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Nicht das Land ihrer Träume

Emigranten haben keine Wahl

„Ich bemühe mich aber ausserdem noch weiter um U.S.A. und England, und werde dann in Ruhe entscheiden, wo es für mich am besten sein wird. Ich habe nicht viel Lust in Pal. zu bleiben.“

Siena/Turin

Von dem Gedanken, in Palästina zu leben, war Stella nicht begeistert. Wie ihre Freundin Anneliese Riess, der sie am 28. Dezember ihre Gefühle mitteilte, war sie nach Italien geflohen. Aber auch hier war sie als Jüdin nicht willkommen: Laut der neuen Rassengesetze waren nicht in Italien geborene Juden verpflichtet, das Land innerhalb eines halben Jahres zu verlassen. Die 2000 unter den 10000 ausländischen Juden, die sich bereits vor 1919 in Italien niedergelassen hatten, waren von der Bestimmung ausgenommen. Wenigstens hatte Stella ein von der Mandatsregierung ausgestelltes Einwanderungs-Zertifikat für Palästina, und in einer Tel Aviver Klinik wartete auf sie eine unbezahlte Stelle, die freie Wohnung und Verpflegung versprach. Dennoch bemühte sie sich weiter um eine Einreisegenehmigung nach England oder in die USA. Tatsächlich war selbst eine unbezahlte Stelle mehr als viele eingewanderte Ärzte in Palästina erhoffen konnten: seit 1936 herrschte ein Überschuss an Ärzten im Land, und eine neue Einwanderungswelle nach der Annexion Österreichs im Februar 1938 („Anschluss“) hatte die Situation noch verschärft.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Anneliese Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, ordner 10

Endlich Zusagen

Ein junger Tagebuchschreiber dokumentiert die Zeit vor der Auswanderung

„Erst hatten wir sehnsüchtig auf eine Antwort gewartet, und jetzt kommen sie alle zusammen.“

Wien

Immer einmal wieder beschäftigt sich das Tagebuch des Wiener Jungen Harry Kranner-Fiss mit Themen, die einem Zwölfjährigen angemessen sind: Unfugtreiben in der Schule, Begeisterung über neue Kleider, ein „Erwachsenenhaarschnitt“, Spiele mit Freunden. Aber meist reflektieren Harrys eloquente Einträge das ausgeprägte Bewusstsein um die bedrohte Situation der Juden in Österreich 1938: sie befassen sich mit der Deportation eines Onkels ins Konzentrationslager Dachau, berichten von einer Tante, die aus ihrer Wohnung ausgesperrt und deren Wohnungsschlüssel konfisziert wurde, mit den Angst- und Sorgentränen seiner Mutter, mit Ausgangssperren, öffentlicher Demütigung und Gewalt. Kein Wunder, dass sein Stiefvater unablässig darum bemüht war, einen Weg zu finden, das Land zu verlassen. Verheißungsvolle Antworten ließen lange auf sich warten, doch am 7. Dezember, Tage nachdem die Familie das Versprechen einer Bürgschaft zur Einreise in die Vereinigten Staaten bekommen hatte, hielt Harry aufgeregt fest, auch aus Australien sei eine positive Antwort eingegangen. Laut einem früheren Tagebucheintrag hatte sein Stiefvater Anfang November bei der britischen Kommission für Australien, die sich gerade in Wien aufhielt, vorgesprochen, war aber auf eine Wartezeit von acht bis neun Monaten vorbereitet worden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, ordner 12

Kunst in Kisten

Die Erbin eines Kunstsammlers trifft Vorbereitungen zur Auswanderung

„Gegen die Ausreise der Spitzer, Hanna, Privatlehrerin habe ich keine Bedenken.“

Wien

Hätte die Geschichte Österreichs einen normalen Verlauf genommen, so wäre die Privatlehrerin Hanna Spitzer wohl in Wien geblieben und als geachtete Bürgerin dort alt geworden. Als Tochter des 1923 verstorbenen Juristen und Kunstförderers Dr. Alfred Spitzer war sie Miterbin einer bedeutenden Kunstsammlung, die Werke solcher Größen wie Kokoschka und Slevogt umfasste. Auch Egon Schiele war darin vertreten – u.a. mit einem Portrait Alfred Spitzers, der sein Rechtsanwalt und Förderer gewesen war und seinen Nachlass verwaltet hatte. Doch die Flut antisemitischer Maßnahmen, die durch den „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland losgetreten worden war, machte das Bleiben unerträglich und gefährlich: Diese Abschrift einer steuerlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung vom 24. November 1938 gibt Zeugnis von Hanna Spitzers Bemühungen, die Papiere zusammenzustellen, die für die Auswanderung benötigt wurden. Den Transport von 11 Kisten Umzugsgut, darunter Bilder, nach Melbourne und eine weitere Sendung an die Adresse ihrer Schwester Edith Naumann in Haifa hatte sie bereits im Januar in die Wege geleitet.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Hanna Spitzer, AR 25537

Original:

Archivbox 2, Ordner 2

Neue Hoffnung auf Hilfe

Die Feldsteins in Wien hoffen auf Hilfe von den Feldsteins in Los Angeles

„Es hat mich sehr gefreut zu hören, dass Sie uns helfen werden, nach Amerika zu kommen. Ich hoffe Ihre Kinder sind im selben Alter wie ich, und ich werde gute Freunde haben.“

