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Glühende Empfehlung

Eine jüdische Buchhalterin verliert ihren Job

„Ihr Ausscheiden aus unserer Firma erfolgt im Zusammenhang mit der durchgeführten Arisierung unseres Unternehmens. Wir wünschen Fräulein Sand das Allerbeste auf ihrem ferneren Lebenswege.“

LINZ

Obwohl die Nazipartei in Österreich vor der Annexion des Landes an Nazideutschland illegal war, fiel die Nazidoktrin in Linz auf fruchtbaren Boden: Der „Österreichische Beobachter“, ein weitverbreitetes illegales Naziblatt, das in der Stadt herausgegeben wurde, hatte bereits 1937 zu einem Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen. Zusätzlicher Schaden wurde jüdischen Unternehmen zugefügt, indem sowohl ihre Namen als auch die ihrer nicht-jüdischen Kunden veröffentlicht wurden. Als im Zuge des „Anschlusses“ im März 1938 deutsche Soldaten in die Stadt einmarschierten, säumten tausende Einwohner der Stadt die Straßen und hießen sie begeistert willkommen. Wie um verlorene Zeit aufzuholen, begannen die Nazis umgehend, sich jüdische Geschäfte anzueignen, manchmal innerhalb von Tagen. Nachdem die 24-jährige Melitta Sand von ihrem Posten als Bürokraft in der nun „arisierten“ Weinbrennerei „Camise & Stock“ entfernt worden war, bekam sie ein überraschend herzliches Empfehlungsschreiben, in dem es unter anderem hieß, sie habe sich durch ihre Arbeit das uneingeschränkte Vertrauen und die vollste Zufriedenheit der Firma erworben.

Mit einem Anstrich der Legalität

Juden müssen nun Identifizierungskarten bei sich tragen

„Der Besitz der Karte ist Pflicht für jeden Juden und für jeden ,Arier‘ im militärpflichtigen Alter, aber freiwillig für alle anderen Arier.‘“

Berlin

Laut Erlass des Innenministers Frick am 22. Juli 1938 waren in Deutschland Kennkarten zur Verwendung im Inland eingeführt worden. Frick, von Hause aus Jurist, versah konsequent die anti-demokratischen, anti-jüdischen Maßnahmen des Regimes mit dem Anstrich der Legalität. Es kann daher keine große Überraschung gewesen sein, als bereits am 23. Juli geklärt wurde, was am Vortag vage belassen worden war („Der Reichsminister des Innern bestimmt, welche Gruppen von deutschen Staatsangehörigen und in welchem Umfang diese Gruppen dem Kennkartenzwang unterliegen.“): Abgesehen von nicht-jüdischen Männern in militärpflichtigem Alter waren es in erster Linie Juden aller Altersgruppen, die Kennkarten beantragen mussten. Der Zweck der Kennkarten war, Juden klar zu identifizieren und zu stigmatisieren und sie zusätzlich vom Rest der Bevölkerung zu trennen. In einer Mitteilung am 28. Juli berichtet die Jewish Telegraphic Agency über diese neueste juristische Untat.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

“Reich Jews from Age of 3 Months Must Carry Identity Cards”

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Die Abreise eines Gelehrten

Ismar Elbogen, ein großer Geschichtler des deutschen Judentums, verlässt sein Heimatland

„Professor Ismar Elbogen, ein bekannter jüdischer Gelehrter, bricht auf in die Vereinigten Staaten, um sich dort dauerhaft niederzulassen.“

BERLIN

Dank Jahrzehnten wissenschaftlicher Arbeit, besonders seiner grundlegenden Werke „Die Religionsanschauungen der Pharisäer“ (1904) und „Der Jüdische Gottesdienst in seiner Entwicklung“ (1913), war Prof. Ismar Elbogen international gut bekannt als er 1938 nach Jahren des Zögerns beschloss, auszuwandern. Seine Bemühungen als Vorsitzender des Erziehungsausschusses der Reichsvertretung der Juden in Deutschland waren durch das Regime erheblich behindert worden, und sein letztes in Deutschland veröffentlichtes Buch, „Die Geschichte der Juden in Deutschland“ (1935) war durch das Propagandaministerium massiv zensiert worden. In den zwanziger Jahren hatten ihm verschiedene Hochschulen in den Vereinigten Staaten (Jewish Institute of Religion, Hebrew Union College in Cincinnati; einen Ruf an die Columbia University hatte er abgelehnt) Lehraufträge erteilt, so dass er vielfältige Kontakte nach Übersee besaß, als die Zeit kam, Deutschland zu verlassen. In der heutigen Ausgabe informiert die Jewish Telegraphic Agency ihre Lehrer über die bevorstehende Abreise des Gelehrten.

