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Heimweh

Erster Brief an ein emigriertes Kind

„Es ist eine ungeheure Leistung, die Du bis jetzt vollbrachtest und Deine lieben Berichte malen uns wenigstens einiges aus Deinem gegenwärtigen Leben aus. Bubi, wenn wieder Heimweh über Dich kommt, so weisst Du, dass wir unausgesetzt, Tag und Nacht, an Dich denken.“

Wien/Dovercourt, Essex

Mit 16 Jahren war Heinz Ludwig Katscher unter den älteren deutsch-jüdischen Kindern, denen die britische Regierung vorübergehendes Asyl zu gewähren bereit war. Seine Eltern, der Ingenieur Alfred Katscher und seine Frau Leopoldine, wie auch seine jüngere Schwester Liane waren in Wien zurückgeblieben. Offensichtlich hatte der Junge auf der Reise mit einer Gruppe von Kindern, die allesamt zu jung waren, um allein an einen ihnen unbekannten Ort zu reisen, in seinen ersten Briefen nach Hause Heimweh ausgedrückt: in seinem ersten Antwortbrief nach England bezieht sich der Vater liebevoll und beruhigend auf das Thema. Obwohl Herr Katscher seinen Sohn eindeutig vermisst, ist sein Ton optimistisch: angeblich seien die amerikanischen „Bewilligungen“ unterwegs , dank derer die Familie „entschlossener und sicherer“ geworden sei. Überschwänglich lobt er die Leistung des Sohnes, ohne die Familie nach England gereist zu sein und drückt sein Vertrauen in die Fähigkeit des Heranwachsenden aus, hinsichtlich seiner Zukunft in England die richtigen Entscheidungen zu fällen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Ludwig Katscher, AR 6336

Original:

Archivbox 1, Ordner A

Ein sicherer Ort für Marianne

Leo Baecks Enkelin wird nach England umgeschult

„Ich schreibe Ihnen, um Ihnen mitzuteilen, dass meine Kollegin Fräulein Martin und ich Ihre Tochter Marianne gern als Schülerin in unserer Schule aufnehmen werden.“

Westgate-on-Sea, Kent/Berlin

Für viele jüdische Kinder in Deutschland war der Gang zur Schule zur Qual geworden: die ständige antisemitische Indoktrination deutscher Schüler vergiftete die Atmosphäre. Als Ausführende dieser Politik setzten Lehrer sich selten für ihre jüdischen Schüler ein, und der bloße Akt, in die Schule und zurück zu gehen, konnte zum Spießrutenlaufen werden. Infolgedessen hatte die Zahl jüdischer Schulen stark zugenommen, und wer es sich leisten konnte, schickte seine Kinder auf Internate im Ausland. Als Ruth Berlak in Berlin diese freundliche Nachricht von der St. Margaret’s School in Westgate-on-Sea, Kent, bekam, dass ihre dreizehnjährige Tochter Marianne als Schülerin zugelassen werde, war kaum mehr als ein Monat vergangen, seit das Naziregime die Entfernung jüdischer Schüler aus deutschen Schulen verordnet hatte. — Mariannes Großvater mütterlicherseits war Rabbiner Dr. Leo Baeck, der Präsident der Reichsvertretung der Juden in Deutschland. Ihr Großvater väterlicherseits war Leo Berlak, der Vorsitzende des Verbands jüdischer Heimatvereine.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Brief von Leo Baecks Enkelin, Marianne Dreyfus. Mit freundlicher Genehmigung von Marianne Dreyfus.

Die reine Wahrheit

Berufsverbot für Rechtsanwälte

„[...] ich muss immer wieder sagen, so sehr Ihr uns fehlt und so gross die Sehnsucht ist, so sind wir doch glücklich und zufrieden, dass es Euch so gut geht.“

