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Zwischen Hammer und Amboss

Zunehmende Angst an der tschechisch-polnischen Grenze

„Bei uns hier an der Grenze ist es besonders arg. In Ostrau allein wurden allein [sic] 8000 Juden polnischer Staatszugehörigkeit binnen 3 Tagen ausgewiesen.“

Mährisch Ostrau

Bis jetzt war Lilly and Sim, einem Ehepaar in Mährisch Ostrau, größeres Leid erspart geblieben – wenigstens auf der persönlichen Ebene. Doch während täglich neue Gerüchte aufkamen, welche Stadt die Deutschen als nächstes besetzen würden, wuchs die Angst in der Stadt an der tschechisch-polnischen Grenze. Am schlimmsten war das Schicksal anderer Juden: in diesem Brief vom 10. Dezember 1938 erzählt Lilly ihren Freunden im Ausland von nicht weniger als 8000 Juden polnischer Herkunft, die man innerhalb von drei Tagen gezwungen hatte, die Stadt zu verlassen – manchmal nach 10, 20 oder sogar 40 Jahren am Ort. Ihr größter Wunsch – hinauszukommen – war schwer zu verwirklichen, und es war ihr unvorstellbar, sich als Landarbeiter einem Flüchtlingstransport in ein beliebiges Land “mit unmöglichem Klima” anzuschließen. Indessen stand Sim eine Beförderung bevor, doch angesichts der völligen Ungewissheit der Zukunft – da ein Abkommen zwischen Polen und der Tschechoslawakei noch ausstand, wusste das Paar zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, welche Staatsangehörigkeit es hatte – erweckte die Aussicht darauf keine große Freude.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 32

Die Zukunft von Menschheit und Kultur

Ein Aufruf zum Handeln in schlechten Zeiten

„Wenn jemals tapfere Herzen, klare Hirne und starke Fäuste nötig waren, dann heute, wo nicht weniger als die Zukunft von Menschheit und Kultur auf dem Spiele steht!“

New York

Niemand, der die November-Ausgabe des Aufbau las, konnte die fettgedruckte Botschaft auf der Titelseite verpassen: Unter der Überschrift „Die grosse Prüfung“ wird mit starken Worten das totale Versagen der „Staatsoberhäupter der sogenannten Demokratien“ angeprangert, die die Tschechoslowakei an Nazi-Deutschland geopfert haben. Jüdische Flüchtlinge sitzen in Böhmen im Niemandsland fest, in Deutschland verpassen die Nazis den Juden den „wirtschaftlichen Todesstreich,“ die Briten gefährden das zionistische Unternehmen und „wenig mehr als eine blasse Erinnerung“ ist von der Konferenz von Evian verblieben, die im Juli einberufen wurde, um das Problem der Neuansiedlung jüdischer Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland in Griff zu bekommen. Dies ist wahrlich „ein Zeitalter der vollkommenen Sündhaftigkeit.“ Werden die Bedrohten sich endlich aufraffen?

Abschied im Schatten der Politik

In seinem Tagebuch beschäftigt sich Adolph Markus politischen Veränderungen und mit seinen Vorbereitungen zur Auswanderung

„Chamberlain und Daladier erklärten nach ihrer Rückkehr zu ihren Völkern, dass nun für lange Zeit gesichert ist und das mit Hitler vereinbart wurde, bei jeder eventuell noch kommenden Differenz wieder zu einer Konferenz zusammen zu treten.“