Évian enttäuscht

Keine Zugeständnisse seitens der internationalen Gemeinschaft

„Wie immer sind wir Juden lediglich Objekte, nirgends gleichberechtigte Partner. Das festzustellen, ist am 34. Jahrzeittage Theodor Herzls besonders schmerzlich, aber die Tatsache, dass in Évian an 40 jüdische Organisationen als Zaungäste aufmarschiert waren, kennzeichnet zur Genüge, wie wenig auch wir Juden - sogar in den Fragen unserer eigenen Existenz als Volk - Fortschritte gemacht haben.“

Évian-les-Bains

Nach dem „Anschluss“ wurde das Problem der Flüchtlinge aus Deutschland noch dringender. Um das Thema in Angriff zu nehmen, rief US-Präsident Franklin D. Roosevelt zu einer internationalen Konferenz auf, die im Juli 1938 in Évian gehalten werden sollte. Die Konferenz wurde von der jüdischen Öffentlichkeit in Deutschland mit großen Hoffnungen erwartet, doch infolge der Weigerung der internationalen Gemeinschaft, die Einwanderungsquoten den tatsächlichen Bedürfnissen anzupassen, war der Effekt von Évian äußerst begrenzt. Dennoch versuchte das Jüdische Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen, positive Resultate zu präsentieren, indem es beispielsweise auf die Bereitschaft einiger südamerikanischer Länder hinwies, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Ungeachtet des spürbaren Versuchs, die Hoffnung nicht aufzugeben, zeugt der unterschwellige Ton dieses Leitartikels in der Ausgabe des Jüdischen Gemeindeblatts vom 23. Juli nicht von übermäßigem Optimismus.

Verhalten optimistisch

Reichsvertretung der Juden in Deutschland bewertet Évian-Konferenz

„Die Auswanderungspolitik der Reichsvertretung ist korrekt. Darüber hinaus macht die Stellungnahme deutlich, dass die Einrichtung eines internationalen Flüchtlingshilfswerks zu einer Zunahme und Beschleunigung der Auswanderung führen würde.“

Berlin

Laut Bericht der Jewish Telegraphic Agency an diesem Tag des Jahres 1938 veröffentlichte die Reichsvertretung der Juden in Deutschland fünf Tage nach Ende der Konferenz von Évian (6.-15. Juli) ihre erste Stellungnahme zu den Ergebnissen der Zusammenkunft in der Jüdischen Rundschau, dem Organ der zionistischen Bewegung. Die Organisation äußerte sich verhalten optimistisch. Sie prophezeite, das Internationale Flüchtlingskomitee, das während der Konferenz mit dem Ziel gegründet worden war, permanente Neuansiedlung voranzutreiben, werde positive Auswirkungen auf die Auswanderung haben.

Nichts geht mehr

Visa-Stopp am US-amerikanischen Konsulat in Berlin

Berlin

Am 19. Juli berichtet die Jewish Telegraphic Agency, dass das US-amerikanische Generalkonsulat in Berlin einen Annahmestopp für neue Visaanträge verhängt hat. Nach Angaben des Konsulats hatten sich zuletzt etwa 2000 Personen pro Monat für Visa beworben. Aufgrund der wachsenden Nachfrage entschloss sich das Konsulat nun dazu, zunächst die bereits anhängigen Anträge abzuarbeiten. Zwar gibt es eine Warteliste für neue Bewerber, die oft mühsam beschafften Bürgschaften und andere Dokumente, die sie sich bereits besorgt hatten, werden allerdings nicht mehr angenommen. All dies bedeutet, dass Juden, die ihre Ausreise aus Deutschland oder dem annektierten Österreich planen, in 1938 keine Chance mehr haben, sich um ein Visum zu bewerben. Es kann angenommen werden, dass die 60.000 bis 70.000 Bewerbungen, die am 19. Juli im Konsulat darauf warten, bearbeitet und beschieden zu werden, die jährliche Quote der USA von 27.370 Visas für Bewerber aus dem Deutschen Reich bereits bei Weitem überstieg.

Das Loew-Sanatorium

Jüdische Ärzte werden arbeitslos als das bekannte Sanatorium schließt

„Zahlreiche jüdische Ärzte in Wien haben durch die Schließung des berühmten Loew-Sanatoriums ihren Lebensunterhalt verloren.“

Wien

Bis zu seiner zwangsweisen Schließung, von der die Jewish Telegraphic Agency am 7. Juli 1938 berichtete, diente das Loew-Sanatorium als Privatkrankenhaus für Wohlhabende in Wien. Prominente jüdische und nicht-jüdische Patienten kamen hierher, um sich behandeln oder operieren zu lassen. Unter den vielen illustren Patienten der Einrichtung waren der Philosoph Ludwig Wittgenstein, der Komponist Gustav Mahler, der Maler Gustav Klimt und die Gesellschaftsdame und Komponistin Alma Mahler-Werfel. Der Bericht der JTA erwähnt insbesondere die jüdischen Ärzte, die infolge der Schließung des Krankenhauses ihre Anstellung verloren. Laut der von den Nazis aufgestellten Kriterien waren unter Wiens 4900 Ärzten nicht weniger als 3200 Juden und „Judenstämmlinge“, während etwa ein Drittel der Ärzte im ganzen Land jüdischer Abkunft waren.

