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Zwischen Hammer und Amboss

Zunehmende Angst an der tschechisch-polnischen Grenze

„Bei uns hier an der Grenze ist es besonders arg. In Ostrau allein wurden allein [sic] 8000 Juden polnischer Staatszugehörigkeit binnen 3 Tagen ausgewiesen.“

Mährisch Ostrau

Bis jetzt war Lilly and Sim, einem Ehepaar in Mährisch Ostrau, größeres Leid erspart geblieben – wenigstens auf der persönlichen Ebene. Doch während täglich neue Gerüchte aufkamen, welche Stadt die Deutschen als nächstes besetzen würden, wuchs die Angst in der Stadt an der tschechisch-polnischen Grenze. Am schlimmsten war das Schicksal anderer Juden: in diesem Brief vom 10. Dezember 1938 erzählt Lilly ihren Freunden im Ausland von nicht weniger als 8000 Juden polnischer Herkunft, die man innerhalb von drei Tagen gezwungen hatte, die Stadt zu verlassen – manchmal nach 10, 20 oder sogar 40 Jahren am Ort. Ihr größter Wunsch – hinauszukommen – war schwer zu verwirklichen, und es war ihr unvorstellbar, sich als Landarbeiter einem Flüchtlingstransport in ein beliebiges Land “mit unmöglichem Klima” anzuschließen. Indessen stand Sim eine Beförderung bevor, doch angesichts der völligen Ungewissheit der Zukunft – da ein Abkommen zwischen Polen und der Tschechoslawakei noch ausstand, wusste das Paar zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, welche Staatsangehörigkeit es hatte – erweckte die Aussicht darauf keine große Freude.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 32

Politische und andere Erdbeben

Die Perspektive eines Kindes

„Es ist ein Glück, das ich schon mein Tagebuch angefangen habe! Denn wir leben ja in einer so abwechslungsreichen Zeit!“

Wien

Tage nach seinem 12. Geburtstag am 15. April 1938 musste Harry Kranner, zusammen mit all seinen jüdischen Schulkameraden, das Realgymnasium Kandlgasse in Wien verlassen. Im November waren Harrys Mutter Gertrude und sein Stiefvater Emil Fichmann damit beschäftigt, Vorbereitungen zur Auswanderung zu treffen. Harry zeigt sich sehr enthusiastisch über die Aussicht des Reisens und über die verschiedenen Ausrüstungsgegenstände, die er bekommt: im Eintrag für den 8. November in dem neuen Tagebuch, das ihm seine Mutter gegeben hat, damit er seine Auswanderungserfahrungen festhalten kann, berichtet er begeistert von seinen neuen Lederhandschuhen. Aber der größte Teil des Eintrags beschäftigt sich mit dem Erdbeben in der vergangenen Nacht.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Mord in Paris

Ein Akt der Verzweiflung

Paris

Am 3. November 1938 hatte Herszel Grynszpan, ein junger Jude polnischer Abstammung, Nachricht erhalten, seine Eltern und zwei Geschwister seien aus ihrem Wohnort Hannover nach Polen vertrieben worden. Das polnische Parlament hatte kürzlich ein Gesetz erlassen, laut dem Bürger, die seit fünf oder mehr Jahren im Ausland waren, ausgebürgert werden konnten. Aus Furcht, 70.000 polnische Juden würden unwiderruflich in Deutschland bleiben, hatte das Naziregime wenige Tage zuvor etwa 17.000 von ihnen deportiert. Herszel, dem bereits 1936 die Einreise nach Frankreich gelungen war, lebte zu diesem Zeitpunkt bei Onkel und Tante in Paris. Aufgebracht über das Schicksal seiner Landsleute, betrat er am 7. November die deutsche Botschaft, erschoss einen deutschen Karrierediplomaten, den 29jährigen Ernst vom Rath, und wurde sofort festgenommen.

