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Kündigung, weil Jude

Wohnprekariat trifft Juden in Wien

„Der Gekündigte ist Jude und kann den anderen Mietbewohnern [sic] ein Zusammenwohnen nicht länger zugemutet werden.“

WIEN

Bis 1938 lebten etwa 60.000 Juden im Wiener Bezirk Leopoldstadt, was ihr den Spitznamen „Mazzesinsel“ einbrachte. Zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Aufstieg des „Austrofaschismus“ 1934 hatte die sozialdemokratische Stadtregierung begonnen, Sozialwohnungen zu schaffen. Zur Zeit des Anschlusses herrschte in der Stadt ein massiver Wohnungsmangel. Die Nazis begannen, Juden aus Sozialwohnungen zu delogieren. Angesichts der Neigung der Polizei, Übergriffe auf jüdischen Besitz zu ignorieren, war es für antisemitische Vermieter leicht, diesem Beispiel zu folgen: Judesein genügte als Kündigungsgrund. Als der Hausbesitzer Ludwig Munz das Kündigungsformular für seine Mieter Georg und Hermine Topra ausfüllte, gab er gleich drei Gründe an: Angeblichen Eigenbedarf, Mietrückstand und Rücksicht auf die Nachbarn, denen ein Zusammenleben mit Juden nicht zugemutet werden könne.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Inv. Nr. 5171/2

Nichts Nachteiliges bekannt

Seelsorgestelle bescheinigt Edmund Wachs' Unbedenklichkeit

„Von der gefertigten Seelsorge wird hiermit bestätigt, dass gegen Herrn Edmund Wachs hieramts nichts Nachteiliges bekannt ist.“

Wien

Dieses Zeugnis, ausgestellt vom Rabbinat der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, war nur eines unter einer Vielzahl von Dokumenten, die Edmund Wachs zusammengestellt hatte, um seine Auswanderung in die Vereinigten Staaten zu ermöglichen. Kurz nach dem „Anschluss“ war Wachs in „Schutzhaft“ genommen worden, ein Mittel, das den Nazis durch die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, auch als „Reichstagsbrandverordnung“ bekannt, in die Hand gegeben worden war: Der Reichstagsbrand am 27. Februar 1933, ein Brandanschlag auf das Parlamentsgebäude in Berlin, hatte als Anlass und Rechtfertigung für das Gesetz gedient. Es wurde bereits am darauffolgenden Tag erlassen und legalisierte die willkürliche Festnahme jeder Person, die der mangelnden Loyalität gegenüber dem Regime verdächtigt wurde. Das Gesetz legte den exakten Tatbestand nicht fest und kam weithin gegen Juden und politische Gegner zur Anwendung.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Edmund und Berta Wachs, AR 25093

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Grüße und Küsse

Eine liebe Nachricht an Oma in Breslau

„Hoffentlich sind Deine Schmerzen schon besser geworden. Viele herzliche Grüße und Küsse und einen guten שבת [Schabbes], auch an Blumenthals, Dein Enkelkind Michael“

Oldenburg/Breslau

Nach Handschrift und Stil zu urteilen, war Michael Seidemann recht klein, als er seiner Großmutter Louise Seidemann in Breslau diese Postkarte schickte. Interessanterweise war die Adresse, von der aus er schrieb, identisch mit der der Synagoge des Orts, Oldenburg. Obwohl die ersten Zeugnisse jüdischer Präsenz in Oldenburg aus dem 14. Jahrhundert stammen, sollte es bis 1855 dauern, bis die Gemeinde ihre erste zu diesem Zweck erbaute Synagoge eröffnete. Im Zuge der Emanzipation begannen Juden, zum Handel der Stadt beizutragen, indem sie unter anderem Schuhe, Bücher, Fahrräder und Musikinstrumente verkauften, aber auch als Viehhändler und in der Landwirtschaft. Ihr Anteil an der Bevölkerung ging selten über 1% hinaus. Dennoch kam es schon in den zwanziger Jahren zu Angriffen antisemitischer Schläger auf jüdische Geschäfte. 1933 hatte die Stadt 279 jüdische Einwohner aus einer Gesamtbevölkerung von 66.951. Als Michael diese Postkarte schrieb, waren von Dutzenden jüdischer Geschäfte und Betriebe nur zwei übrig geblieben.