„Für 100% Erholung“

Die Catskills locken deutschsprachige jüdische Immigranten zu einem Ausflug ins Grüne

„Einziges von deutschen Juden geführtes Haus in Fleischmanns.“

Fleischmanns, New York

In den zwanziger Jahren begannen sich die Catskill-Berge zu einem Feriengebiet zu entwickeln, das starken Zuspruch fand unter jüdischen Einwanderern, die anderswo oft nicht willkommen waren. In den dreißiger Jahren begann sich daher der Spitzname „Borscht Belt“ für die Region durchzusetzen. Nach bescheidenen Anfängen – osteuropäisch-jüdische Farmer vermieteten Zimmer an ruhebedürftige Stadtmenschen – wurden im Laufe der Zeit aus Privatpensionen kleine Hotels und aus manchen der kleinen Hotels große Hotels. Während Juden osteuropäischer Herkunft das Gros der Gastgeber und der Feriengäste ausmachten, führten die politischen Ereignisse der dreißiger Jahre zu einer Zunahme der Anzahl deutschsprachiger Juden, die den Wunsch verspürten, die Hektik der Großstadt mit der entspannten Atmosphäre der Catskills auszutauschen. In der Juli-Ausgabe des „Aufbau” bot das Park Plaza Hotel in Fleischmanns, New York (benannt nach Ch.L. Fleischmann, einem ungarischen Juden, der im 19. Jahrhundert die kommerzielle Produktion von Hefe in den Vereinigten Staaten eingeführt hatte) Urlaub über das Wochenende am US-amerikanischen Unabhängigkeitstag mit täglich vier Mahlzeiten und einem besonderen Dinner am 4. Juli an. Es ist anzunehmen, dass die Aussicht darauf, ihr neues Land im Kreis anderer europäischer Juden in einem Etablissement mit „anerkannt vorzüglicher amerikanischer, ungarischer und Wiener Küche“ zu feiern, für die dankbaren Neuankömmlinge attraktiv war.

Radio, Grammophon, Zeitungen, Belletristik

Die Kunst des Fremdsprachenlernens

„Für den Anfänger ist der "native instructor" nur dann der förderlichste, wenn er hinreichende Kenntnisse der Muttersprache des Schülers hat, um die diesem entgegenstehenden Schwierigkeiten zu erkennen und genügend didaktische Schulung, um mit den geeigneten Mitteln ihrer Herr zu werden.“

NEW YORK

In seinem Artikel „Zehn Gebote für Sprachbeflissene“, der in der Juli-Ausgabe des „Aufbau“ veröffentlicht wurde, empfiehlt Dr. Eugene I. Stern, sich des gesamten Instrumentariums zu bedienen, das dem modernen Englisch-Schüler zur Verfügung steht: Radio, Grammophon, Zeitungen, Belletristik. Die Genauigkeit, mit der er beschreibt, was er für die vielversprechendste Methode des Sprachstudiums hält, entspricht jedem Stereotyp, das mit deutschen Juden in Verbindung gebracht wird. Dr. Stern verspricht keine Patentlösungen, und seine Einschätzung der Aussichten des Sprachschülers ist nicht besonders optimistisch: Gleich eingangs erklärt er, das Meistern einer Fremdsprache sei ein nicht zu erreichendes Ziel. Nichtsdestotrotz erlernten jüngere deutsch-jüdische Einwanderer die Sprache in der Regel innerhalb weniger Jahre, im Gegensatz zu ihren Landsleuten in Palästina, die sich die neue Sprache notorisch langsam und zögerlich aneigneten. Verschiedene Institutionen in Amerika waren ihnen bei ihren Bemühungen behilflich, so z.B. der National Refugee Service und das Adult Education Council, YMCA und YWCA, die den Neuankömmlingen kostenlosen Englischunterricht anboten.

Der sechste Geburtstag im Exil

Billy Wilder arbeitet für Paramount Pictures in den USA

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HOLLYWOOD

Samuel (später „Billy“) Wilder hatte seinen eigenen Kopf: 1906 als Kind einer österreichisch-jüdischen Familie in der galizischen Stadt Sucha Beskidzka geboren, wurde von ihm erwartet, dass er ins väterliche Geschäft einsteigen würde, das hauptsächlich aus einer Kette von Bahnhofslokalen bestand. Doch nach dem Realgymnasium und einem kurzen Versuch des Jura-Studiums (er sprang nach drei Monaten ab) in Wien, entschloss er sich, seinen eigentlichen Neigungen zu folgen: Bei der Zeitung „Die Stunde“, einer Boulevardzeitung von zweifelhaftem Ruf, bekam er die erste Gelegenheit, sein Schreibtalent zu üben. 1926 ergab sich für ihn die Möglichkeit, nach Berlin zu ziehen, wo er freiberuflich bei verschiedenen Boulevardzeitungen arbeitete und mit dem Schreiben von Drehbüchern begann. Nach der Machtübernahme der Nazis zog Wilder nach Paris und bekam die Gelegenheit, seinen ersten Film, „Mauvaise graine“, zu inszenieren. 1934 reiste er mit einem Besuchervisum in die Vereinigten Staaten ein. Ab 1936 stand er bei Paramount Pictures unter Vertrag. Der 22. Juni war sein 32. Geburtstag – der sechste, den er im Exil feierte.

QUELLE

Institution:

The Oscar Academy Award

Sammlung:

Billy Wilder

Eine Wochenzeitung als Rettungsanker

Die „Aufbau“ liefert Tipps zum Neuanfang

„159. Str., 575 West, Apt. 22—Schön möbliertes Frontzimmer für 1 oder 2 Personen, fliessendes Wasser, preiswert.“

New York

Als der Zustrom von Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland zunahm, wurde aus dem, was als Jubiläumsheft des German Jewish Club begonnen hatte, schnell eine professionelle Publikation und ein Rettungsanker für die Entwurzelten: Die Wochenzeitung war mit ihrer breiten Auswahl kultureller und sportlicher Aktivitäten unter Schicksalsgenossen ein seelischer Anker, bot aber auch praktische Hilfe bei der Niederlassung im neuen Land. Diese Ausgabe des „Aufbau“ vom Juni 1938 zeichnet sich durch eine große Anzahl von Wohnungsangeboten aus, meist für voll möblierte Zimmer, oft im Stadtteil Washington Heights im Nordteil Manhattans, wodurch Besitzern oder Hauptmietern etwas zusätzliches Einkommen eingebracht wurde. Gleichzeitig wurde erschwinglicher Wohnraum für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt, die in der Regel mit sehr wenig Geld und Besitz ankamen.