Hamburg/Broadstairs, Kent

Julie Jonas in Hamburg und ihre Töchter Elisabeth und Margarethe hatten einander geschworen, wahrheitsgemäß über ihr seelisches Wohlbefinden Bericht zu erstatten. Fast täglich wurden Postkarten ausgetauscht. Seit wenigen Wochen waren beide Mädchen in England. Ihr Vater, der Rechtsanwalt Julius Jonas, hatte verschiedene NS-Gesetze, deren Ziel die Verdrängung von Juden und Regimegegnern aus juristischen Berufen war, überdauert. Doch mit Inkraften der „Fünften Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ am 30. November 1938 wurde er aus der Anwaltschaft ausgeschlossen. Der 15. Dezember war sein Geburtstag. Schon am Vortag hatte Julie Jonas den Kindern geschrieben, ihre Nerven seien „recht dünn“ geworden und es sei ihnen gar nicht nach Geburtstag zumute. Trotzdem bemühte sie sich tapfer, ihre Freude über das gute Befinden der Mädchen zu zeigen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Samlung Elizabeth Melamid, AR 25691

Original:

Archivbox1, Ordner 1

Wenigstens die Kinder

England erklärt sich zur Aufnahme von 10000 jüdischen Kindern bereit

„Der Regierungsentscheid wurde von Kolonialsekretär Malcolm MacDonald bekanntgegeben, der erklärte, jede Änderung der Einwanderungsrate nach Palästina würde die bevorstehenden britisch-arabisch-jüdischen Verhandlungen ,im Voraus beeinflussen‘“.

London

Selbst die völlige Schutzlosigkeit der deutschen Juden angesichts der Gewaltakte der Novemberpogrome führte nicht zu einer nennenswerten Anpassung der internationalen Flüchtlingspolitik. Die Jewish Agency for Palestine hatte daher von den Briten gefordert, 10,000 jüdischen Kindern aus Deutschland die sofortige Einreise nach Palästina zu gestatten. Wie die Jewish Telegraphic Agency am 14. Dezember berichtete, sah die britische Regierung als Mandatsmacht durch einen solchen Schritt ihren diplomatischen Balanceakt gegenüber den beteiligten Gruppen gefährdet und wies den Antrag ab. Sie erklärte sich jedoch bereit, die Kinder vorübergehend in England aufzunehmen.Viele jüdische Eltern waren zu der schmerzhaften Entscheidung bereit, ihre Sprößlinge allein ins Ausland zu schicken, um wenigstens ihnen die ständigen Anfeindungen und die physische Gefahr zu ersparen. Schon vor dem Vorstoß der Jewish Agency, im November, hatte die Regierung grünes Licht für die Einreise 5000 unbegleiteter Kinder unter 17 gegeben. Die erste Gruppe, 196 Kinder aus einem in der Pogromnacht zerstörten Waisenhaus in Berlin, war Anfang Dezember in Harwich an Land gegangen.

Alpträume

Ein jüdisches Kind dokumentiert ungewöhnliche Zeiten

„Hatte heute eine sehr schlechte Nacht mit furchtbaren Träumen, so dass ich mehrere Male schreiend aufwachte. Wahrscheinlich rührte das von den überstandenen Aufregungen her.“

Wien

Als Gertrude Fichmann ihrem zwölfjährigen Sohn Harry im November 1938 ein Tagebuch schenkte, in dem er die Auswanderungserlebnisse der Familie festhalten sollte, hatte sie keine Ahnung, wann sie aufbrechen würden und wohin ihre Reise sie führen würde. Auch konnte sie nicht voraussehen, welch eine ereignisreiche Zeit den Juden in Österreich im allgemeinen und ihrer Familie im besonderen bevorstand. Während fast jeder Tag neue aufwühlende Ereignisse brachte, hielt Harry alles regelmäßig und wortgewandt fest. Das Miterleben der beängstigenden Ereignisse und das Beobachten der Angst der Erwachsenen in seinem Leben ging nicht spurlos an ihm vorüber: am 11. Dezember berichtet er von Alpträumen in der vergangenen Nacht.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Von Exil zu Exil

Ein deutscher Jurist hält zu seiner jüdischen Familie

„Wir stehen mitten in einer Katastrophe so gewaltigen Ausmasses, dass wir sie noch nicht einmal zu erfassen vermögen. Es geht längst nicht mehr um das Schicksal einer verfolgten Minorität, es geht um die Menschheit schlechthin.“

