden in keiner Weise selbstverständlich war. Die Neuankömmlinge waren nicht die einzigen Juden im Land: Etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es eine sephardische Gemeinde, und seit Anfang des 20. Jahrhunderts, dann verstärkt durch den Zusammenbruch des Zarenreichs, hatten sich aschkenasische Juden in der Stadt angesiedelt.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin

Original:

Vol 28, Nr. 25, S. 5.

Die Angst vor Freigeistern

Nationalsozialistische Spitzel im öffentlichen Raum

„Unter den von der Polizei aufgesuchten Gaststätten waren das Café Trump, eines der beliebtesten Cafes der Stadt, wo ein halbes Dutzend Juden aufgegriffen wurden, und Café Meudtner.“

Berlin

Am 17. Juni berichtet die Jewish Telegraphic Agency von erneuten Durchsuchungsaktionen der Nazibehörden in den letzten vier Tagen in Berlin und anderswo im Land, bei denen allein zwischen dem 13. und dem 17. Juni 2000 Juden festgenommen worden seien. Während der Weimarer Republik hatte es eine blühende „Kaffeehauskultur“ gegeben – Künstler und Intellektuelle betrachteten gewisse Cafes praktisch als ihr Zuhause, wo sie halbe Tage und Nächte verbrachten, um Kunst, Literatur und Politik zu diskutieren. Unter den Nazis verschwand dieses Phänomen schnell. Wahre Kunst ist frei, und wie alle autoritären Regimes, fürchteten die Nazis subversive Aktivitäten unter jenen freien Geistern. Der öffentliche Raum war mit Spitzeln übersät. Zum Zeitpunkt der Juni-Aktion, in deren Kontext diese Durchsuchungsaktionen durchgeführt wurden, war die ursprüngliche Klientel weitgehend verschwunden. Die Razzien zielten vorgeblich auf „asoziale Elemente“ ab. Tatsächlich jedoch stellten sie die erste Massenfestnahme von Juden dar. Propagandaminister Goebbels fasste die Absicht mit den markigen Worten „Die Losung ist Schikane, nicht Gesetz“ zusammen.

Markiert

Eine neue Verordnung verlangt die Kennzeichnung jüdischer Geschäfte

Berlin

Ungeachtet der patriotischen Gesinnung vieler deutscher Juden und ihrer vielfachen Beiträge zugunsten der Gesellschaft, hatte das „Reichsbürgergesetz“ von 1935 Juden offiziell einen niedrigeren Status zugeordnet, indem es sie zu bloßen „Staatsangehörigen“ erklärte und sie zusätzlich vom Rest der Bevölkerung isolierte. Im Laufe der Zeit wurden Zusatzverordnungen erlassen, die die genaue Definition der Nazis beinhalteten, was einen Juden ausmache und jüdische Beamte in den Ruhestand zwangen. Am 14. Juni 1938 bestimmte die dritte solche Verordnung, dass Geschäfte in jüdischem Besitz als solche zu kennzeichnen seien.

Der Stölpchensee

Das letzte öffentliche Schwimmbad für Juden in Berlin

Berlin/Stölpchensee

Bereits 1935 hatte die Parteipresse eine Kampagne geführt, Juden aus öffentlichen Schwimmbädern zu verdrängen, wobei auf „unliebsame Vorkommnisse“ verwiesen oder die Öffentlichkeit vor der „Gefahr“ gewarnt wurde, die angeblich von den Juden ausgehe. Fast überall wurden Schilder mit Aufschriften wie „Juden haben in diesen Anlagen keinen Zutritt“ aufgestellt. Der Stölpchensee, einer der Seen in der Umgebung Berlins, war das letzte öffentliche Schwimmbad, zu dem die Berliner Juden Zutritt hatten. Fritz und Friedel F. waren verheiratet und lebten in Berlin, wo Fritz Inhaber eines Lampengeschäfts war. Im Juni 1938 war das Wochenendhaus am Stölpchensee für die Familie noch immer ein Refugium von der Stadt und von antisemitischen Schikanen.

QUELLE

Institution:

Private Collection William J. Davidson

Original:

“From the Freudenthal Family Album”

Jüdische Schulen

Ungewollter Schutzraum jüdischer Identität

„Bialik teilt in seinem Aufsatz ,Halacha und Aggada’ eine Deutung mit, die er von Achad Haam gehört hat: ,...Wer auf den Geist achtet, wird auch aus ihr [dieser Mischna] zwischen den Zeilen das Rauschen des Herzens und die zitternde Sorge um das künftige Schicksal eines Volkes heraushören, das 'auf dem Wege geht,‘ und nichts mehr von seinem Besitz in der Hand hat als ein Buch, und dessen ganzer innerer Zusammenhang mit irgendeinem seiner Aufenthaltsländer nur auf seinem Geiste beruht.‘ “