Die Menge sieht schweigend zu

Antisemitische Parolen an Schaufenstern

„Das Wort ,Jude‘ war in breiten, roten Buchstaben an die Fenster sämtlicher jüdischer Läden geschmiert, manchmal mit einem Davidstern dazu, um es fest in den Köpfen der Berliner zu verankern, dass dies Läden seien, die es um jeden Preis zu meiden galt.“

Berlin

§17 der Dritten Verordnung zum Reichsbürgergesetz hatte die Kennzeichnung aller jüdischen Betriebe zu einem noch festzulegenden Zeitpunkt gefordert. Die Nazis verloren keine Zeit: Laut diesem Artikel der Jewish Telegraphic Agency wurden bereits Tage später Schaufenster in ganz Berlin systematisch mit dem Wort „Jude“ und mit antisemitischen Parolen beschmiert, wobei überall die gleiche, schwer zu entfernende rote Farbe benutzt wurde. Es stand außer Zweifel, dass die Aktion mit dem Segen der Machthaber durchgeführt wurde. Während kein Widerstand vonseiten der nichtjüdischen Bevölkerung verzeichnet wird, versäumt der Korrespondent nicht, darauf hinzuweisen, dass, im Gegensatz zu Wien und den weniger wohlhabenden Teilen Berlins, die Menge auf dem Kurfürstendamm schweigend, ohne größere Begeisterung zugesehen habe. Die Spannung unter den Juden wurde noch verstärkt durch Berichte von dem Vorhaben, Arbeitslager zu errichten, um dort die in den jüngsten Razzien festgenommenen Juden zur Zwangsarbeit heranzuziehen.

Post aus Shanghai

Ein deutsch-jüdischer Auswanderer berichtet

„Es gibt nicht einen einzigen Juden hier, der sich nicht ernähren kann.“

Schanghai/Berlin

Zu einer Zeit, als mehr und mehr Juden den dringenden Wunsch verspürten, das Land zu verlassen, muss dieser Brief eines deutsch-jüdischen Auswanderers in Shanghai, gerichtet an die „Herren vom Hilfsverein“, zukünftige Auswanderer mit neuer Hoffnung erfüllt haben: Der Schreiber dankt dem Hilfsverein überschwänglich für die Beratung und berichtet begeistert von der Vielzahl beruflicher Optionen, die Einwanderern an seinem neuen Standort zur Verfügung stehen: „Voraussetzung ist natürlich, dass man irgend etwas können muss und intensiv arbeiten kann.“ Seiner Einschätzung nach waren Musiker, Ärzte und Kaufleute stark gefragt und die Situation für Sekretärinnen und Stenotypistinnen besonders vielversprechend – unter der Bedingung, dass sie über perfekte Englischkenntnisse verfügten, was unter deutschen Juden in keiner Weise selbstverständlich war. Die Neuankömmlinge waren nicht die einzigen Juden im Land: Etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es eine sephardische Gemeinde, und seit Anfang des 20. Jahrhunderts, dann verstärkt durch den Zusammenbruch des Zarenreichs, hatten sich aschkenasische Juden in der Stadt angesiedelt.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin

Original:

Vol 28, Nr. 25, S. 5.

Die Angst vor Freigeistern

Nationalsozialistische Spitzel im öffentlichen Raum

„Unter den von der Polizei aufgesuchten Gaststätten waren das Café Trump, eines der beliebtesten Cafes der Stadt, wo ein halbes Dutzend Juden aufgegriffen wurden, und Café Meudtner.“

Berlin

Am 17. Juni berichtet die Jewish Telegraphic Agency von erneuten Durchsuchungsaktionen der Nazibehörden in den letzten vier Tagen in Berlin und anderswo im Land, bei denen allein zwischen dem 13. und dem 17. Juni 2000 Juden festgenommen worden seien. Während der Weimarer Republik hatte es eine blühende „Kaffeehauskultur“ gegeben – Künstler und Intellektuelle betrachteten gewisse Cafes praktisch als ihr Zuhause, wo sie halbe Tage und Nächte verbrachten, um Kunst, Literatur und Politik zu diskutieren. Unter den Nazis verschwand dieses Phänomen schnell. Wahre Kunst ist frei, und wie alle autoritären Regimes, fürchteten die Nazis subversive Aktivitäten unter jenen freien Geistern. Der öffentliche Raum war mit Spitzeln übersät. Zum Zeitpunkt der Juni-Aktion, in deren Kontext diese Durchsuchungsaktionen durchgeführt wurden, war die ursprüngliche Klientel weitgehend verschwunden. Die Razzien zielten vorgeblich auf „asoziale Elemente“ ab. Tatsächlich jedoch stellten sie die erste Massenfestnahme von Juden dar. Propagandaminister Goebbels fasste die Absicht mit den markigen Worten „Die Losung ist Schikane, nicht Gesetz“ zusammen.