Wien/Los Angeles

19 Jahre lang hatte Fritz Feldstein zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten bei einer Wiener Bank gearbeitet. Doch 1938, nachdem Deutschland das benachbarte Österreich annektiert hatte, verlor er seine Stelle. Am 5. Juli ließ sich die Familie beim Amerikanischen Generalkonsulat registrieren, aber zur Einwanderung wurden Bürgschaften benötigt. Nach Monaten zutiefst beunruhigender politischer Veränderungen wagte Fritz Feldstein einen ungewöhnlichen Schritt: Am 16. Oktober wandte er sich an einen Julius Feldstein in Los Angeles, von dem er hoffte, er sei ein Verwandter, und appellierte an “die wohlbekannte amerikanische Hilfsbereitschaft”. Bald entwickelte sich ein Briefaustausch, an dem auch Fritz’ Ehefrau Martha und die gemeinsame Tochter Gerda beteiligt war. Die Elfjährige war nicht nur eine geschickte Klavierspielerin, sie hatte offenbar auch ein ausgesprochenes Sprachtalent: Am 20. November schreibt sie den Feldsteins zum ersten Mal – auf Englisch.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Fritz Feldstein Familie, AR 3250

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Politische und andere Erdbeben

Die Perspektive eines Kindes

„Es ist ein Glück, das ich schon mein Tagebuch angefangen habe! Denn wir leben ja in einer so abwechslungsreichen Zeit!“

Wien

Tage nach seinem 12. Geburtstag am 15. April 1938 musste Harry Kranner, zusammen mit all seinen jüdischen Schulkameraden, das Realgymnasium Kandlgasse in Wien verlassen. Im November waren Harrys Mutter Gertrude und sein Stiefvater Emil Fichmann damit beschäftigt, Vorbereitungen zur Auswanderung zu treffen. Harry zeigt sich sehr enthusiastisch über die Aussicht des Reisens und über die verschiedenen Ausrüstungsgegenstände, die er bekommt: im Eintrag für den 8. November in dem neuen Tagebuch, das ihm seine Mutter gegeben hat, damit er seine Auswanderungserfahrungen festhalten kann, berichtet er begeistert von seinen neuen Lederhandschuhen. Aber der größte Teil des Eintrags beschäftigt sich mit dem Erdbeben in der vergangenen Nacht.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Abschied für immer?

Trennung um des Überlebens Willen

„Edith lernt jetzt fleissig spanisch, denn es besteht eine leise Aussicht, dass sie nach Südamerika kommt. Wir sind sehr traurig darüber, denn wir sind uns klar, dass das einen Abschied fürs Leben bedeutet, und wir sind trotz des Wissens um die Notwendigkeit ihrer Ausreise fassungslos.“

Wien/Brooklyn

Aus der blühenden neunzehnjährigen Idealistin Hedwig Weiler, in die sich Franz Kafka 1907 bei einem Ferienaufenthalt in Triesch (Mähren) verliebte, ist inzwischen eine promovierte Akademikerin und die Ehefrau des Ingenieurs Leopold Herzka geworden. Die Ereignisse des Jahres 1938 in Österreich haben zum Auseinanderdriften ihres Freundeskreises in alle Himmelsrichtungen geführt. Am 6. XI. 1938 zählt sie in einem Brief an ihre ehemaligen Wiener Nachbarn, die nach Amerika ausgewanderte Familie Buxspan (später Buxpan), eine lange Reihe von Verwandten und gemeinsamen Freunden auf, die entweder bereits emigriert sind oder beabsichtigen, es zu tun. Besonders schwer ist für Hedwig Herzka die Aussicht auf die Auswanderung ihrer Tochter Edith nach Südamerika, und ihre Nerven liegen blank.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Max Buxpan, AR 6141

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Ein Mädchen geht voran

Hoffnung auf eine Zukunft in Palästina

„Ich stel mir vor das es Euch dorten gut geht. Es kommt mir vor nach eueren Schreiben wie in einem Paradis. Liebe Lotte du kannst mir glauben ich möchte an euerer Stelle sein, den das Leben hier ist sehr traurig und fad überhaupt jetzt wo Benno nicht zuhause ist.“

Wien/Gan Schmuel

Die Ankunft von Gertrude Münzers erstem Brief aus Palästina war ein Anlass zu Freude, Erleichterung und Hoffnung für ihre Familie, die in Wien zurückgeblieben war. Die Münzers waren eine gut integrierte Familie, aber nach der Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland wandte sich das Blatt, und sie gerieten zunehmend in Bedrängnis: Zunächst wurden sie aus ihrer Wohnung geworfen, dann verlor Moses Münzer seine Stelle. Mit Unterstützung ihrer Eltern ging Gertrude als einziges Mitglied ihrer Familie mit einer zionistischen Jugendgruppe nach Palästina. Angeregt durch ihr Beispiel, war ihr älterer Bruder Benno auf Hachscharah gegangen. In seiner Ratlosigkeit bittet ihr Vater in seinem Antwortbrief seine 15jährige Tochter inständig, im Kibbuz oder anderswo um Unterstützung für ihn nachzusuchen, damit er mit dem Rest der Familie nachkommen kann.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gertrude Knopf Familie, AR 11692

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Die Macht der Hoffnung

Ein bloßes Versprechen gibt neue Hoffnung

„Niemand, der die Umstände nicht kennt, kann sich vorstellen, in welch trostloser Verfassung wir in den letzten Monaten waren und wie verändert wir nun sind, nach Ihrem freundlichen Brief. Wir sind voller neuer Lebenskraft, Mut und Bereitschaft, zu arbeiten - und all das ist Ihnen zu verdanken.“