Erfasst, gezählt, registriert

Erhebungen zu jüdischen Einwohnern im Landkreis Dillkreis

Dillenburg

Am 18. Juli verfasste der Landrat des hessischen Dillkreises einen Rundbrief an die Bürgermeister der Städte Herborn, Dillenburg und Haigern sowie die Gendarmerie-Beamten des Landkreises mit der Aufforderung, vierteljährlich eine Aufstellung der in der jeweiligen Gemeinde lebenden jüdischen Bevölkerung anzufertigen. Die Zählung in Herborn ergab, dass in der Stadt am 30. Juni 1938 51 Juden und Jüdinnen lebten und innerhalb der letzten drei Monate nur drei Personen ihre Heimat verlassen hatten. Diese auf lokaler Ebene ansetzende statistische Erfassung und Beobachtung der jüdischen Bevölkerung ergänzte andere, 1938 für das gesamte Reich erlassene, Maßnahmen zur Registrierung, wie etwa die zwangsweise Vermögensanmeldung, die Kennkartenpflicht oder die Änderung der Namen.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Rundbrief des Landrates des Dillkreises zur Erfassung der jüdischen Einwohner mit Antwortvermerk der Stadt Herborn ; Inv. Nr. Do2 88/1738.4

Aus dem „Roten Wien“ vertrieben

Die Nutzung öffentlichen Wohnungsbaus verwehrt, wird auch die Einreise in die Schweiz nicht gestattet

„Indem wir uns auf Ihre Eingabe vom 10. Juni 1938 berufen, müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass Ihrem Gesuche um Bewilligung der Einreise in die Schweiz zur Zeit nicht entsprochen werden kann.“

Bern/Wien

Für einen eingefleischten Sozialdemokraten wie den Journalisten, Übersetzer und Schriftsteller Maurus (Moritz) Mezei, müssen die Veränderungen, die unmittelbar nach der ungehinderten Annexion des Landes durch Nazi-Deutschland in Österreich Platz griffen, doppelt problematisch gewesen sein. Während der Ära des „Roten Wien“, der ersten Zeit demokratischer Regierung der Stadt von 1918 bis 1934, war Familie Mezei in den Karl-Marx-Hof, einen Gemeindebau (Komplex von Sozialwohnungen) gezogen. Von 1938 an waren „nicht-arische“ Familien wie die Mezeis mit der Ausweisung aus dem Komplex bedroht. Während nach dem Regierungswechsel anfänglich der Mieterschutz auch für Juden in Kraft blieb, galt er nicht für Gemeindebauten. Am 10. Juni hatte Mezei die Einwanderung in die Schweiz beantragt, doch die Antwort, geschrieben am 14. Juli, fiel negativ aus: Nur wenn er ein Einreisevisum für ein überseeisches Land beschaffe, würden die Schweizer Einwanderungsbehörden seinen Fall erneut überprüfen und ihm möglicherweise vorläufiges Asyl gewähren.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Brief der Eidgenössischen Fremdenpolizei an Maurus Mezei ; Inv. Nr. 20991/ 26

Das Loew-Sanatorium

Jüdische Ärzte werden arbeitslos als das bekannte Sanatorium schließt

„Zahlreiche jüdische Ärzte in Wien haben durch die Schließung des berühmten Loew-Sanatoriums ihren Lebensunterhalt verloren.“