LINZ

Ende Oktober 1938 blickt Adolph Markus auf einen ereignisreichen Monat zurück: Nach der Münchener Konferenz, auf der Repräsentanten aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien beschlossen, die Tschechoslowakei habe ihre Grenzgebiete (Sudetenland) im Austausch für Frieden an Deutschland abzutreten, hatten deutsche Soldaten diese Gebiete besetzt, in der eine beträchtliche deutsche Minderheit von etwa 3 Millionen Menschen lebte. Wie Markus erklärt, hatte die Tschechoslowakei mit dem Sudetenland ihre Abwehrlinie verloren. Laut seinem Tagebucheintrag vom 31. Oktober wich die Erleichterung der Menschen in England und Frankreich über den verhinderten Krieg bald tiefem Misstrauen bezüglich Hitlers wahrer Absichten. Was seine persönlichen Angelegenheiten betrifft, so erwähnt der Verfasser einen Friseur-Lehrgang und Englisch-Unterricht, den er in Wien nimmt, offensichtlich in Vorbereitung auf die Auswanderung. In der Zwischenzeit war in Erwartung dessen, dass in Kürze alle Juden aus seiner Heimatstadt Linz ausgewiesen würden, die Hälfte des Inhalts seiner Wohnung verkauft worden.

Juden im Sudetenland Angriffen ausgesetzt

Angriffe auf Juden im Sudetenland nach dem Münchener Abkommen

„Der Plan zur Vertreibung Tausender Juden aus der Tschechoslowakei und die Einschränkung der wirtschaftlichen Tätigkeit der verbleibenden, skizziert durch den Minister ohne Geschäftsbereich Stanislav Bukovsky, wurde als Resolution des Ausschusses der Sokol-Vereine, der repräsentativen Körperschaft der tschechischen Jugendsportorganisation, in vollem Umfang verabschiedet.“

Prag

Bevor die Unterzeichner des Münchener Abkommens am 29. September 1938 verfügten, die Tschechoslowakei habe die überwiegend von Deutschen bewohnten Randgebiete, das Sudetenland, an Deutschland abzutreten, lebten dort zwischen 25,000 und 28,000 Juden. Gleich nach dem Einmarsch der Deutschen Anfang Oktober kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. Tausende wurden in die Flucht getrieben. Von den katastrophalen materiellen Folgen dieser Massenflucht berichtet die Jewish Telegraphic Agency am 25. Oktober: Der Verlust wurde auf mindestens 7 Milliarden Kronen in zurückgelassenen Gehältern und Besitz geschätzt. Um die Lage noch schlimmer zu machen, kam es seit München auch auf der tschechischen Seite zu offenem Antisemitismus – sowohl durch die Bevölkerung als auch von offizieller Seite.

Driven to suicide

Suicide of a democratically-minded editor-in-chief

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PRAGUE

Since 1876, the Prager Tagblatt was known as a bastion of liberal- democratic positions. Over time, it acquired a staff of first-rate writers, including greats such as Franz Kafka, Max Brod, Kurt Tucholsky, Egon Erwin Kisch and Alfred Döblin – to name but a few. The paper was valued for its excellent reporting, its outstanding feuilleton and its unique style: even the political reporting was not devoid of humor. As a liberal-democratic paper with a predominantly Jewish staff, the Tagblatt had unequivocally positioned itself against the Nazi regime. Several of the roughly 20,000 political adversaries of the Nazis who had escaped to Czechoslovakia joined the ranks of the publication’s contributors. After the entry of the German Army to the Sudetenland in early October of 1938, the situation of German-speaking democrats came to a head in Czechoslovakia, too: according to this report from the Jewish Telegraphic Agency, dated October 11, the editor-in-chief of the Prager Tagblatt, Rudolf Thomas, and his wife committed suicide out of despair over the situation.