Wien/Brooklyn

In Abwesenheit näherer Verwandter in Amerika blieb Familie Metzger in Wien nichts anderes übrig, als einen Cousin 2. Grades, Rechtsanwalt Leo Klauber in Brooklyn, um Hilfe zu bitten. Herr Klauber war nicht imstande, seinen österreichischen Verwandten selbst Bürgschaften zu beschaffen, versprach aber, sich um sie zu bemühen. In Eva Metzger-Hohensteins Antwort auf sein Versprechen vom 1. November 1938 ist das Ausmaß ihrer Erleichterung deutlich spürbar: Nach Monaten der Angst und der Verzweiflung fühlten sich die Metzgers Dank ihres Cousins durch die realistische Aussicht auf Emigration neu belebt.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Korrespondanz zwischen Laura und Leonard Yaffe, AR 11921

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Source available in English

Abschied im Schatten der Politik

In seinem Tagebuch beschäftigt sich Adolph Markus politischen Veränderungen und mit seinen Vorbereitungen zur Auswanderung

„Chamberlain und Daladier erklärten nach ihrer Rückkehr zu ihren Völkern, dass nun für lange Zeit gesichert ist und das mit Hitler vereinbart wurde, bei jeder eventuell noch kommenden Differenz wieder zu einer Konferenz zusammen zu treten.“

LINZ

Ende Oktober 1938 blickt Adolph Markus auf einen ereignisreichen Monat zurück: Nach der Münchener Konferenz, auf der Repräsentanten aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien beschlossen, die Tschechoslowakei habe ihre Grenzgebiete (Sudetenland) im Austausch für Frieden an Deutschland abzutreten, hatten deutsche Soldaten diese Gebiete besetzt, in der eine beträchtliche deutsche Minderheit von etwa 3 Millionen Menschen lebte. Wie Markus erklärt, hatte die Tschechoslowakei mit dem Sudetenland ihre Abwehrlinie verloren. Laut seinem Tagebucheintrag vom 31. Oktober wich die Erleichterung der Menschen in England und Frankreich über den verhinderten Krieg bald tiefem Misstrauen bezüglich Hitlers wahrer Absichten. Was seine persönlichen Angelegenheiten betrifft, so erwähnt der Verfasser einen Friseur-Lehrgang und Englisch-Unterricht, den er in Wien nimmt, offensichtlich in Vorbereitung auf die Auswanderung. In der Zwischenzeit war in Erwartung dessen, dass in Kürze alle Juden aus seiner Heimatstadt Linz ausgewiesen würden, die Hälfte des Inhalts seiner Wohnung verkauft worden.

Die Vertreibung polnischer Juden

Die Vertreibung polnischer Juden

Köln

Da es einen massiven Zustrom polnischer Juden aus dem von Nazi-Deutschland annektierten Österreich befürchtete, verabschiedete das polnische Parlament im März 1938 ein Gesetz, das es ermöglichte, Menschen die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, die mindestens fünf Jahre außer Landes waren. Am 15. Oktober erging eine Verfügung, wonach nur Personen mit einem Prüfvermerk des polnischen Konsulats die Einreise gestattet sei. Die Verfügung sollte am 30. Oktober in Kraft treten. Angesichts der Anwesenheit von weit über 70.000 polnischen Juden im Reichsgebiet entschloss sich das Regime zu schnellem Handeln: Im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“ vom 27. bis zum 29. Oktober wurden tausende polnischer Juden ausgewiesen. Viele dieser polnischen Staatsbürger hatten wenig oder überhaupt keine Verbindung zu ihrem Ursprungsland und nichts und niemanden, zu dem sie hätten zurückkehren können. Eines der Opfer der Aktion war Ida, die Haushälterin der Familie Schönenberg in Köln: Am 29. Oktober schreibt Dr. Schönenberg, seit drei Jahren Idas Dienstherr, an seinen Sohn Leopold in Palästina, wie sich die junge Frau mit gerade einmal 3 1/2 Stunden Vorwarnung bei der Polizei habe einfinden müssen. Ida war gebürtige Kölnerin und hatte einen Verlobten in Deutschland.

QUELLE

Institution:

NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Original:

Best. 46

Looking toward Palestine

The Münzer family hopes for a reunion in Palestine

After Moses Münzer loses his job as a tailor, his wife, Lisa, is forced to work in a soup kitchen. Now the family hopes for a future in Palestine.

WIEN

This photograph, taken in October 1938, shows Moses Münzer, a tailor in Vienna, and his wife Lisa, with their five children, Elfriede, Benno, Nelly, Gertrude and Siegfried. After the “Anschluss,” Moses Münzer, like many Jews, lost his job. Lisa Münzer started working as a cook in the soup kitchen of the Brigittenauer Tempel on Kluckygasse, sometimes assisted by her children. By October 21st, 15-year-old Gertrude was on her way to Palestine on Youth Aliyah, an organization founded by Recha Freier, the wife of an orthodox rabbi in Berlin, before the Nazi rise to power. Its goal was to help Jewish youth escape anti-Semitism in the Reich and settle in Palestine. Gertrude left on her own, but the intention was for the family to reunite in Palestine.

Es kommt noch schlimmer

Nach dem Tod ihres Mannes ist die Sängerin Amalia Carneri gezwungen, ihren Besitz zu verkaufen, und bei fremden Menschen einzuziehen.