Abschied im Schatten der Politik

In seinem Tagebuch beschäftigt sich Adolph Markus politischen Veränderungen und mit seinen Vorbereitungen zur Auswanderung

„Chamberlain und Daladier erklärten nach ihrer Rückkehr zu ihren Völkern, dass nun für lange Zeit gesichert ist und das mit Hitler vereinbart wurde, bei jeder eventuell noch kommenden Differenz wieder zu einer Konferenz zusammen zu treten.“

LINZ

Ende Oktober 1938 blickt Adolph Markus auf einen ereignisreichen Monat zurück: Nach der Münchener Konferenz, auf der Repräsentanten aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien beschlossen, die Tschechoslowakei habe ihre Grenzgebiete (Sudetenland) im Austausch für Frieden an Deutschland abzutreten, hatten deutsche Soldaten diese Gebiete besetzt, in der eine beträchtliche deutsche Minderheit von etwa 3 Millionen Menschen lebte. Wie Markus erklärt, hatte die Tschechoslowakei mit dem Sudetenland ihre Abwehrlinie verloren. Laut seinem Tagebucheintrag vom 31. Oktober wich die Erleichterung der Menschen in England und Frankreich über den verhinderten Krieg bald tiefem Misstrauen bezüglich Hitlers wahrer Absichten. Was seine persönlichen Angelegenheiten betrifft, so erwähnt der Verfasser einen Friseur-Lehrgang und Englisch-Unterricht, den er in Wien nimmt, offensichtlich in Vorbereitung auf die Auswanderung. In der Zwischenzeit war in Erwartung dessen, dass in Kürze alle Juden aus seiner Heimatstadt Linz ausgewiesen würden, die Hälfte des Inhalts seiner Wohnung verkauft worden.

Die Vertreibung polnischer Juden

Die Vertreibung polnischer Juden

Köln

Da es einen massiven Zustrom polnischer Juden aus dem von Nazi-Deutschland annektierten Österreich befürchtete, verabschiedete das polnische Parlament im März 1938 ein Gesetz, das es ermöglichte, Menschen die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, die mindestens fünf Jahre außer Landes waren. Am 15. Oktober erging eine Verfügung, wonach nur Personen mit einem Prüfvermerk des polnischen Konsulats die Einreise gestattet sei. Die Verfügung sollte am 30. Oktober in Kraft treten. Angesichts der Anwesenheit von weit über 70.000 polnischen Juden im Reichsgebiet entschloss sich das Regime zu schnellem Handeln: Im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“ vom 27. bis zum 29. Oktober wurden tausende polnischer Juden ausgewiesen. Viele dieser polnischen Staatsbürger hatten wenig oder überhaupt keine Verbindung zu ihrem Ursprungsland und nichts und niemanden, zu dem sie hätten zurückkehren können. Eines der Opfer der Aktion war Ida, die Haushälterin der Familie Schönenberg in Köln: Am 29. Oktober schreibt Dr. Schönenberg, seit drei Jahren Idas Dienstherr, an seinen Sohn Leopold in Palästina, wie sich die junge Frau mit gerade einmal 3 1/2 Stunden Vorwarnung bei der Polizei habe einfinden müssen. Ida war gebürtige Kölnerin und hatte einen Verlobten in Deutschland.

QUELLE

Institution:

NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Original:

Best. 46

Juden im Sudetenland Angriffen ausgesetzt

Angriffe auf Juden im Sudetenland nach dem Münchener Abkommen

„Der Plan zur Vertreibung Tausender Juden aus der Tschechoslowakei und die Einschränkung der wirtschaftlichen Tätigkeit der verbleibenden, skizziert durch den Minister ohne Geschäftsbereich Stanislav Bukovsky, wurde als Resolution des Ausschusses der Sokol-Vereine, der repräsentativen Körperschaft der tschechischen Jugendsportorganisation, in vollem Umfang verabschiedet.“