In Einzelfällen

Die Flüchtlingspolitik Australiens

Das kanadische Einwanderungsministerium hat aus Melbourne Nachricht erhalten, wonach "keine besonderen Erleichterungen für Gruppen jüdischer Migranten nach Australien" bewilligt werden sollen.

Melbourne

Unter dem Eindruck der Machtübernahme der Nazis in Deutschland und zunehmendem Antisemitismus in Europa bewies der große jiddische Schriftsteller und kulturelle Aktivist Melech Rawitsch die Weitsicht, bereits 1933 die Mittel für eine Reise von seinem Heimatland Polen nach Australien zu organisieren, um die ungastliche Kimberley-Region als möglichen Ort der Ansiedlung von Juden auszuforschen. Seine optimistische Schlussfolgerung war, die Herausforderungen des Outback könnten mit ‚‚mehr Wasser, weniger Bier“ bezwungen werden. 1938 begann auch die territorialistische ‚‚Freilandliga“ diese Möglichkeit zu erörtern. Laut Bericht der Jewish Telegraphic Agency vom 15. Juni war die australische Regierung bereit, individuelle Fälle einreisewilliger Juden in Betracht zu ziehen, war jedoch nicht gewillt, eine jüdische Masseneinwanderung ins Land zu unterstützen.

Der Stölpchensee

Das letzte öffentliche Schwimmbad für Juden in Berlin

Berlin/Stölpchensee

Bereits 1935 hatte die Parteipresse eine Kampagne geführt, Juden aus öffentlichen Schwimmbädern zu verdrängen, wobei auf „unliebsame Vorkommnisse“ verwiesen oder die Öffentlichkeit vor der „Gefahr“ gewarnt wurde, die angeblich von den Juden ausgehe. Fast überall wurden Schilder mit Aufschriften wie „Juden haben in diesen Anlagen keinen Zutritt“ aufgestellt. Der Stölpchensee, einer der Seen in der Umgebung Berlins, war das letzte öffentliche Schwimmbad, zu dem die Berliner Juden Zutritt hatten. Fritz und Friedel F. waren verheiratet und lebten in Berlin, wo Fritz Inhaber eines Lampengeschäfts war. Im Juni 1938 war das Wochenendhaus am Stölpchensee für die Familie noch immer ein Refugium von der Stadt und von antisemitischen Schikanen.

QUELLE

Institution:

Private Collection William J. Davidson

Original:

“From the Freudenthal Family Album”

Unaushaltbare Verzweiflung

Jewish Telegraphic Agency veröffentlicht Liste von den jüngsten Suiziden unter Juden

“4 Deaths Announced Among Arrested Jews in Vienna; Family of 4 Committs suicide”

Wien

Der „Anschluss“, die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland im März 1938, hatte eine Welle anti-jüdischer Gewalt in Gang gesetzt: Die durch Ihren neuen Status und die völlige Hilflosigkeit der Juden ermutigten Nazis und Sympathisanten drangen in jüdische Wohnungen ein und nahmen sich, was ihnen gefiel. Betriebe, die in jüdischem Besitz waren, wurden geplündert oder zerstört. Juden und Jüdinnen jeden Alters wurden zu der demütigenden Handlung gezwungen, die Straßen zu schrubben, um unter unter den Augen johlender Zuschauer politische Slogans gegen den „Anschluss“ zu entfernen. Da von der Polizei keinerlei Schutz zu erwarten war, wurden viele Juden von einem Gefühl völliger Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit erfasst und in den Selbstmord getrieben: Allein in den ersten zwei Monaten nach dem „Anschluss“ entzogen sich 218 Juden der staatlich sanktionierten und geförderten Grausamkeit durch Selbstmord. Diese Notiz der Jewish Telegraphic Agency listet die jüngsten Selbstmorde – darunter der einer vierköpfigen Familie – und Todesfälle im Konzentrationslager Dachau auf.

Ein illustrer Jubilar

Claude G. Montefiore feiert seinen 80.

„Auch trübe Tage hatten die jüdischen Menschen nicht etwa bestimmt, den Glauben preiszugeben, dass das Gute überall auf der Erde beheimatet ist. Man vergegenwärtigte sich in schweren Tagen das Wort des R. Tanchuma: ,Sage nicht, nachdem ich Schmähung und Erniedrigung erfahren habe, soll auch mein Nächster sie erfahren, sondern wisse, wen du dann schmähen wirst: Den in Gottes Bilde Erschaffenen.‘“

Ludwigshafen

In seinen „Bemerkungen zum Wochenfest“, die in der Juni-Ausgabe des „Jüdischen Gemeindeblatts für das Gebiet der Rheinpfalz“ erschienen, stellt Rabbi Dr. Ernst Steckelmacher aus Ludwigshafen seine Leser vor eine echte Herausforderung: Laut seiner Interpretation des Buches Ruth, einer der vorgeschriebenen Lesungen während des Wochenfests, setzt sich das Judentum für die Dominanz des Universellen über das Partikuläre ein und zeigt, dass das Gute überall zu finden sei. So verkörpere beispielsweise die Moabiterin Ruth das Menschheitliche – keine intuitive Botschaft zu einer Zeit, wo die Ausgrenzung der Juden aus der deutschen Gesellschaft diese dazu zwang, sich nach innen zu wenden. Der 6. Juni 1938 war nicht nur der zweite Tag von Schawuot, sondern auch der 80. Geburtstag Claude G. Montefiores, des Präsidenten der Weltunion für progressives Judentum. Dr. Steckelmacher würdigt diesen Anlass und bekräftigt seine universalistische Botschaft, indem er auf ähnliche Gedanken seitens des illustren Jubilars aufmerksam macht.