Wien/New York

Amalia Carneri hatte bessere Tage gesehen: einst eine gefeierte Opern- und Konzertsängerin, musste sie nun gleichzeitig mit dem Tod ihres Ehemanns, des Mineninspektors Heinrich Pollak, der Notwendigkeit, das langjährige Zuhause der Familie in Wien aufzugeben und der Besorgnis erregenden politischen Situation fertig werden. In diesem Brief vom 19. Oktober 1938 an den älteren ihrer beiden Söhne, Fritz, der nach Amerika geflohen war, beschreibt sie in großem Detail ihre Schwierigkeiten beim Verkauf ihres Besitzes: selbst mit der Unterstützung eines wohl etwas unseriösen Helfers muss sie unter Wert verkaufen. Ungewiss, was sie an Witwenpension zu erwarten hat und mit nur einer vagen Hoffnung, sich eines Tages Fritz in Amerika anzuschließen, ist sie in einem Zustand spürbarer Unruhe, und ihre Söhne sind ihr einziger Trost.

QUELLE

Institution:

Courtesy of Nancy Polk, Woodbridge, Connecticut

Original:

Brief von Amalia Cameri an ihrem Sohn, Fritz Pollak

Neues Unternehmen, altes Netzwerk

Was bedeutet Auswanderung für einen Unternehmer?

„Erlauben Sie mir im Bezug auf meine Bürgschaft noch auszuführen, dass ich mein jährliches Einkommen nicht angegeben habe, weil die Hochhauser Leather Co Inc. erst vor kurzer Zeit gegründet wurde.“

NEW YORK/WIEN

In Wien war Hans Hochhauser gemeinsam mit seinem Bruder erfolgreicher Inhaber eines Ledermanufaktur- und Exportunternehmens gewesen. Doch bereits einen Tag nach dem „Anschluss“ hatte er alle Zelte abgebrochen und war mit seiner Frau Greta und seiner Tochter Ilse auf abenteuerlichem Wege aus Österreich geflohen: abgewiesen an der tschechischen Grenze, gelangte die Familie mit dem Zug in die Schweiz und von dort mit einem gecharterten Flugzeug nach England, von wo aus sie schließlich ihren Weg in die Vereinigten Staaten fand. In New York angekommen, musste Hans Hochhauser von vorn beginnen: seine neue Firma hieß „Hochhauser Leather Co Inc.“ In einem Schreiben an das amerikanische Generalkonsulat in Wien vom 14. Oktober 1938, mit dem er eine Bürgschaft für seinen Cousin Arthur Plowitz übermittelte, wies er darauf hin, dass er mit seiner neuen Firma zwar noch am Anfang stehe, aber auf große Teile seines alten Handelsnetzwerks zurückgreifen könne.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Hans und Grete Hochhauser, AR 12070

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Schwindende Fluchtwege

Geschlossene Grenzen, Ausweisungen

„Premierminister Jan Syrovy hat den Antrag zurückgewiesen, den Regierungsentscheid, Flüchtlinge aus Österreich zu deportieren, zu lockern.“

Prag

Seit dem „Anschluss“ hatte die Tschechoslowakei ihre Politik gegenüber Flüchtlingen aus Österreich, insbesondere gegenüber jüdischen, enorm verschärft. Die offiziellen Grenzübergänge waren österreichischen Juden verschlossen – viele waren gezwungen, ihren Weg in die Tschechoslowakei auf gefährlichen Pfaden über die Grüne Grenze zu bestreiten. Auch internationale diplomatische Interventionen, wie die der Liga der Menschenrechte, über die die Jewish Telegraphic Agency am 13. Oktober 1938 berichtete, konnten die Tschechoslowakei nicht von ihrem restriktiven Kurs abbringen. Sir Neill Malcolm, der Flüchtlingskommissar der Liga, hatte den tschechoslowakischen Premierminister dazu aufgerufen, die Praxis der Abschiebung österreichischer Flüchtlinge zu überdenken. Ohne Erfolg.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

„Czechs Refuse to Relax Policy on Refugees“

Source available in English

11 Kisten Besitz

Der Hausrat wird verschifft

Amtl. Hausbeschaugebühr und SS. Überwachungskommission drei 1/2 Tage: RM 75

WIEN

Ihren Visums-Antrag hatten der Zahnarzt Max Isidor Mahl und seine Frau Etta, eine Textilarbeiterin, schon vor einigen Monaten beim amerikanischen Konsulat in Wien eingereicht. Seitdem warteten Sie. Etta war gebürtige Polin, Max Isidor gebürtiger Ukrainer, und die amerikanischen Einwanderungsquoten für diese beiden Länder waren bereits gefüllt. Doch die Zeit drängte: diese Rechnung zeigt, dass die Mahls bereits in Oktober ihren kompletten Haushalt in die Vereinigten Staaten verschiffen ließen und damit in Sicherheit bringen wollten. Der Transport von Wien nach Hamburg und dann mit einem Frachter nach New York war eine teure Angelegenheit: Fast 800 Reichsmark kostete es das Ehepaar Mahl, die 11 Kisten mit ihrem Hausrat außer Landes bringen zu lassen.

 

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Lucie Blau Familie, AR 25419

Original:

Archivbox 1, Ordner 15

Au revoir Paris?

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

„Es ist mir unerhört wichtig, dass er mir die Erlaubnis gibt noch zehn Kameraden nach Mexiko hereinzubringen.“

Paris/Mexiko

Der Brief, den Joseph Roth an seinen Vetter Michael Grübel in Mexiko schickt, ist kurz. Zwar in vertrautem Ton, ansonsten aber auf die wichtigsten organisatorischen Angelegenheiten beschränkt, dankt Roth ihm für die Vermittlung eines Kontaktes zu einem Herrn Dor. Com. Silvio Pizzarello de Helmsburg. Dieser soll Roth dabei helfen, „zehn Kameraden nach Mexiko hereinzubringen.“ Wen genau Roth hier im Blick hat, bleibt offen. Außerdem bittet Roth seinen Vetter, sich auch um eine Einreisebewilligung für ihn selbst zu bemühen. 1933 war der berühmte Schriftsteller und Journalist nach Paris emigiert. Von dort aus hatte er seither zahlreiche Novellen und Essays veröffentlicht und für die Emigrantenpresse in verschiedenen Ländern geschrieben. Nun aber schien auch Roth mit dem Gedanken zu spielen, Europa zu verlassen.