Prag

Bevor die Unterzeichner des Münchener Abkommens am 29. September 1938 verfügten, die Tschechoslowakei habe die überwiegend von Deutschen bewohnten Randgebiete, das Sudetenland, an Deutschland abzutreten, lebten dort zwischen 25,000 und 28,000 Juden. Gleich nach dem Einmarsch der Deutschen Anfang Oktober kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. Tausende wurden in die Flucht getrieben. Von den katastrophalen materiellen Folgen dieser Massenflucht berichtet die Jewish Telegraphic Agency am 25. Oktober: Der Verlust wurde auf mindestens 7 Milliarden Kronen in zurückgelassenen Gehältern und Besitz geschätzt. Um die Lage noch schlimmer zu machen, kam es seit München auch auf der tschechischen Seite zu offenem Antisemitismus – sowohl durch die Bevölkerung als auch von offizieller Seite.

Schwindende Fluchtwege

Geschlossene Grenzen, Ausweisungen

„Premierminister Jan Syrovy hat den Antrag zurückgewiesen, den Regierungsentscheid, Flüchtlinge aus Österreich zu deportieren, zu lockern.“

Prag

Seit dem „Anschluss“ hatte die Tschechoslowakei ihre Politik gegenüber Flüchtlingen aus Österreich, insbesondere gegenüber jüdischen, enorm verschärft. Die offiziellen Grenzübergänge waren österreichischen Juden verschlossen – viele waren gezwungen, ihren Weg in die Tschechoslowakei auf gefährlichen Pfaden über die Grüne Grenze zu bestreiten. Auch internationale diplomatische Interventionen, wie die der Liga der Menschenrechte, über die die Jewish Telegraphic Agency am 13. Oktober 1938 berichtete, konnten die Tschechoslowakei nicht von ihrem restriktiven Kurs abbringen. Sir Neill Malcolm, der Flüchtlingskommissar der Liga, hatte den tschechoslowakischen Premierminister dazu aufgerufen, die Praxis der Abschiebung österreichischer Flüchtlinge zu überdenken. Ohne Erfolg.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

„Czechs Refuse to Relax Policy on Refugees“

Source available in English

Antisemitismus auch in Italien

antisemitismus-auch-in-italien

„Die Ehe zwischen ,arischen‘ Italienern und Mitgliedern der hamitischen (nordafrikanischen), semitischen oder anderen ,nicht arischen‘ Rassen war verboten.“

Rom

Der faschistische Großrat Italiens – ein zentrales Organ des Mussolini-Regimes – veröffentlichte Anfang Oktober eine „Erklärung über die Rasse“, die an vielen Stellen an die Nürnberger Gesetze erinnert. Durch und durch antisemitisch, legte die Schrift zahlreiche Regelungen zur Ehe, zur italienischen Staatsbürgerschaft und zur Tätigkeit von Juden im italienischen Staatsdienst fest. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 9. Oktober, nur wenige Tage nach seiner Veröffentlichung, über das faschistische Regelwerk. Fortan sollten „Mischehen“ zwischen „arischen“ Italienern und „Mitgliedern der hamitischen (nordafrikanischen), semitischen oder anderen „nicht arischen“ Rassen“ verboten sein. Eine weitere Regel traf besonders auch diejenigen Juden hart, die aus Österreich und Deutschland nach Italien emigriert waren: Alle Juden, die sich nach 1919 in Italien niedergelassen hatten, sollten die italienische Staatsbürgerschaft verlieren und ausgewiesen werden.