Wien

Bis zu seiner zwangsweisen Schließung, von der die Jewish Telegraphic Agency am 7. Juli 1938 berichtete, diente das Loew-Sanatorium als Privatkrankenhaus für Wohlhabende in Wien. Prominente jüdische und nicht-jüdische Patienten kamen hierher, um sich behandeln oder operieren zu lassen. Unter den vielen illustren Patienten der Einrichtung waren der Philosoph Ludwig Wittgenstein, der Komponist Gustav Mahler, der Maler Gustav Klimt und die Gesellschaftsdame und Komponistin Alma Mahler-Werfel. Der Bericht der JTA erwähnt insbesondere die jüdischen Ärzte, die infolge der Schließung des Krankenhauses ihre Anstellung verloren. Laut der von den Nazis aufgestellten Kriterien waren unter Wiens 4900 Ärzten nicht weniger als 3200 Juden und „Judenstämmlinge“, während etwa ein Drittel der Ärzte im ganzen Land jüdischer Abkunft waren.

Gestapo-Schutzhaftbefehl

Malerin Lea Grundig im Dresdner Gerichtsgefängnis

Berlin/Dresden

Der Gestapo-Schutzhaftbefehl vom 29. Juni 1938 bestätigte die bis dahin formell nur vorläufig gültige Festnahme der jüdischen und kommunistischen Malerin Lea Grundig (siehe auch Eintrag vom 1. Juni). Nach ihrer Verurteilung wegen Hochverrats war Grundig im Dresdner Gerichtsgefängnis.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Schutzhaftbefehl der Zentrale der Geheimen Staatspolizei Berlin für Lea Grundig; Inv.Nr. Do 62/1126.4

Leberknödel, Weihnachtsstollen, Mazzenklößchen

Der Nationalsozialismus zerstört im Nu, was langsam wuchs

Krumbach

In Anni Buffs privatem Kochbuch, auf den 25. Juni 1938 datiert, überwogen eindeutig die traditionellen bayerischen Gerichte, wie Leberknödel, Weihnachtsstollen und Topfenkräpfle, gegenüber den jüdischen, wie z.B. Mazzenklößchen. Die jüdische Gemeinde in ihrem Geburtsort Krumbach war gut integriert. Seit ihrem Höchststand Anfang des 19. Jahrhunderts, als sie etwa 46% der Bevölkerung ausmachte, war sie erheblich zurückgegangen, und 1933 waren nur noch 1,5% der Krumbacher Bevölkerung jüdisch. Trotz dieser unwesentlichen Präsenz von Juden machte sich der Nationalsozialismus mit seiner fanatisch anti-jüdischen Botschaft schnell breit, und noch bevor er zur nationalen Politik wurde, kam es in der kleinen Stadt zur Belästigung von Juden durch SA-Leute. 1938 wurden die Übergriffe so unerträglich, dass Annis Vater Julius, der mit Polstermaterial handelte, Möglichkeiten zu untersuchen begann, an sichereren Ufern ein neues Zuhause zu finden, etwa in den Vereinigten Staaten, der Dominikanischen Republik oder Schanghai. Nicht einmal die Tatsache, dass er im Ersten Weltkrieg einen Bruder verloren und selbst im Königlich Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 16 gedient hatte – an der Seite eines jungen Österreichers namens Adolf Hitler – trug dazu bei, seine Position gegenüber den Nazi-Behörden zu verbessern.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Anni Krantz, AR 11284

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Ruhe bewahrt

Gestapo zieht unverrichteter Dinge ab

„Falls sie mich verhaften wollen, müssten sie auch meine zwei kleinen Buben, die ohne Pflege jetzt dastehen würden, mit mir mitnehmen, oder sie sollen circa 6 Wochen warten, bis meine Frau vom Krankenhaus zurück ist.“