 

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

Original:

Archivbox 2, Ordner 4

Entfernt verwandt

FREITAG

„Ich appelliere an Ihre Menschlichkeit und Ihren Sinn für Blutsverwandtschaft, wenn ich mir die Freiheit nehme, Sie zu bitten, mir bei meiner Immigration in die Staaten zu helfen und mir die notwendige Bürgschaft auszustellen.“

Wien/New York

Es muss Überwindung gekostet haben: Eva Metzger-Hohenberg schrieb dem entfernten Verwandten, aber ihr eigentlich völlig unbekannten Leo Klauber in Manhattan einen flehenden Brief. Ihre Lage sei prekär, für Juden sei in Deutschland kein Platz mehr. Maria Metzger-Hohenberg appellierte an Leo Klaubers „Menschlichkeit“ und seinen „Sinn für Blutsverwandtschaft“ und bat ihn, ihr und ihrer Familie Bürgschaften auszustellen. Dieser Brief aus Wien zeigt nicht nur, welche verzweifelten Maßnahmen manche jüdische Familien ergreifen mussten, um ihre Auswanderung zu ermöglichen. Er zeichnet auch ein lebendiges Bild von der Situation, in der sich viele Juden im Herbst 1938 befanden. Marias Eltern und ihr Bruder hatten ihr Fleisch-Geschäft aufgeben müssen. Der Großhandel ihres Ehemanns, der mehr als 140 Mitarbeiter beschäftigte, wurde „arisiert“. Faktisch bedeutete dies, dass er weit unter Wert verkauft werden musste. Das Schicksal der Metzger-Hohenbergs steht exemplarisch für das unzähliger jüdischer Familien in dieser Zeit.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Laura und Leonard Yaffe Korrespondenze, AR 11921

Original:

Archivbox 2, Ordner 3

Source available in English

Paragraphen, Paragraphen

Vorherige mündliche und schriftliche Anfragen und Gesuche sind zwecklos.

Vorherige mündliche und schriftliche Anfragen und Gesuche sind zwecklos.

WIEN

Das Leben vieler Juden in Österreich war innerhalb eines halben Jahres aus den Angeln gehoben worden. Berufsverbote, Arisierung, Enteignungen oder der Entzug der Staatsbürgerschaft. Nach dem „Anschluss“ fanden sich viele österreichische Juden in unsicheren und chaotischen Zuständen wieder. Umso zynischer mag es vielen von ihnen erschienen sein, mit einer komplizierten, teils pedantischen Visums-Bürokratie konfrontiert zu werden. Ein Schreiben vom 27. September 1938 des amerikanischen Generalkonsulates an Tony (Antonie) und Kurt Frenkl verdeutlicht dies: Ihr Visums-Antrag könne frühestens in Monaten entgegengenommen werden. Die Quoten für mitteleuropäische Einwanderer seien erschöpft. Um auf eine Warteliste für Visen gesetzt zu werden, mussten die Antragsteller einen Vormerkbogen ausfüllen. Und um „Verzögerungen zu vermeiden“, solle jeweils pro Person eine Bürgschaft eingereicht werden. Tony und Kurt mussten also weiter warten – und sich auf die nächsten bürokratischen Hürden gefasst machen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Tony Frenkl, AR 11032

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Jahreschronik 1938

Berufsverbot für jüdische Rechtsanwälte

Diese antisemitische Karikatur zeigt einen jüdischen Anwalt der deutsche Bauern um Geld und Güter betrügt. Elvira Bauer, Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud auf seinem Eid (Nuremberg: Stürmer Verlag, 1936). Leo Baeck Institute.

Die berufliche und finanzielle Situation für jüdische Anwälte und Juden, die in anderen rechtlichen Berufen tätig waren, verschlechtert sich zusehends. Viele von ihnen sind gezwungen, ihre Anwaltskanzleien zu schliessen, da sich ihre Klienten abwenden oder, wenn sie jüdisch sind, fliehen. Zu Beginn des Jahres 1938 arbeiteten noch rund 1750 „nichtarische“ Rechtsgelehrte in Deutschland. Am 27. September verhängen die Nazis ein Berufsverbot für alle noch praktizierenden jüdischen Anwälte. Das Verbot tritt am 30. November in Kraft, in Österreich am 31. Dezember. Von nun an sind nur noch einige wenige jüdische Rechtsanwälte aktiv. Als sogenannte Konsulenten konnten sie – ausschliesslich jüdische – Klienten beraten und vertreten.