New York/Basel

Mit der Ausdrucksstärke eines Dichters beschreibt der Jurist Paul Schrag am 9. Dezember 1938 seinem Freund Max Gutzwiller in Basel seine Umstände nach der Emigration. Seit Juli lebt er mit Frau und Kind in einem Hotel in Manhattan. Neben der Emigration und der damit verbundenen beruflichen Ungewissheit galt es auch, rein menschliche Belange zu verkraften: im September war sein Vater unerwartet verstorben, und nun bedurfte die kranke Mutter der Betreuung. Die Menschheitskatastrophe der dreißiger Jahre erlebte er sehr tief und hoffte auf das Einsetzen einer „tiefgreifenden seelischen und moralischen Gegenströmung“. Etwas Hoffnungsfreude brachte der kleine Sohn ins Leben, dessen Glück von Tagesgeschehen und Ortswechsel unberührt blieb.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Schrag, AR 25161

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Endlich Zusagen

Ein junger Tagebuchschreiber dokumentiert die Zeit vor der Auswanderung

„Erst hatten wir sehnsüchtig auf eine Antwort gewartet, und jetzt kommen sie alle zusammen.“

Wien

Immer einmal wieder beschäftigt sich das Tagebuch des Wiener Jungen Harry Kranner-Fiss mit Themen, die einem Zwölfjährigen angemessen sind: Unfugtreiben in der Schule, Begeisterung über neue Kleider, ein „Erwachsenenhaarschnitt“, Spiele mit Freunden. Aber meist reflektieren Harrys eloquente Einträge das ausgeprägte Bewusstsein um die bedrohte Situation der Juden in Österreich 1938: sie befassen sich mit der Deportation eines Onkels ins Konzentrationslager Dachau, berichten von einer Tante, die aus ihrer Wohnung ausgesperrt und deren Wohnungsschlüssel konfisziert wurde, mit den Angst- und Sorgentränen seiner Mutter, mit Ausgangssperren, öffentlicher Demütigung und Gewalt. Kein Wunder, dass sein Stiefvater unablässig darum bemüht war, einen Weg zu finden, das Land zu verlassen. Verheißungsvolle Antworten ließen lange auf sich warten, doch am 7. Dezember, Tage nachdem die Familie das Versprechen einer Bürgschaft zur Einreise in die Vereinigten Staaten bekommen hatte, hielt Harry aufgeregt fest, auch aus Australien sei eine positive Antwort eingegangen. Laut einem früheren Tagebucheintrag hatte sein Stiefvater Anfang November bei der britischen Kommission für Australien, die sich gerade in Wien aufhielt, vorgesprochen, war aber auf eine Wartezeit von acht bis neun Monaten vorbereitet worden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, ordner 12

Banken als Komplizen

Deutsche Banken sperren jüdische Konten

„Selbst das Kind habe ich weggeschickt. Die Angst und Unsicherheit im eigenen Haus ist zu gross. Ich sitze und schreibe an Patienten und bitte die Rechnung zu bezahlen. Zum ersten Mal in meinem Leben muss ich um Geld bitten.“

Berlin

Als Doppelverdienern ging es den Nathorffs jahrelang materiell recht gut: die Kinderärztin Hertha Nathorff war Leiterin eines vom Roten Kreuz betriebenen Kinder- und Säuglingsheimes in Berlin-Charlottenburg, ihr Mann Erich Internist am Krankenhaus Moabit. Daneben führte das Ehepaar eine private Praxis. Kurz nach Machtantritt der Nazis verloren beide ihre Stellen, führten aber weiter die gemeinsame Praxis, bis im September 1938 allen jüdischen Ärztinnen und Ärzten die Approbation entzogen wurde. Erich Nathorff war unter den wenigen, die als sogenannte „Krankenbehandler“ ausschließlich jüdische Patienten versorgen durften. Doch während der Novemberpogrome wurde er festgenommen und im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert. Am 4. Dezember vertraute Hertha Nathorff ihrem Tagebuch an, sie habe wegen der Unsicherheit der Lage den Sohn „weggeschickt“ und stecke in finanziellen Schwierigkeiten: Infolge der Politik der Nazis, die Konten von Juden zu sperren, die materiell zur Auswanderung in der Lage waren, hatte sie keinen Zugriff auf ihr Geld.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Hertha Nathorff, Reichstagsbrand, ME 460