Im Dunkel gelassen

Keine Informationen für die Familien von tausenden von inhaftierten Juden

„Ob alle oder einige wenige der mehreren Tausend Festgenommenen nach Dachau oder in die Steiermark geschickt worden sind und ob sie bald entlassen werden, ist eine beängstigend ungewisse Angelegenheit. Die Ereignisse der letzten Tage werden wohl nie aus dem Bewusstsein Tausender von Frauen hier getilgt werden.

WIEN

Niemand hielt es für nötig, die besorgten Familien tausender von den Nazis festgenommener Juden über deren Verbleib und die veranschlagte Dauer der Inhaftierung in Kenntnis zu setzen. Notgedrungen entschlossen sich viele jüdische Frauen, das Gefängnis in der Rossauer Lände aufzusuchen, um sich nach dem Verbleib ihrer Ehemänner zu erkundigen. Laut diesem Bericht der Jewish Telegraphic Agency waren die Männer in überfüllten Eisenbahnwaggons abtransportiert worden, nachdem viele von ihnen stundenlang in unbequemer Haltung hatten verharren müssen. Während es Andeutungen gab, dass die ins Konzentrationslager Dachau Verschickten als Bauarbeiter bei der Erweiterung des Lagers ausgenutzt werden und danach freigelassen werden sollten, hatten viele keine Ahnung, wo ihre Angehörigen waren. Der Verfasser des Berichts empfindet die ‚‚außerordentliche Gefühllosigkeit, mit der die Polizei Information zurückgehalten hat“, als ‚‚einen der erschreckendsten Aspekte der Situation“.

Kein Zutritt für Juden

Bad Ischl sondert Juden in spezielle Hotels ab

„In österreichischem Kurort sollen Ghetto-Hotels eingerichtet werden.“

BAD ISCHL

Bereits im 19. Jahrhundert begann der Central-Verein Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens, Listen von Badeorten und Hotels zu veröffentlichen, in denen jüdische Gäste nicht willkommen waren. An manchen Orten ging man so weit, mit dem Prädikat ‚‚judenfrei“ zu werben. Nach dem Ersten Weltkrieg breitete sich das als “Bäder-Antisemitismus“ bekannte Phänomen aus, bis es mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 zur offiziellen Politik wurde. 1935 war Juden der Besuch der norddeutschen Badeorte, 1937 auch der im Innern des Landes gelegenen, praktisch verboten. Erst mit dem “Anschluss“ im März 1938 wurde Juden auch aus österreichischen Badeorten verdrängt. Bad Ischl und andere Ortschaften im Salzkammergut waren bei Juden besonders beliebt, so dass der österreichisch-jüdische Schriftsteller Hugo Bettauer bereits 1922 scherzte, in den dortigen Badeorten ‚‚erregte es direkt Aufsehen, wenn Leute auftauchten, die im Verdacht standen, Arier zu sein“. In einem Bericht vom 2. Juni teilt die Jewish Telegraphic Agency mit, Juden würden auf Anordnung des zuständigen Nazi-Kommissars ‚‚in jüdische Hotels und Pensionen abgesondert“ werden und dürfen nicht länger kulturellen Veranstaltungen in Bad Ischl beiwohnen.

Mehr Unruhen in Palästina

Six dead, Jews and Arabs

„Heute Morgen wurde ein Bus auf dem Weg nach Jerusalem bei Lifta beschossen. Ein begleitender Polizist erwiderte das Feuer und soll mehrere Menschen getötet haben.“

Jerusalem

Immer wieder erreichten beunruhigende Nachrichten über Unruhen in Palästina die jüdischen Leser in der Diaspora: Am 25. Mai berichtete die Jewish Telegraphic Agency, eine der wichtigsten Informationsquellen zur Situation der Juden unter den Nazis und über die Entwicklungen im Jischuw. Sie schreibt unter der Überschrift „Terror in Palästina fordert 6 weitere Todesopfer“ über die letzten Opfer in Jerusalem, Haifa und Tiberias – Juden und Araber – und über die Umstände, unter denen sie umgekommen waren.

Gnadenlos

Göring fordert strikten anti-jüdischen Boykott

„(...) einen "gnadenlosen anti-jüdischen Boykott", bis der letzte Jude gezwungen ist, Österreich zu verlassen.“

Wien

In ihrer heutigen Ausgabe berichtet die Jewish Telegraphic Agency, das „Deutsche Volksblatt“ in Wien dränge zu einem „gnadenlosen anti-jüdischen Boykott“. Dies, so das Blatt, sei die von Hermann Göring in seiner jüngsten Rede in Wien geforderte Linie. Als im Ersten Weltkrieg hoch dekorierter Jagdflieger war Göring frühzeitig der NSDAP beigetreten und gehörte dem inneren Kreis an. 1933 baute er die Geheime Staatspolizei auf, er war Oberbefehlshaber der Luftwaffe, und als Bevollmächtigter des Vierjahresplans übte er Kontrolle über die deutsche Wirtschaft aus. Darüber hinaus ist er für seine zentrale Rolle in der Durchsetzung des „Anschluss“ und als leidenschaftlicher Sammler von Kunstwerken bekannt, die er sich nicht selten auf dubiose Weise aneignete.