Zur Jahreschronik 1938

Von Dachau nach Buchenwald

Fritz Löhner-Beda wird deportiert

DACHAU/BUCHENWALD

Fritz Löhner war nur einen Tag nach dem „Anschluss“ in Wien von den Nazis verhaftet und kurz darauf ins Konzentrationslager Dachau deportiert worden. Geboren worden war Löhner 1883 in Böhmen, als junges Kind war er mit seinen Eltern nach Wien umgezogen. Beda, wie sich Fritz Löhner teilweise auch nannte, war in den 1920er Jahren zu einem der gefragtesten Librettisten für Operetten-Texte in Wien geworden. Daneben schrieb er zahlreiche, teils noch bis heute bekannte Schlagertexte, aber auch gesellschaftskritische Satire und Kabarettstücke – immer mit klarer Haltung: Seine Zeit als Offizier im Ersten Weltkrieg hatte ihn zum Antimilitaristen werden lassen. Am 23. September 1938 verlegten ihn die Nazis von Dachau in Konzentrationslager Buchenwald.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Foto von Fritz Löhner; Inv. Nr. 24627

Frau Martha Braun, einstweilen

Martha Braun, nicht Martha “Sara” Braun

Wien

Der Pass Martha Brauns, einer Wiener Hausfrau, wurde am 16. September ausgestellt, wärend des kurzen Zeitfensters zwischen dem Erlass der Zweiten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen (17. August 1938) und deren Inkrafttreten (Januar 1939). Laut dieser Verordnung hatten Juden ihrem Vornamen den Zweitnamen „Sara“ bzw. „Israel“ hinzuzufügen. Da das Datum der Ausstellung in den September fiel, kam Frau Braun ohne den stigmatisierenden Zusatz davon – einstweilen.

QUELLE

Institution:

The United States Holocaust Memorial Museum

Sammlung:

Reisepass von Martha Braun

Schlechte Aussichten

Flüchtlinge in der Tschechoslowakei

„Keiner der Flüchtlinge darf natürlich arbeiten. Unter ihnen sind Geschäftsleute, Fachkräfte und Handwerker, von denen viele früher wohlhabend waren. Ohne materielle Rücklagen, oft abgeschnitten von Familie und Freunden, die sie zurücklassen mussten, vor sich eine unsichere Zukunft, wird diese Flüchtlingkolonie bald zu einem psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Problem.“

Brünn

Die Jewish Telegraphic Agency beschrieb die Situation österreichischer Flüchtlinge in der Tschechoslowakei mit Weitsicht: Ändere sich nichts an ihren prekären Umständen (Arbeitsverbot, Mittellosigkeit, fehlende Bleibe-Perspektiven…), würde die Situation schon bald „zum psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Problem“ werden. Die JTA ging davon aus, dass sich Mitte September 1938 mehr als 1.000 Flüchtlinge in der Tschechoslowakei aufhielten, die meisten von ihnen in Brünn, knapp 50 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Nun sah eine Polizeimaßnahme vor, für Personen, die bereits länger als zwei Monate in der Tschechoslowakei waren, eine Kaution von 2.000 tschechischen Kronen (70 Dollar) zu verlangen – sonst drohte ihnen eine Abschiebung. Wer das Geld auslegen sollte, war vollkommen unklar. Weder die jüdische Gemeinde Brünns noch die Liga der Menschenrechte hatten die Mittel dazu.

Falsche Großzügigkeit

Zwang zur Ausreise aus dem Burgenland

„Zweihundert jüdische Einwohner des Burgenlandes wurden ,eingeladen‘, Österreich unterstützt von einem Auswanderer-Schleuser-Projekt zu verlassen.“

Eisenstadt

„Kostenlos“ – Es mag wie ein generöses Angebot daherkommen, aber hinter dem „kostenlosen“ Angebot steckte eiskalte Kalkulation: Nach dem Willen der Nazis sollten alle noch verbliebenen Juden im österreichischen Burgenland die Region verlassen. Säuberung hieß das im Nazi-Jargon. Das Burgenland war die erste österreichische Region, in der man damit begonnen hatte, die jüdische Bevölkerung nach dem „Anschluss“ systematisch zu enteignen und zu vertreiben. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 12. September, dass von den 3.800 Juden, die zuvor im Burgenland gelebt hatten, 1.900 bereits vertrieben, 1.600 Personen vorübergehend nach Wien geflohen und 300 weitere noch in Ghettos im Burgenland selbst interniert seien. Das „Angebot“ der Schleuser-Gruppe wurde laut JTA finanziell von der Gestapo unterstützt – mit 100.000 Mark aus dem Besitz der zuvor enteigneten Juden in der Region.

Nicht wegen Bettelns vorgemerkt

Ein polizeiliches Führungszeugnis im Jahr 1938

„…hiermit bestätigt, dass gegen ihn während der letzten fünf Jahre keinerlei bedenkliche, die Reise behindernden Tatsachen inbesondere auch nicht wegen Bettelns vorgemerkt sind.“

Wien

Es mag auf den ersten Blick abstrus erscheinen: Einem Versicherungsangestellten, dem Wiener Franz Resler, wird im polizeilichen Führungszeugnis bestätigt, er sei in der Vergangenheit inbesondere „nicht wegen Bettelns“ aufgefallen. Auf den zweiten Blick aber ist es genau die Betonung des Bettelns, die auf all die existenziellen Krisen verweist, in denen sich viele österreichische Juden 1938 zunehmend befanden. Mit dem „Anschluss“ hatten die Nazis den wirtschaftlichen Druck auf die in Österreich lebenden Juden enorm erhöht. „Arisierungen“ von Unternehmen und Berufsverbote entzogen zahlreichen Personen die Lebensgrundlage. Franz Resler und seine Frau Anna planten deswegen ihre Ausreise nach Argentinien, dort lebte Franz Reslers Schwester Fanny bereits seit den 1920er Jahren.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Polizeiliches Führungszeugnis für Franz Resler, zum Zweck der Ausreise nach Argentinien; Arch. Inv. Nr. 5769/3