Linz

Seit Adolph Markus am 20. April mit Verwandten in Wien die Möglichkeit der Auswanderung besprochen hatte, nahm er zwei bis dreimal wöchentlich in der Synagoge Englischunterricht. Am 29. April war sein Schwager von der Gestapo festgenommen worden, und die Spannung und Nervosität des Ehepaars Markus begann sich auf die Kinder zu übertragen. Zwei Wochen später war Frau Markus von der Gestapo bezüglich des Wertes ihres gesamten Besitzes, einschließlich eines Hauses, verhört worden. Schließlich, am 18. Juni, erschienen zwei Gestapo-Beamte in der Wohnung der Familie: Während sie den Inhalt einiger Schachteln durchgingen, versuchte einer der beiden, Adolph Markus zu inkriminieren, indem er ein kommunistisches Flugblatt zwischen seine Papiere schmuggelte. Markus brachte die Ruhe und Selbstsicherheit auf, die Beamten darauf hinzuweisen, dass er nie in irgendeiner Weise politisch aktiv gewesen sei. Sein Hinweis auf seinen Frontdienst im Ersten Weltkrieg, zusammen mit der Bemerkung dass sie, falls sie ihn festnehmen wollten, auch seine beiden kleinen Söhne würden mitnehmen müssen, da ihre Mutter im Krankenhaus sei, brachte sie von ihrem Vorhaben ab. Sie zogen ab – unter der Drohung, sechs Wochen später wieder zu kommen, falls er nicht aus eigenen Stücken das Land verließe.

Die Angst vor Freigeistern

Nationalsozialistische Spitzel im öffentlichen Raum

„Unter den von der Polizei aufgesuchten Gaststätten waren das Café Trump, eines der beliebtesten Cafes der Stadt, wo ein halbes Dutzend Juden aufgegriffen wurden, und Café Meudtner.“

Berlin

Am 17. Juni berichtet die Jewish Telegraphic Agency von erneuten Durchsuchungsaktionen der Nazibehörden in den letzten vier Tagen in Berlin und anderswo im Land, bei denen allein zwischen dem 13. und dem 17. Juni 2000 Juden festgenommen worden seien. Während der Weimarer Republik hatte es eine blühende „Kaffeehauskultur“ gegeben – Künstler und Intellektuelle betrachteten gewisse Cafes praktisch als ihr Zuhause, wo sie halbe Tage und Nächte verbrachten, um Kunst, Literatur und Politik zu diskutieren. Unter den Nazis verschwand dieses Phänomen schnell. Wahre Kunst ist frei, und wie alle autoritären Regimes, fürchteten die Nazis subversive Aktivitäten unter jenen freien Geistern. Der öffentliche Raum war mit Spitzeln übersät. Zum Zeitpunkt der Juni-Aktion, in deren Kontext diese Durchsuchungsaktionen durchgeführt wurden, war die ursprüngliche Klientel weitgehend verschwunden. Die Razzien zielten vorgeblich auf „asoziale Elemente“ ab. Tatsächlich jedoch stellten sie die erste Massenfestnahme von Juden dar. Propagandaminister Goebbels fasste die Absicht mit den markigen Worten „Die Losung ist Schikane, nicht Gesetz“ zusammen.

Ein Strohhalm

Gelingt eine Bürgschaft trotz dünnem Kontakts?

„Es ist sehr schwierig, Ihnen zu schreiben, denn ich bin sicher, Sie haben keine Ahnung, wer ich bin.“

Wien

Erika Langstein war eine junge Englischlehrerin und lebte in Wien. Im Juni 1938, nachdem sie bereits einige Monate lang die Verfolgung der Juden in der österreichischen Hauptstadt persönlich miterlebt hatte, schickte Erika einen Brief an Donald Biever, einen amerikanischen Staatsbürger, und flehte ihn an, ihr und ihrem jüdischen Vater zu helfen, aus Österreich zu entkommen, indem er eine Bürgschaft übernahm. Nichts daran wäre ungewöhnlich, wäre da nicht der Umstand, dass die junge Frau Mister Biever nur ein einziges Mal begegnet war, kurz, auf einer Bahnfahrt ein Jahr zuvor, und seither nicht mit ihm kommuniziert hatte. Ohne sich durch den Mangel an Kontakt von ihrem Vorhaben abbringen zu lassen, beschreibt Erika die Hoffnungslosigkeit der Situation in Wien. Für den Fall, dass Biever sich nicht an ihre Begegnung erinnern könne, heftet sie ihr Foto bei.