 

 

Schlechte Aussichten

Flüchtlinge in der Tschechoslowakei

„Keiner der Flüchtlinge darf natürlich arbeiten. Unter ihnen sind Geschäftsleute, Fachkräfte und Handwerker, von denen viele früher wohlhabend waren. Ohne materielle Rücklagen, oft abgeschnitten von Familie und Freunden, die sie zurücklassen mussten, vor sich eine unsichere Zukunft, wird diese Flüchtlingkolonie bald zu einem psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Problem.“

Brünn

Die Jewish Telegraphic Agency beschrieb die Situation österreichischer Flüchtlinge in der Tschechoslowakei mit Weitsicht: Ändere sich nichts an ihren prekären Umständen (Arbeitsverbot, Mittellosigkeit, fehlende Bleibe-Perspektiven…), würde die Situation schon bald „zum psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Problem“ werden. Die JTA ging davon aus, dass sich Mitte September 1938 mehr als 1.000 Flüchtlinge in der Tschechoslowakei aufhielten, die meisten von ihnen in Brünn, knapp 50 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Nun sah eine Polizeimaßnahme vor, für Personen, die bereits länger als zwei Monate in der Tschechoslowakei waren, eine Kaution von 2.000 tschechischen Kronen (70 Dollar) zu verlangen – sonst drohte ihnen eine Abschiebung. Wer das Geld auslegen sollte, war vollkommen unklar. Weder die jüdische Gemeinde Brünns noch die Liga der Menschenrechte hatten die Mittel dazu.

Falsche Großzügigkeit

Zwang zur Ausreise aus dem Burgenland

„Zweihundert jüdische Einwohner des Burgenlandes wurden ,eingeladen‘, Österreich unterstützt von einem Auswanderer-Schleuser-Projekt zu verlassen.“

Eisenstadt

„Kostenlos“ – Es mag wie ein generöses Angebot daherkommen, aber hinter dem „kostenlosen“ Angebot steckte eiskalte Kalkulation: Nach dem Willen der Nazis sollten alle noch verbliebenen Juden im österreichischen Burgenland die Region verlassen. Säuberung hieß das im Nazi-Jargon. Das Burgenland war die erste österreichische Region, in der man damit begonnen hatte, die jüdische Bevölkerung nach dem „Anschluss“ systematisch zu enteignen und zu vertreiben. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 12. September, dass von den 3.800 Juden, die zuvor im Burgenland gelebt hatten, 1.900 bereits vertrieben, 1.600 Personen vorübergehend nach Wien geflohen und 300 weitere noch in Ghettos im Burgenland selbst interniert seien. Das „Angebot“ der Schleuser-Gruppe wurde laut JTA finanziell von der Gestapo unterstützt – mit 100.000 Mark aus dem Besitz der zuvor enteigneten Juden in der Region.

Im Gedenken

Ludwig Schönmanns Goldene Jahre nehmen eine dunkle Wendung

„Trauer-Album dem Andenken meines teueren Vaters Ludwig Schönmann“

Wien

Ludwig Schönmann, der 1865 in Neu-Isenburg in Deutschland geboren wurde, war als junger Mensch nach Österreich gekommen, was ihm die ersten fünf Jahre des Hitlerismus ersparte. Doch von dem Tag an, als die Wehrmacht im März 1938 in Österreich einmarschierte, um das Nachbarland zu annektieren, war der über Siebzigjährige gezwungen, Ähnliches mitzuerleben, wie die Juden in Deutschland – nur in schnellerer Abfolge: Jüdische Geschäfte wurden zerstört und geplündert, ihre Besitzer enteignet, andere Juden öffentlich gedemütigt, Glaubensgenossen aus dem Burgenland vertrieben, wo sich die ersten Juden im 13. Jahrhundert niedergelassen hatten, jüdische Studenten und Dozenten wurden aus der Universität verdrängt, die berüchtigten Nürnberger Gesetze eingeführt, was zu der Entfernung der Juden aus dem öffentlichen Dienst führte, und anderes mehr. Die erste Seite eines Gedenkalbums zu Ludwig Schönmanns Ehren nennt den 24. Juli als seinen Todestag.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Sammlung:

Traueralbum für Ludwig Schönmann

Original:

Archiv. Inv. Nr. 1094

Aus dem „Roten Wien“ vertrieben

Die Nutzung öffentlichen Wohnungsbaus verwehrt, wird auch die Einreise in die Schweiz nicht gestattet

„Indem wir uns auf Ihre Eingabe vom 10. Juni 1938 berufen, müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass Ihrem Gesuche um Bewilligung der Einreise in die Schweiz zur Zeit nicht entsprochen werden kann.“

Bern/Wien

Für einen eingefleischten Sozialdemokraten wie den Journalisten, Übersetzer und Schriftsteller Maurus (Moritz) Mezei, müssen die Veränderungen, die unmittelbar nach der ungehinderten Annexion des Landes durch Nazi-Deutschland in Österreich Platz griffen, doppelt problematisch gewesen sein. Während der Ära des „Roten Wien“, der ersten Zeit demokratischer Regierung der Stadt von 1918 bis 1934, war Familie Mezei in den Karl-Marx-Hof, einen Gemeindebau (Komplex von Sozialwohnungen) gezogen. Von 1938 an waren „nicht-arische“ Familien wie die Mezeis mit der Ausweisung aus dem Komplex bedroht. Während nach dem Regierungswechsel anfänglich der Mieterschutz auch für Juden in Kraft blieb, galt er nicht für Gemeindebauten. Am 10. Juni hatte Mezei die Einwanderung in die Schweiz beantragt, doch die Antwort, geschrieben am 14. Juli, fiel negativ aus: Nur wenn er ein Einreisevisum für ein überseeisches Land beschaffe, würden die Schweizer Einwanderungsbehörden seinen Fall erneut überprüfen und ihm möglicherweise vorläufiges Asyl gewähren.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Brief der Eidgenössischen Fremdenpolizei an Maurus Mezei ; Inv. Nr. 20991/ 26

Ausweisung binnen 24 Stunden

Die Situation ist prekär für jüdische Immigranten in Jugoslawien

„Ich sage Euch das eine, der Antisemitismus macht nicht in Deutschland, oder Österreich, oder Ungarn, oder Rumänien, oder Jugoslavien halt, wenn nicht ein Wunder geschieht oder durch eine Katastrophe die Menschen aufgerüttelt werden.“

BELGRAD/NEW YORK

Während der Antisemitismus in Jugoslawien in keiner Weise ein neues Phänomen war – tatsächlich hatte seit Ende des Ersten Weltkriegs das gesamte politische Spektrum Anlässe zu judenfeindlichen Auslassungen gefunden – verschlechterte sich die Situation in den dreißger Jahren unter dem Einfluss der Ereignisse in Deutschland. Der Nürnberger Fritz Schwed hatte, was den vorläufigen Zufluchtsort seiner Familie betraf, keine Illusionen: In diesem langen Brief an seinen alten Freund aus Nürnberger Tagen, Fritz Dittmann, der nach New York geflohen war, beschreibt Schwed die prekäre Situation von Emigranten in Jugoslawien, die mit einer Vorwarnung von bloßen 24 Stunden ausgewiesen werden konnten. Selbst ältere und bereits längere Zeit im Lande ansässige Menschen waren von dieser grausamen Regelung nicht ausgeschlossen. Emigranten bekamen keine Arbeitserlaubnis, und wenn sie beim Übertreten des Verbots ertappt wurden, mussten sie mit sofortiger Ausweisung rechnen. Mit dem Fazit „Es ist für deutsche Juden kein Platz mehr in Jugoslawien und wie mir scheint, auch nirgends mehr in Europa“, begann Schwed, die Möglichkeit einer Emigration nach Australien oder Südamerika auszukundschaften.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gerda Dittmann, AR 10484

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Vogelfrei

Juden aus Burgendland vertrieben

„Man lernt hier, was wirklich wichtig ist im Leben. Den Leuten spielt auch Geld keine Rolle mehr, auch das ist unwichtig geworden.“