Nicht aufgeben

Der Arzt Max Wolf will dem drohenden Berufsverbot entgehen

„Ihrem Wunsch gemäß bestätigen wir Ihnen, dass Sie von 1924 bis 30. September 1938 ordentliches Mitglied der Gesellschaft der Ärzte in Wien waren.“

Wien

Dr. Max Wolf hatte sein Fachgebiet schon vor Jahren gefunden: Seit 1922 arbeitete Wolf als Dermatologe in der Wiener Poliklinik, nebenher publizierte er zahlreiche Fachaufsätze. Studiert hatte der gebürtige Wiener noch zur Zeit des Ersten Weltkrieges, kurz darauf hatte er an der italienischen Front als Lazarett-Arzt gedient. Nun aber stand seine Karriere vor dem Aus. Nach dem „Anschluss“ hatten die Nazis bereits jüdische Anwälte und Richter in Österreich mit einem Berufsverbot belegt, ein Verbot für jüdische Ärzte stand kurz bevor. Max und seine Frau Margarata Wolf bereiteten indessen ihre Emigration vor. Die Bescheinigung über Wolfs Mitgliedschaft in der Wiener Gesellschaft der Ärzte lässt erahnen: Max Wolf hatte nicht vor, seinen Beruf im Exil aufzugeben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Manx und Margareta Wolf, AR 10699

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

auswege-schwinden

Die Härte schweizerischer Flüchtlingspolitik

„Begründung: Widerrechtliche Einreise“

Zürich

Die Begründung war kurz und knapp, „Widerrechtliche Einreise“ stand auf dem Polizeibericht, der Kurt Kelman mit einer einjährigen Einreisesperre in die Schweiz und Liechtenstein belegte. Bei Verstoß drohten dem 19-jährigen Studenten aus Wien bis zu sechs Monate Gefängnis und eine hohe Geldstrafe. Kurt Kelman war zuvor von Österreich in die Schweiz eingereist und schließlich von der Zürcher Polizei verhaftet worden. Schon kurz nach dem „Anschluss“ hatte die Schweiz eine Visumspflicht für Österreicher eingeführt. Und in den vorangegangenen Wochen hatte sie ihre bislang schon restriktive Einwanderungspolitik nochmals verschärft: Grenzkontrollen und vermehrte Zurückweisungen an der Grenze wurden Alltag. Besonders hart traf es österreichische Juden wie den Studenten Kurt Kelman. Denn seit dem „Anschluss“ hatten die Nazis den Druck auf Juden, zu emigrieren, enorm erhöht.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt Kelman, AR 11292

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Neuankömmlinge

Das Boston Committee for Refugees tut, was es kann

„ISAAC BIRNBAUM, Alter 53, Tabak- und Kleiderhändler, spricht überhaupt kein Englisch.“

Boston

Das Boston Committee for Refugees war die erste der amerikanisch-jüdischen Selbsthilfegruppen, die Juden halfen, Europa zu verlassen und in den Vereinigten Staaten ein neues Leben aufzubauen. 1933 gegründet, bestand es ausschließlich aus Freiwilligen. Unter der Führung Walter H. Bieringers und Willy Nordwinds bemühte sich das Committee in erster Linie darum, angehenden Einwanderern Bürgschaften zu verschaffen und für ihre Beschäftigung nach ihrer Ankunft im Land zu sorgen. Seit der Weltwirtschaftskrise war das Außenministerium angehalten, Menschen fernzuhalten, bei denen „die Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie der Öffentlichkeit zur Last fallen” würden, und es war von größter Wichtigkeit, den Lebensunterhalt der Flüchtlinge sicherzustellen. Die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland (der „Anschluss“) und das monumentale Versagen der Konferenz von Évian verstärkten die Dringlichkeit der Unterstützung der verzweifelten Asylsuchenden. Am 26. August 1938 schickte der amtierende Geschäftsführer der Organisation Bieringer diese Liste von Neuankömmlingen, die der Vermittlung bedurften.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 38

Sommerfrische und eine unklare Zukunft

Der Onkel von Liesl Teutsch schreibt seiner Nichte eine Ansichtskarte

„Viele Grüße vom reichlich verregneten Urlaub, bei dem auch sonst weder die richtige Erholung noch die dazu gehörige Stimmung aufkommen will.“

FILZMOOS/WIEN

Bereits Jahrzehnte vor dem Anschluss war Antisemitismus an österreichischen Urlaubsorten nicht ungewöhnlich. Das Phänomen hatte sogar einen Namen: “Sommerfrischen-Antisemitismus”. Dennoch blieben die Ferienanlagen unter österreichischen Juden sehr beliebt. Aber als Liesl Teutschs Onkel im August 1938 seinen Urlaub in Filzmoos im Salzburgerland verbrachte, konnte selbst das atemberaubende Panorama seine Gedanken nicht von den beunruhigenden Entwicklungen ablenken. In dieser Postkarte an seine Nichte in Wien macht er deutlich, dass nicht nur das schlechte Wetter ihn um seine Erholung brachte. Er scheint nervös angesichts seiner anstehenden Rückkehr nach Wien, wo ihn eine ungesicherte Zukunft erwartet.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Elisabeth Deutsch Familie, AR 25179

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Neues von den Kleinman(n)s

Kurt in der Schweiz, Schwester und Schwager mögen folgen

„Mein jüdischer Name ist Elke, und da ich Jiddisch spreche und Du Deutsch, sollten wir einander sehr gut verstehen können.“