Berlin

Für viele jüdische Kinder wurde der Schulbesuch unter den Nazis zur Hölle: Schon der Schulweg konnte zu einem Spießrutenlauf unter anti-jüdischen Kränkungen werden. Ausgrenzung durch Mitschüler und Lehrer war die Regel. Um den Kindern diese Qual zu ersparen, schickten Eltern, die es sich leisten konnten, ihre Kinder auf jüdische Schulen. Bis 1933 hatten die überwiegend assimilierten deutschen Juden wenig Interesse an eigenen Schulen, aber das feindselige Klima unter dem Naziregime ließ mehr und mehr Einrichtungen dieser Art entstehen. Dr. Elieser L. Ehrmann, ein Pädagoge und Mitarbeiter in der Schulabteilung der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, hatte seit 1936 Arbeitspläne für Lehrkräfte an jüdischen Schulen ausgearbeitet, die die Kenntnis der jüdischen Feiertage und des sie begleitenden Brauchtums vertiefen und damit eine positive jüdische Identität vermitteln sollten. Der hier gezeigte Auszug stammt aus Ehrmanns „Arbeitsplan für Omerzeit und Schawuot“, herausgegeben 1938 von der Reichsvertretung der Juden in Deutschland. In diesem Jahr fiel der erste Tag des Schawuot-Festes auf den 5. Juni.

Schneller und schneller

Leo Baeck wird 65

„Dieses Jahr wird ein schwieriges sein; das Rad dreht sich schneller und schneller. Es wird unsere Nerven und unsere Fähigkeit zu sorgfältigem Nachdenken auf die Probe stellen.“

Berlin

Bereits in April 1938 hatte Rabbiner Leo Baeck, der Präsident der Reichsvertretung der Juden in Deutschland und damit der Hauptrepräsentant des deutschen Judentums weitsichtig geschrieben: „Dieses Jahr wird ein schwieriges sein; das Rad dreht sich schneller und schneller. Es wird unsere Nerven und unsere Fähigkeit zu sorgfältigem Nachdenken auf die Probe stellen.“ Baeck hatte als Feldgeistlicher im Ersten Weltkrieg gedient und muss als Patriot vom erzwungenen Niedergang des deutschen Judentums tief getroffen gewesen sein. Angesichts der Verarmung weiter Teile der jüdischen Bevölkerung, der Beschneidung jüdischer Rechte und der Abdrängung der Juden an den Rand der Gesellschaft und keinerlei Aussicht auf Besserung war Leo Baecks 65. Geburtstag am 23. Mai vermutlich eine triste Angelegenheit.

Bereit für Deutschland

Psychische Bewältigungsversuche eines nationalistischen deutschen Juden

„Ich bin Jude! – Jude in verzweifelter Position: jüdischer Deutscher, der trotzt Allem, was ihm wiederfuhr- oder gerade dieserhalb-seine Deutschen Bindungen nicht abstreifen kann (…).“

Hildesheim/Berlin

Der Verfasser dieses Briefes ist ein junger Mann aus Hildesheim, Fritz Schürmann (später Frank Shurman), geboren 1915. Obwohl er lange vor der Machtübernahme der Nazis mit Antisemitismus zu kämpfen hatte, trat er 1934 dem „Deutschen Vortrupp“ bei, einer extrem nationalistischen Gruppierung junger deutscher Juden mit dem Motto „Bereit für Deutschland“, die den Nationalsozialismus als eine Kraft begrüßten, die den Untergang Deutschlands verhindere. Angesichts dieser Einstellung muss es für ihn besonders schmerzhaft gewesen sein, der bitteren Realität der Ablehnung durch die deutsche Gesellschaft gegenüber zu stehen. In dem Brief dankt er einem Herrn Dilthey in Berlin für die Auszeichnung, mit ihm Zeit verbracht zu haben und klärt ihn dramatisch über seine jüdische Identität auf: „Ich bin Jude! – Jude in verzweifelter Position: jüdischer Deutscher, der trotz allem, was ihm widerfuhr – oder gerade dieserhalb – seine deutschen Bindungen nicht abstreifen kann […].“ Nachdem ihm seine Identität als Deutscher durch das Naziregime verweigert wurde, kommuniziert er die lähmenden Auswirkungen der politischen Situation auf seine Psyche und die Absurdität des Gedankens, Deutschland verlassen zu müssen, um Deutscher sein zu können.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Frank M. Shurman, AR 25219

Original:

Archivbox 1, Ordner 25

„Jumheidi, heida“

Heinz Neumann feiert seine Bar-Mizwah

„Möge Gott Euch allen Gesundheit, Zufriedenheit und wieder glücklichere Zeiten schenken.“

Berlin

Es ist schwer vorstellbar, dass am Verfassen von Heinz Neumanns Tischrede für seine Bar Mizwah-Feier am 21. Mai nicht die leitende Hand eines Erwachsenen beteiligt war: Die Art wie der Junge seine Dankbarkeit dafür ausdrückt, dass ihm seine Eltern trotz der schweren Zeiten ein sorgenfreies Leben ermöglicht haben, wirkt kaum wie der Stil eines Dreizehnjährigen. Heinz verspricht, „die sittlichen Gebote des Judentums vor Augen zu haben“ und wünscht allen Gesundheit, Zufriedenheit und glücklichere Zeiten. Glücklicher Weise hatten eine Großmutter und eine Tante zu Ehren des Bar Mitzwah als Tafellied einen fröhlichen Text zur Melodie von „Jumheidi, heida“ verfasst, um für gute Laune zu sorgen, und sicher trug auch das Festmahl, gekrönt von einer “Fürst Pückler Bombe“, zur Hebung der Stimmung bei.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung von Neumann and Jacks Familie, AR 25580

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

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