 

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

"Praha Jewish Editor Dies After Suicide Pact with Wife"

Original:

Box 3, folder 35

Massenflucht

Über 20.000 Juden verlassen das Sudetenland

„Nur ungefähr 2.000 Juden von eigentlich einmal 22.000 sind in den Gebieten der Sudetendeutschen geblieben, die auch von der tschechischen Bevölkerung verlassen worden sind.“

München

Als am 29. September das sogenannte “Münchener Abkommen“ zwischen Hitler, dem britischen Premier Chamberlain, dem französischen Premier Daladier und dem italienischen Diktator Mussolini beschlossen wurde, waren über 20.000 Juden bereits aus dem Sudetenland geflohen. Das berichtete die Jewish Telegraphic Agency am Tag des Abkommens. Nach einem monatelangen Propagandafeldzug der Nazis und lauten Drohungen, die deutsche Wehrmacht werde in die Tschechoslowakei einziehen, musste vielen Juden schon vor Wochen klar geworden sein, dass sie keine Zukunft im Sudetenland haben würden. Mit dem Abkommen wurden die tschechischen Gebiete, in denen die deutsche Minderheit der Sudetendeutschen lebte, ans Deutsche Reich abgetreten. Die Tschechoslowakei saß in München nicht mit am Verhandlungstisch.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

“20,000 Jews Evacuate Sudeten Area”

Jahreschronik 1938

Das Münchner Abkommen

Viele jüdische Anwälte hatten Deutschland und Österreich bereits verlassen. Unter ihnen war Joachim Weichert aus Wien, der dort jahrzehntelang als Anwalt tätig gewesen war. Sammlung Familie Weichert, Leo Baeck Institute.

Germany, the United Kingdom, France, and Italy sign the Munich Agreement. In the absence of Czechoslovakia, which, like the Soviet Union, was not invited to the conference, the participating nations resolve that Czechoslovakia must cede the “Sudetenland” to the German Reich. The agreement calls for the evacuation of the narrow band of territory along Czechoslovakia’s northern, western, and southern borders within ten days. Two days after the agreement is signed, the Wehrmacht enters the Sudetenland. By allowing the conflict over the autonomy of ethnic Germans in Czechoslovakian borderlands to escalate into an international crisis, Hitler has succeeded in first isolating and then breaking up Czechoslovakia.

Zur Jahreschronik 1938

Tagesgeschehen zum 18. Geburtstag

Hugo Jellinek gratuliert seiner Tochter und kommentiert die aktuellen Entwicklungen

„Böhmen ist eine harte Nuss, an der sich diese Räuberbande die Zähne ausbrechen werden [sic] oder sagen wir eine Buchtel, an der diese wahnsinnig gewordenen Teufel ersticken werden. Trotz der vielen hiesigen deutschen Hochverräter ist [sic] Regierung und Volk einig in dem unerschütterlichen Willen, die Freiheit und demokratischen Errungenschaften bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Hugo Jellinek war stolz auf seine Tochter Gisella, die während der Hachschara zu einer glühenden Zionistin geworden und wenige Monate zuvor als Teil einer Gruppe wagemutiger Jugendlicher nach Palästina eingewandert war. Zum 18. Geburtstag schickte er seiner erstgeborenen Tochter nicht nur Glückwunsche, sondern ließ sie auch ausführlich an seinen Gedanken zum Tagesgeschehen teilhaben: Deutsche Manöver entlang der tschechoslowakischen Grenze beunruhigten ihn sehr, doch er war überzeugt, anders als im Fall Österreichs würde die Wehrmacht mit scharfem Widerstand zu rechnen haben. Das Misstrauen und der Mangel an Solidarität wohlhabender Brünner Juden gegenüber jüdischen Flüchtlingen erfüllten ihn mit Bitterkeit. Auch war er sehr besorgt wegen der Räumungsbescheide, die bei österreichischen Juden eingingen. Bei allen Sorgen und Klagen verschaffte eine neue Damenbekanntschaft einen Lichtblick.