NEW YORK/BASEL

Der Wiener Kurt Kleinmann und die New Yorkerin Helen Kleinman waren einander nie persönlich begegnet. Nachdem Kurt die kreative Idee hatte, eine Familie ähnlichen Namens in New York zu kontaktieren, in der Hoffnung, die amerikanischen Namensvettern wären vielleicht bereit, ihm bei der Beschaffung einer Bürgschaft behilflich zu sein, entwickelte sich eine zunehmend intensive Korrespondenz zwischen dem jungen Mann und der Tochter der Kleinmans. Helen nahm die Angelegenheit entschlossen in die Hand: Drei Monate nach Kurts erster Kontaktaufnahme mit den Kleinmans, als Helen diesen Brief schrieb, war nicht nur Kurts Auswanderung in Bearbeitung. Sie hatte auch eine Tante aktiviert, für seinen Cousin eine Bürgschaft zu übernehmen, mit dem ihm in der Zwischenzeit die Flucht in die Schweiz gelungen war. Außerdem bestand Hoffnung, dass eine andere Tante dasselbe für Kurts Schwester und Schwager tun würde, die noch in Wien festsaßen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt und Helen Klenmann, AR 10738

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Zugzwang

Joachim Weinert erlebt Drängen und Warten im Kampf mit der Bürokratie

„Ich behalte mir strafrechtliche Maßnahmen gemäß § 33 Dev.V.O. vor und setze ihnen zur Erledigung eine Frist von 3 Tagen.“

WIEN

Innerhalb der ersten Monate nach der Annexion Österreichs durch die Nazis hatte Dr. Joachim Weichert, ein in der Tschechoslowakei geborener Rechtsanwalt, den größten Teil seiner Klienten verloren. Er hatte keine Wahl, als mit der Zusammenstellung der für die Emigration notwendigen Dokumente zu beginnen. Im Juni wurde die Familie vom Generalkonsulat der Vereinigten Staaten benachrichtigt, gültige Bürgschaften und andere Dokumente für sie seien für sie aus Amerika eingetroffen. Da jedoch die tschechische Quote für den Augenblick erschöpft war, wurden sie auf eine Warteliste gesetzt. Außerdem wurde ihnen Mitteilung gemacht, dass innerhalb der nächsten acht Monate nicht mit dem Erhalt der Visen zu rechnen sei. Am 22. August war es fast zwei Wochen her, dass Dr. Weichert von der Devisenstelle in Wien aufgefordert worden war, innerhalb einer Woche eine detaillierte Liste seines Besitzes aufzustellen. In dieser offiziellen Mitteilung vom 22. August wird ihm ein Ultimatum von drei Tagen gestellt, nach dessen Ablauf er mit strafrechtlichen Massnahmen rechnen müsse.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Weichert Familie, AR 25558

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Tagesgeschehen zum 18. Geburtstag

Hugo Jellinek gratuliert seiner Tochter und kommentiert die aktuellen Entwicklungen

„Böhmen ist eine harte Nuss, an der sich diese Räuberbande die Zähne ausbrechen werden [sic] oder sagen wir eine Buchtel, an der diese wahnsinnig gewordenen Teufel ersticken werden. Trotz der vielen hiesigen deutschen Hochverräter ist [sic] Regierung und Volk einig in dem unerschütterlichen Willen, die Freiheit und demokratischen Errungenschaften bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Hugo Jellinek war stolz auf seine Tochter Gisella, die während der Hachschara zu einer glühenden Zionistin geworden und wenige Monate zuvor als Teil einer Gruppe wagemutiger Jugendlicher nach Palästina eingewandert war. Zum 18. Geburtstag schickte er seiner erstgeborenen Tochter nicht nur Glückwunsche, sondern ließ sie auch ausführlich an seinen Gedanken zum Tagesgeschehen teilhaben: Deutsche Manöver entlang der tschechoslowakischen Grenze beunruhigten ihn sehr, doch er war überzeugt, anders als im Fall Österreichs würde die Wehrmacht mit scharfem Widerstand zu rechnen haben. Das Misstrauen und der Mangel an Solidarität wohlhabender Brünner Juden gegenüber jüdischen Flüchtlingen erfüllten ihn mit Bitterkeit. Auch war er sehr besorgt wegen der Räumungsbescheide, die bei österreichischen Juden eingingen. Bei allen Sorgen und Klagen verschaffte eine neue Damenbekanntschaft einen Lichtblick.

Kündigung, weil Jude

Wohnprekariat trifft Juden in Wien

„Der Gekündigte ist Jude und kann den anderen Mietbewohnern [sic] ein Zusammenwohnen nicht länger zugemutet werden.“

WIEN

Bis 1938 lebten etwa 60.000 Juden im Wiener Bezirk Leopoldstadt, was ihr den Spitznamen „Mazzesinsel“ einbrachte. Zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Aufstieg des „Austrofaschismus“ 1934 hatte die sozialdemokratische Stadtregierung begonnen, Sozialwohnungen zu schaffen. Zur Zeit des Anschlusses herrschte in der Stadt ein massiver Wohnungsmangel. Die Nazis begannen, Juden aus Sozialwohnungen zu delogieren. Angesichts der Neigung der Polizei, Übergriffe auf jüdischen Besitz zu ignorieren, war es für antisemitische Vermieter leicht, diesem Beispiel zu folgen: Judesein genügte als Kündigungsgrund. Als der Hausbesitzer Ludwig Munz das Kündigungsformular für seine Mieter Georg und Hermine Topra ausfüllte, gab er gleich drei Gründe an: Angeblichen Eigenbedarf, Mietrückstand und Rücksicht auf die Nachbarn, denen ein Zusammenleben mit Juden nicht zugemutet werden könne.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Inv. Nr. 5171/2

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