Eisenstadt

Die jüdische Gemeinde in Eisenstadt im österreichischen Burgenland war nie besonders groß gewesen, aber als älteste Gemeinde in der Gegend reichte sie bis ins 14. Jahrhundert zurück und hatte ein reiches kulturelles Leben. Im Augenblick der Annexion Österreichs an Deutschland am 12. März 1938 wurden Juden vogelfrei: Unter dem zutiefst rassistischen Gauleiter Tobias Portschy war das Burgenland der erste Teil Österreichs, der seine jüdische Bevölkerung vertrieb. Um ihren alten Eltern mit den Vorbereitungen zum Umzug zu helfen, hielt sich Hilde Schlesinger im Juni 1938 in Einsenstadt auf. In ihrem Geburtstagsbrief an ihre Tochter Elisabeth in Amerika bemerkt sie, diese sei „zu einem echten jüdischen Kind geworden, zu einem nicht sesshaften, zum Wandern immer bereiten“, im Gegensatz zu ihrer eigenen emotionalen Verbundenheit zu Eisenstadt, aus dem sie sich nun entwurzeln musste. Frau Schlesinger Schiff hofft, ihre Eltern werden bald die Einreisegenehmigung in die Tschechoslowakei erhalten, aber noch ist die bürokratische Seite nicht geklärt. Es ist offensichtlich, wie unangenehm sie die Erpichtheit der Nichtjuden auf Schnäppchen berührt, die sie als „Leichenraub“ bezeichnet, während Ihre Familie gezwungen ist, einen Großteil ihres Eigentums zu veräußern.

Im Niemandsland

Der Völkerbund interveniert für 56 Vertriebene

Belgrad

Die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland im März 1938 hatte der tausendjährigen Geschichte jüdischen Lebens im Burgenland, Österreichs östlichstem Bundesland, ein jähes Ende bereitet: Die Vertreibung der zahlenmässig kleinen jüdischen Bevölkerung, ausgeführt durch SS, lokale Nazi-Beamte und zivile Kollaborateure, setzte sofort ein. Dieser Artikel der Jewish Telegraphic Agency berichtet über die Intervention des Völkerbunds für 56 Vertriebene, die im „Niemandsland“ im Grenzgebiet zwischen Österreich und Jugoslawien feststeckten. Der Hochkomissar des Völkerbunds für deutsche Flüchtlinge hatte um die vorübergehende Aufnahme der nun Heimatlosen durch Jugoslawien gebeten, der eine permanente Neuansiedlung folgen sollte.

Welche Höhen man erreichen könnte

Der Wunsch nach Selbstbestimmung angesichts jüdischer Entrechtung

„Empört zeigt sich wohl die ,zivilisierte‘ Welt über die Barbarei der Deutschen, die wahrhaft wenig sanft mit uns umgehen. Was aber tun sie für hunderte von burgenländischen Juden, die zum Beispiel auf einem Schlepper mitten auf der Donau hausen oder auf einem Fleckchen Land zwischen Deutschland und Jugoslawien?”

Wien

Eineinhalb Monate nach dem „Anschluss“ erscheint Paul Steiner noch immer fassungslos: Alles kommt ihm so unglaublich vor, dass „selbst die eigenen Worte erstaunlich und zweifelhaft werden“. Er fragt sich, was die Außenwelt angesichts der deutschen Barbarei für die Juden täte, besonders für die Juden des Burgenlands, die gleich nach dem „Anschluss“ brutal vertrieben worden und in vollkommen unzulänglichen Unterkünften gestrandet waren, während sich ihre früheren Nachbarn ihren Besitz aneigneten. Er schreibt eine Vision jüdischer „Rache“ nieder, die gefordert werden soll, indem die Welt dadurch beschämt wird, dass man ihr zeigt, welche Höhen Juden erreichen können, wenn man ihnen die Möglichkeit zur Selbstbestimmung gibt.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Original:

Sammlung Paul Steiner, AR 25208

Entrechtung in Österreich, Freilassung in Dachau

Die Nazis in Österreich erlassen eine Flut an neuen Bestimmungen

Wien

Wenig mehr als einen Monat nach der Machtübernahme der Nazis in Österreich lässt eine Kaskade neuer Bestimmungen und Schritte, die von den neuen Machthabern eingeleitet worden sind, wenig Raum für Optimismus: Die Jewish Telegraphic Agency berichtet für den 14. April aus Wien, es sei geplant, Juden innerhalb von 50 Kilometern aus den Grenzgebieten zur Tschechoslowakei zu vertreiben, österreichische Geschäfte würden auf eigene Kosten der Obhut von Nazi-Kommissaren anvertraut (laut der JTA ist diese Bestimmung im Fall hunderter von Geschäften in jüdischem Besitz bereits in Kraft getreten) und es sei ein Gesetz zur Sicherstellung rassischer Reinheit eingeführt worden. Der eine positive Punkt in dieser umfangreichen Meldung ist die Aussicht darauf, dass alle zur Zeit in Dachau internierten Juden nicht nur freigelassen, sondern auch Einreisegenehmigungen nach Palästina erhalten sollen.

Ausgebürgert

Nach Deutschland eingebürgerte Juden verlieren ihre Staatsbürgerschaft

Worms

Seit dem Inkraftreten des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft im Juli 1933 konnten Einbürgerungen, die zwischen dem Ausruf der Republik am 9. November 1918 und dem Machtantritt der Nazis am 30. Januar 1933 vollzogen worden waren, widerrufen und „Unerwünschten“ die Staatsbürgerschaft entzogen werden. Das Gesetz zielte auf politische Gegner und Juden ab: 16.000 östeuropäische Juden hatten in dem relevanten Zeitraum die deutsche Staatsbürgerschaft erworben. Unter denjenigen, deren Namen auf der Ausbürgerungsliste vom 26. März 1938 erscheinen, sind Otto Wilhelm, seine Frau Katharina und die drei Kinder des Paares, wohnhaft in Worms und allesamt in Deutschland geboren.

Keine Hoffnung im Osten

Das polnische Parlament plant, Juden in Polen des Landes zu verweisen.

Der Referent Walewski teilte mit, dass in den Jahren 1926 bis 1936 im Durchschnitt jährlich 18.000 Juden, d.h. 60 Prozent des natürlichen Zuwachses der jüdischen Bevölkerung, das Land verlassen hätten. Er forderte jedoch die jährliche Auswanderung von mindestens 100.000 Juden und schätzte die Zahl derer, die zur Auswanderung gebracht werden müssen, auf 1 Million.

Warschau

Während sich die Situation der Juden in Deutschland von Tag zu Tag verschlechterte, machte sich auch in anderen europäischen Ländern der Antisemitismus breit. Im benachbarten Polen wurden antisemitische Stimmen im öffentlichen Leben immer lauter. Wie die C.V.-Zeitung, das Organ des Zentralvereins der Juden in Deutschland berichtete, zeigte das Unterhaus des polnischen Parlaments, der Sejm, seine anti-jüdische Gesinnung in Form eines Plans, die Juden aus dem Land zu vertreiben. Es wurde die Auswanderung von jährlich mindestens 100.000 Juden gefordert. Neben Palästina wurde auch Madagaskar als Aufnahmeland diskutiert. Ministerpräsident Sławoj Składkowski warf den Juden vor, sie selbst seien verantwortlich für die „unerfreulichen Ereignisse“ (womit er vermutlich die zahlreichen Fälle physischer Gewalt gegen Juden meinte), da sie nicht genug Verständnis für die polnischen Bauern an den Tag legten, die gleich den Juden selbst nach einem höheren Lebensstandard strebten.

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