Der Stölpchensee

Das letzte öffentliche Schwimmbad für Juden in Berlin

Berlin/Stölpchensee

Bereits 1935 hatte die Parteipresse eine Kampagne geführt, Juden aus öffentlichen Schwimmbädern zu verdrängen, wobei auf „unliebsame Vorkommnisse“ verwiesen oder die Öffentlichkeit vor der „Gefahr“ gewarnt wurde, die angeblich von den Juden ausgehe. Fast überall wurden Schilder mit Aufschriften wie „Juden haben in diesen Anlagen keinen Zutritt“ aufgestellt. Der Stölpchensee, einer der Seen in der Umgebung Berlins, war das letzte öffentliche Schwimmbad, zu dem die Berliner Juden Zutritt hatten. Fritz und Friedel F. waren verheiratet und lebten in Berlin, wo Fritz Inhaber eines Lampengeschäfts war. Im Juni 1938 war das Wochenendhaus am Stölpchensee für die Familie noch immer ein Refugium von der Stadt und von antisemitischen Schikanen.

QUELLE

Institution:

Private Collection William J. Davidson

Original:

“From the Freudenthal Family Album”

Antisemitische Prämissen

Ungarischer Abgeordneter kritisiert Gesetzesvorlage

„Der Gesetzesentwurf, der Juden im wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes Schranken auferlegt, wurde heute in der Abgeordnetenkammer durch den Abgeordneten Graf Aponyi [sic] scharf angegriffen. Er erklärte, dass er, abgesehen von seiner Unmenschlichkeit, ungerechtfertigte Beleidigungen und Betrachtungen gegen die ungarischen Juden enthalte.“

Budapest

Von Anfang an hatte die Horthy-Regierung aus ihrem Antisemitismus kein Geheimnis gemacht. Tatsächlich war Ungarn 1920 das erste europäische Land nach dem Ersten Weltkrieg, das einen Numerus Clausus einführte, um den Zutritt von Juden zu höherer Bildung einzuschränken. Zunächst hauptsächlich als Reaktion auf territoriale und Bevölkerungsverluste im Ersten Weltkrieg, später im Zuge der Weltwirtschaftskrise, gab es in Ungarn eine auffallende Vielzahl faschistischer und rechtsextremer Bewegungen, von denen sich einige „nationalsozialistisch“ nannten. Eine dieser Gruppierungen war die 1935 gegründete, fanatisch antisemitische Pfeilkreuzlerpartei. Antisemitismus war weit verbreitet, als 1938 eine Gesetzesvorlage eingebracht wurde, um die wirtschaftliche und kulturelle Freiheit der Juden im Land einzuschränken. Dieser Bericht der Jewish Telegraphic Agency vom 11. Mai beschreibt die heftige Kritik des Abgeordneten Graf Apponyi an der Gesetzesvorlage, in der er auf ihre fehlerhaften Prämissen hinwies, und ihre Verteidigung durch Dr. Istvan Milotaj, den Abgeordneten einer Rechtsaußen-Partei, der behauptete, Juden könnten nicht assimiliert werden, und selbst Persönlichkeiten wie Disraeli und Blum seinen „spirituell Juden geblieben.“

Liesl

Politische Gegner im Polizeigefängnis

„In Deiner Angelegenheit mache ich nach wie vor alle notwendigen Wege. Die Herren zeigen sich äußerst entgegenkommend, können aber infolge Überbürdung nicht alles so rasch erledigen“.