Ferienidylle

Ein sonniger Brief an den Vater

„Uns geht es gut. Die Sonne scheint seit zwei Tagen, so dass wir schwimmen gehen konnten, aber für morgen sagt das Radio Regen an.“

Nespeky/Prag

Hitlers Pläne für die Tschechoslowakei hätten eindeutiger nicht sein können: Am 30. Mai 1938 hatte er in einer Weisung an die Wehrmacht mitgeteilt, es sei sein „unabänderlicher Beschluss“, die Tschechoslowakei „in absehbarer Zeit“ zu zerschlagen. Schon Monate zuvor hatte er den Führer der seit Jahren teilweise von Nazideutschland finanzierten Sudetendeutschen Partei, Konrad Henlein, dazu angestachelt, durch nicht erfüllbare Forderungen für die deutsche Minderheit eine Konfrontation heraufzubeschwören. Unter dem Einfluss der Ereignisse in Deutschland hatte der Antisemitismus im Land zugenommen, hatte aber bisher nur in den überwiegend von Deutschen bewohnten Grenzgebieten Nord- und Westböhmens zu Boykotten und tätlichen Übergriffen geführt. Während sich im Hintergrund eine Krise zusammenbraute, war der Psychiater und Schriftsteller Josef Weiner mit seiner Frau Hanka und den zwei kleinen Töchtern im zentralböhmischen Städtchen Nespeky in Urlaub. Hankas Briefchen (in tschechischer Sprache) an ihren Vater, den renommierten Prager Rechtsanwalt Oskar Taussig, atmet reine Ferienidylle und verschont den rekonvaleszenten Empfänger vor allem Unerfreulichen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Winn Familie, AR 25493

Original:

Archivbox 1, ordner 5

Es wird einfacher werden

Zuspruch für eine Siebzehnjährige

„Natürlich dauert es ein bisschen, bis man miteinander warm wird, besonders, wenn man die Sprache nicht beherrscht.“

Teplitz

Frau Pollak in Teplitz (Tschechoslowakei) schwankte zwischen Erleichterung, zu wissen, dass ihre Tochter in sicherem Abstand vom Zugriff der Nazis war, und Sorge um das körperliche und seelische Wohlergehen der 17jährigen Marianne. Nach anfänglichen Plänen, mit der Jugend-Alija nach Palästina auszuwandern, war das junge Mädchen nun ganz allein in England. Die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland hatte in der Tschechoslowakei die Furcht vor einem ähnlichen Schicksal erweckt, und Juden hatten doppelten Grund zur Sorge – als Tschechen und als Juden. Während die Nachrichten aus Wien und Palästina düster waren und die Tschechoslowakei einer ungewissen Zukunft entgegenging, war Frau Pollak liebevoll darum bemüht, Marianne zu versichern, dass das Leben im neuen Land leichter werden würde.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

John Peters Pinkus Familie Sammlung, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 22

Dr. Singers Koffer

Lilian Singer war eine Pionierin und Ärztin in Prag

PRAG

Lilly Popper (später Lilian Singer) wurde 1898 in Brünn geboren. Nach dem Gymnasium nahm sie in Wien ein Medizinstudium auf, das sie in Berlin weiterführte. Dort machte sie 1923 ihren Führerschein, was für Frauen gerade erst gesellschaftlich akzeptabel zu werden begann. Nach mehreren Jahren Unterbrechung, die sie teils teils bei einer Firma in Amsterdam, teils im väterlichen Geschäft verbrachte, nahm sie das Studium wieder auf. 1933 promovierte sie an der Friedrich Wilhelms Universität in Berlin, die seit 1892 Frauen als Gasthörerinnen (und seit 1908 als Studentinnen) zuließ, eine Gelegenheit, die anfangs von einer überproportional großen Anzahl von Jüdinnen ergriffen wurde. Mit dem „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom April 1933 begrenzten die Nazis die Zulassung von Juden und Frauen zu höherer Bildung, wovon Ausländer allerdings nicht betroffen waren. Nach dem Studienabschluss kehrte Lilian in die Tschechoslowakei zurück. 1938 war sie in der Facharztausbildung zur Chirurgin an einem Lehrkrankenhaus in Prag. Der auf dem Foto abgebildete Koffer begleitete sie auf ihren vielen Reisen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Lilian Singer Sammlung, AR 25363

Original:

LBI Sammlung der Historischen Objekten

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