Unruhiges Palästina

Weg vom Nationalsozialismus, aber nicht von der Gewalt

„Es gab keine Todesopfer.“

Jerusalem

Nichts in diesem Bericht der Jewish Telegraphic Agency vom 19. Mai war dazu angetan, deutschen oder österreichischen Juden, die dringend zu sichereren Ufern aufbrechen wollten, Hoffnung zu geben, dass das Leben in Palästina ihnen Ruhe und Frieden bescheren würde: Bei arabischen Angriffen auf jüdische Arbeiter oder Infrastruktur und Unruhen unter beschäftigungslosen Juden war der einzige beruhigende Aspekt die Entfernung zum Epizentrum nationalsozialistischer Aktivität. Seit Beginn des Arabischen Aufstands waren Araber, Briten und Juden in Palästina in einen oft gewalttätigen Konflikt verwickelt – nicht gerade eine Attraktion für erschöpfte mitteleuropäische Juden, deren größter Wunsch ein Szenenwechsel hin zu Sicherheit und Frieden war.

Im Niemandsland

Der Völkerbund interveniert für 56 Vertriebene

Belgrad

Die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland im März 1938 hatte der tausendjährigen Geschichte jüdischen Lebens im Burgenland, Österreichs östlichstem Bundesland, ein jähes Ende bereitet: Die Vertreibung der zahlenmässig kleinen jüdischen Bevölkerung, ausgeführt durch SS, lokale Nazi-Beamte und zivile Kollaborateure, setzte sofort ein. Dieser Artikel der Jewish Telegraphic Agency berichtet über die Intervention des Völkerbunds für 56 Vertriebene, die im „Niemandsland“ im Grenzgebiet zwischen Österreich und Jugoslawien feststeckten. Der Hochkomissar des Völkerbunds für deutsche Flüchtlinge hatte um die vorübergehende Aufnahme der nun Heimatlosen durch Jugoslawien gebeten, der eine permanente Neuansiedlung folgen sollte.

Für und wider Abtreibung

Ärztegruppe des German Jewish Club lädt zu Vortrag ein

New York

Am 9. Mai lud die Ärztegruppe des German Jewish Club (ein informeller Zusammenschluss von Ärzten) in New York zu einem Vortrag zum Thema Abtreibung ein. Während der Weimarer Republik waren wiederholte Versuche gemacht worden, den Anti-Abtreibungsparagraphen (§218) abzuschaffen oder wenigstens abzuschwächen. Seine Gegner wiesen darauf hin, dass er die Arbeiterklasse unverhältnismäßig benachteilige, da Armut das Hauptmotiv für Abtreibungen darstelle. Ein Abgeordneter, der einen Zusammenschluss dreier Rechtsaußen-Parteien vertrat, darunter die NSDAP, schlug 1926 vor, Abtreibung nur bei Juden zu legalisieren. Unter dem Naziregime, das die Erzeugung „rassisch wertvollen“ Nachwuchses propagierte, war Abtreibung illegal – es sei denn, sie verhinderte die Geburt von Kindern, die als „unerwünscht“ betrachtet wurden. In den Vereinigten Staaten hatte die Wirtschaftskrise zu einer verstärkten Nachfrage nach Abtreibungen geführt, und bereits zu Beginn der dreißiger Jahre waren Hunderte von Abtreibungskliniken aus dem Boden geschossen. Armut und mangelnde Erreichbarkeit qualifizierter Ärzte führten of zu Verletzung oder Tod schwangerer Frauen durch selbst-induzierte Abgänge. Der Vortragende, Dr. Walter M. Fürst, war ein Neuankömmling aus Hamburg.

Reisebüro „Kompass“

Auswandern ist schwieriger als es klingt

„Wollen Sie Ihre Verwandten hier haben? Brauchen Sie Hilfe, die Schwierigkeiten zu überwinden?“

New York

In einer Anzeige im „Aufbau“, die auf deutsche Einwanderer abzielte, bot das „Compass Travel Bureau“ in New York „fachmännische Beratung aller [sic] Einwanderungsangelegenheiten und die Erledigung aller Reiseformalitäten“. Wem es gelungen war, sich bis Mai 1938 noch ein wenig Optimismus zu bewahren, hätte meinen können, keine größere Anstrengung sei vonnöten. Doch die Beschaffung aller erforderlichen Dokumente konnte ein zermürbend langer Prozess sein: Juden, die verzweifelt versuchten, Deutschland zu verlassen, mussten zuerst Quotennummern und eine Unzahl von Dokumenten aus verschiedenen deutschen Behörden beschaffen und sich mit dem langsamen Postdienst abgeben, während sie versuchten, in Amerika Bürgen zu finden.