WIEN

Schon während der Jahre des autoritären Regimes, das 1934 in Österreich eingeführt worden war („Austrofaschismus“), war das Polizeigefängnis Rossauer Lände in Wien (von den Einheimischen „Liesl“ genannt) als Haftanstalt nicht nur für Kriminelle, sondern auch für politische Gegner benutzt worden. Nach der Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland am 12. März 1938 wurden von hier aus die ersten 150 Österreicher ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Edmund Wachs wurde im April 1938 in der „Liesl“ in „Schutzhaft“ genommen, ein bequemes Mittel in den Händen der Nazibehörden, um Juden und politische Gegner loszuwerden, da sie willkürlich verhängt werden konnte und den Gefangenen kaum oder gar keinen Rückgriff auf Rechtsbeistand ließ. Auf dieser Postkarte versichert ihm sein Bruder, Rechtanwalt Dr. Karl Wachs, er täte alles Notwendige, um seinen Fall zu unterstützen und bittet ihn um Geduld.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Edmund und Berta Wachs, AR 25093.

Original:

Archivbox 1, Ordner 6

Glück im Unglück

Eine Geschäftsreise hält Alfred Schütz im sicheren Ausland

„Es ist auch nach allen Erfahrungen nur zu berechtigt, wenn ihre Frau in der Korrespondenz höchst vorsichtig ist und Sie bittet, es ebenso zu sein. Der Verdacht der Verbreitung von ‘Greuelnachrichten’ genügt, um einen in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen“.

London

Alfred Schütz, ein Weltkriegsveteran, hatte an der Universität Wien Jura, Soziologie und Philosophie studiert. Seit Ende der zwanziger Jahre war er bei dem Internationalen Bankhaus Reiter & Co angestellt. Während des deutschen Einmarsches in Österreich war er zufällig auf Geschäftsreise in Frankreich. Er entschloss sich, im Ausland zu bleiben. Ein Freund, der von London aus Wien besucht hatte, schreibt über sein Gespräch mit Schütz‘ Ehefrau Ilse. In seinem Brief rät er Schütz davon ab, nach Österreich zurückzukehren, da das neue Regime dem internationalen Bankwesen gegenüber misstrauisch sei. Angesichts der drohenden Gefahr erschien es Schütz als bessere Option, sich vorübergehend von der Familie zu trennen, als in seine Heimatstadt zurückzukehren.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Alfred Schutz, AR 25500

Original:

Archivbox 1, Ordner 18

Kontaktabbruch

Ein Berliner verlässt die jüdische Gemeinschaft

Berlin

Hoffte Hans Petzold, ein 36jähriger gebürtiger Berliner, durch seinen Austritt zunächst aus dem Judentum und dann aus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin sein Los zu verbessern? Unter einem Regime, das von dem Gedanken rassischer Reinheit besessen war, war es kaum zu erwarten, dass Schritte dieser Art einen Unterschied machen würden. Laut der „Austrittskartei“ der Jüdischen Gemeinde zu Berlin trat Petzold innerhalb eines Monats offiziell sowohl aus der Berliner Gemeinde als auch aus dem Judentum aus.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Sammlung:

Karteikarte aus der Austrittskartei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin zum Austritt von Hans Petzold aus dem Judentum

Original:

CJA, 2 A 1

Ein Ort der Zuflucht wird bedroht

Das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg

„Die Isenburger Polizei stellte uns heute das Ultimatum entweder Esther Kleinmanns Papiere ihr bis spätestens den 25. ds. vollzählig (Abmeldung und Pass) zu übergeben oder aber würde Esther Kleinmann ausgewiesen.“