Möbel für Auswanderer

Werbeanzeigen spiegeln die Bedürfnisse der Zeit

Karlsruhe

Drei gut sichtbar plazierte Anzeigen auf der Titelseite des „Jüdischen Gemeindeblatts für Baden“ stellen klar heraus, was die Gemüter deutscher Juden im April 1938 bewegt: Das Thema „Auswanderung“ ist allgegenwärtig. Drei Firmen in Karlsruhe bieten Waren und Dienste in diesem Zusammenhang, wie Schiffskarten nach Südamerika, Afrika und Asien, Möbel für Auswanderer und Hausverkäufe. In der Ausgabe vom 27. April kommt das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zur Sprache: Das Schrumpfen der Gemeinden durch den Wegzug der Mitglieder, Englischkurse für künftige Auswanderer, der Weggang geschätzter Führungspersönlichkeiten, praktischer Rat, wie man während des Emigrationsprozesses die Unterstützung jüdischer Hilfsorganisationen erlangen könne, und mehr. Parallel dazu scheinen die Dinge in ihren gewohnten Bahnen zu verlaufen: Lehrhaus-Aktivitäten, Schülerkonzerte und Kulturbund-Veranstaltungen bilden ein Gegengewicht zur Anormalität der Situation.

Ein jüdisches Filminstitut?

Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda tut seinen Job

Berlin

Laut einem Bericht der Jewish Telegraphic Agency genehmigte das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda am 21. April die Einrichtung eines Jüdischen Filminstituts. Der Name war irreführend: Es war nicht zur kulturellen Bereicherung der jüdischen Öffentlichkeit gedacht. Der Hauptzweck des Instituts sollte die Produktion von Filmen sein, die das Leben in Palästina zeigten und deutsche Juden zur Emigration drängten. Mit anderen Worten, der Plan war ein weiterer Teil der Strategie der Nazis, Deutschlands Juden „aus dem Weg zu räumen“. Zur selben Zeit erklärte „Der Stürmer“, eines der schärfsten antisemitischen Blätter in Nazi-Deutschland, Juden müsse der Zutritt zu Kinos und Theatern verwehrt werden.

Entrechtung in Österreich, Freilassung in Dachau

Die Nazis in Österreich erlassen eine Flut an neuen Bestimmungen

Wien

Wenig mehr als einen Monat nach der Machtübernahme der Nazis in Österreich lässt eine Kaskade neuer Bestimmungen und Schritte, die von den neuen Machthabern eingeleitet worden sind, wenig Raum für Optimismus: Die Jewish Telegraphic Agency berichtet für den 14. April aus Wien, es sei geplant, Juden innerhalb von 50 Kilometern aus den Grenzgebieten zur Tschechoslowakei zu vertreiben, österreichische Geschäfte würden auf eigene Kosten der Obhut von Nazi-Kommissaren anvertraut (laut der JTA ist diese Bestimmung im Fall hunderter von Geschäften in jüdischem Besitz bereits in Kraft getreten) und es sei ein Gesetz zur Sicherstellung rassischer Reinheit eingeführt worden. Der eine positive Punkt in dieser umfangreichen Meldung ist die Aussicht darauf, dass alle zur Zeit in Dachau internierten Juden nicht nur freigelassen, sondern auch Einreisegenehmigungen nach Palästina erhalten sollen.

Pessach-Ball mit „Kölner Jecken“

Die Zionistische Arbeiterbruderschaft sorgt für temporäre Heiterkeit unter deutsch-jüdischen Einwanderern

NEW YORK

Meist war die Jewish National Workers Alliance, unter welchem Namen die Zionistische Arbeiterbruderschaft bekannt war, mit ernsthaften Angelegenheiten beschäftigt: Unter anderem war sie bestrebt, die Arbeiterklasse zu stärken, und in wirtschaftlichen Notlagen, im Fall von Krankheit oder Tod ihrer Mitglieder, Hilfe zu leisten. 1911 hatte sie das erste Versicherungssystem für jüdische Arbeiter eingerichtet. Am 9. April 1938 wich sie von ihrer Kernaufgabe ab und hielt in der deutsch-jüdischen Hochburg Washington Heights in New York einen Pessach-Ball ab. Unter anderem wirkten an dem Programm „Kölner Humoristen“ mit – ein Gütezeichen unter deutschen Einwanderern, die mit Kölner Karnevalsnarretei vertraut waren, einer Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Veranstaltungsort war der Ballsaal der Paramount Mansion, in der verschiedene Institutionen zu Hause waren, die die Interessen deutsch-jüdischer Einwanderer förderten.

Meinungsumschwung

Pfarrer Breckle fällt den Juden in den Rücken

"Niemand hat die Juden in die europäischen Länder eingeladen. Sie kamen als ungeladene Gäste und haben sich in allen öffentlichen Berufen so sehr in den Vordergrund gedrängt, und nicht unbedingt durch hervorrangende Leistungen, dass man zumindest sagen kann, dass sich ein großes Missverhältnis entwickelt hat."

WIEN

In der neuen Realität Österreichs konnten sich die Meinungen, auch die von Beamten, mitunter recht schnell ändern. Dies blieb internationalen Beobachtern nicht verborgen. In einer Pressenotiz vom 8. April meldet die Jewish Telegraphic Agency, ein katholischer Geistlicher, Pfarrer Breckle von der Dreifaltigkeitskirche in Wien, habe Juden in einem Artikel in „Katholische Aktion“ als „ungeladene Gäste“ in Europa bezeichnet und sie beschuldigt, sich „in den Vordergrund zu drängen“. Hitlers Vorgehensweise habe er als „frei und menschlich“ sowohl den „Ariern“ als auch den Juden gegenüber bezeichnet. Breckle habe seine Ansichten erst in jüngster Zeit geändert und zuvor als der jüdischen Gemeinde gegenüber freundlich gegolten.

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