Neu-Isenburg/Darmstadt

Bertha Pappenheim (1859–1936), geboren und aufgewachsen in Wien, war eine führende deutsch-jüdische Frauenrechtlerin. Besser bekannt als die Patientin „Anna O.“ aus Sigmund Freuds „Studien zur Hysterie“, siedelte sie 1880 nach Frankfurt a. M. über, wo sich der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit allmählich vom Karitativen zur sozialen Stärkung von Frauen verlagerte. 1907 richtete sie in Neu-Isenburg ein Heim für schutzbedürftige junge jüdische Frauen ein, das sie als ihre wichtigste Errungenschaft betrachtete. Unter den Nationalsozialisten musste das Heim sämtliche Bewohnerinnen polizeilich melden. In dem hier abgebildeten Brief bittet die Sekretärin des Heims Rabbiner Dr. Merzbach im Bezirksrabbinat Darmstadt, umgehend die Papiere der Heimbewohnerin Esther Kleinmann zu schicken, da diese sonst mit Ausweisung zu rechnen habe.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Sammlung:

Sammlung Familien Katz/Rubin, Schenkung von Sally und Chaim Katz

Kein Lohn für Patriotismus

Die Zeitung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens wird von den Nazis eingestellt.

„Dies ist das zweite jüdische Blatt innerhalb einer Woche, das gesperrt wurde.“

Berlin

Die „C.V.-Zeitung, Blätter für Deutschtum und Judentum“ war das Organ des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Der Central-Verein war liberal-konservativ ausgerichtet und strebte danach, die Interessen aller Juden, ungeachtet ihrer religiösen Zugehörigkeit, zu vertreten. Er sah es als seine Aufgabe, das Selbstbewusstsein der deutschen Juden zu heben und deren Liebe „zu Deutschtum und Judentum“ (Jüdisches Lexikon 1927) zu vertiefen. Der 30. Januar 1938 war für die C.V.-Zeitung der vorläufig letzte Tag eines geordneten Betriebsablaufs. Am 31. ordneten die Nazis die vorübergehende Einstellung ihres Erscheinens an – ohne Nennung von Gründen.

Flüchtlinge zählen

Die Zerstreuung des deutschen Judentums

„Die Vereinigung zur wissenschaftlichen Erforschung von Bevölkerungsproblemen berichtete heute, die jüdische Bevölkerung in Deutschland sei seit Anfang 1933 um ein Drittel zurückgegangen. Laut den Berechnungen von Dr. Kurt Zielenziger, die in der Zeitung der Vereinigung, "Population", veröffentlicht wurden, haben bis Ende 1937 insgesamt 135.000 Juden Deutschland verlassen.”

Amsterdam

Nach der Machtergreifung floh der Wirtschaftshistoriker und Journalist Kurt Zielenziger mit Frau und Sohn nach Amsterdam. Dort gehörte er zu den Mitbegründern des „Jewish Central Information Office“, dessen Ziel es war, die Verfolgung der Juden durch die Nazis zu dokumentieren und die Informationen zu verbreiten. In dieser Mitteilung zitiert die Jewish Telegraphic Agency seine Berechnung der jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland nach Zielländern. Laut Zielenziger hatten bis Ende 1937 etwa 135.000 Juden das Land verlassen.

Aus Markus wird Mischa

Der fünfzehnte Geburtstag eines deutsch-jüdischen Flüchtlingskindes in Moskau

Moskau

Markus Wolf (mitte im Bilde) wurde 1923 als Sohn des kommunistischen Arztes und Schriftstellers Friedrich Wolf (rechts) in Hechingen in der Schwäbischen Alb geboren. Nach der Machtergreifung emigrierte die Familie zunächst in die Schweiz, später nach Frankreich und 1934 in die Sowjetunion. Dort wohnte Familie Wolf im Hotel Lux, wo viele deutsche Kommunisten untergebracht waren. Während der Jahre des Großen Terrors (1936-38) folterte und verhörte das Stalin-Regime, das gegenüber den Ausländern zutiefst misstrauisch war und sie für potentielle Spione hielt, zahlreiche deutsche Kommunisten. Unter den etwa 600.000 Opfern der Säuberungsaktion waren 178 deutsche Kommunisten – überwiegend Bewohner des Hotel Lux. Familie Wolf überlebte.

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