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Kindertransport

Die britische Regierung gewährt jüdischen Kindern Asyl

Harwich

Nach den Novemberpogromen demonstrierten Einzelpersonen und Gruppen in England, darunter religiöse Organisationen, durch ihr unermüdliches Eintreten für Flüchtlinge und ihre Organisationsbemühungen, wie wirkungsvoll es sein kann, wenn Bürger entschieden handeln. Unter denen, die sich bei der britischen Regierung speziell für jüdische Kinder einsetzten, war die „Gesellschaft der Freunde“ (Quäker). Nach anfänglicher Ablehnung durch Premierminister Neville Chamberlain sprach eine aus Juden und Quäkern zusammengesetzte Delegation bei Innenminister Hoare vor, woraufhin die Regierung gestattete, Visen auszustellen und die Einreise der Kinder zu unterstützen. Innerhalb kurzer Zeit wurden Gastfamilien rekrutiert, Spenden gesammelt, Fahrkarten gebucht, Transitvisen organisiert (die Kinder reisten über Hoek van Holland). Das Netz jüdischer und nichtjüdischer Helfer schloss niederländische Freiwillige ein, die die Kinder an der Grenze in Empfang nahmen, sie mit Verpflegung versorgten und bis ans Schiff in Hoek begleiteten. Die erste Gruppe, 196 Kinder aus einem Berliner Waisenhaus, das während der Novemberpogrome unbewohnbar gemacht worden war, kam am 2. Dezember in Harwich an. Die organisierten Anstrengungen, jüdische Kinder aus Nazi-Deutschland zu retten, wurden später unter dem Namen „Kindertransport“ bekannt.

QUELLE

Institution:

Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ)

Original:

Kindertransport; 21-015/266

Auswanderung als einziger Ausweg

Der Bericht des Joint Distribution Committee nach den Novemberpogromen

„Das Elend der Juden im Reich ist unbeschreiblich. Ihrer Unterhaltsquellen beraubt, aus ihren Wohnungen hinausgeworfen, nicht imstande, in arischen Geschäften einzukaufen, zu Tode verängstigt durch die jüngsten Ausschreitungen, von Festnahme und schwerer Arbeit in Konzentrationslagern bedroht, gibt es für sie keine andere Lösung als die Emigration.“

Berlin

Der Abgesandte des American Joint Distribution Committee, George Rooby, dessen Auftrag es war, nach den Novemberpogromen in Deutschland eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, reiste in mehrere Städte, um Eindrücke aus erster Hand zu sammeln. Die Ergebnisse waren zutiefst verstörend: Berlin, Nürnberg, Fürth, egal, wohin er ging, überall sah er niedergebrannte Synagogen, demolierte und geplünderte jüdische Geschäfte, entweihte Torahrollen und traf zu Tode erschrockene Juden an, deren Führerschaft Handlungsverbot hatte oder in Konzentrationslager gebracht worden war. Nicht-Juden, die halfen, setzten sich der Gefahr der Vergeltung durch die Nazis aus. Die fast vollständige Abwesenheit von Kleinkindern und Babys hatte man Rooby damit erklärt, dass seit dem Machtantritt der Nazis die jüdische Geburtenziffer erheblich zurückgegangen sei. Leiter jüdischer Gemeinden hatten ihm versichert, für unmittelbare Wohlfahrtsarbeit stünden genügend Mittel zur Verfügung. Denjenigen Organisationen hingegen, deren Ziel die Förderung der Auswanderung war, fehlte es erheblich an Geld. Allgemein herrschte die Hoffnung, die Reichsvertretung würde in Kürze ihre Tätigkeit wieder aufnehmen können und das ihre tun, um die Auswanderung zu beschleunigen. Diese, so Roobys Schlussfolgerung, sei die einzige Hoffnung, der Gewalt zu entkommen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung George Rooby, AR 6550

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Unverhoffte Geste

Wiedererstanden aus dem Müll

Nürnberg

Dank einer gutgehenden Praxis im Nürnberger Stadtteil Steinbühl hatte es Dr. Adolf Dessauer zu einem gewissen Wohlstand gebracht: die großzügige Wohnung bot Raum für das Kinderzimmer der Söhne Heinz und Rolf, das Zimmer des Hausmädchens, die Praxis mit Wartezimmer, ein Wohn- und Esszimmer und nicht zuletzt ein Schlafzimmer mit Mobiliar aus Kirschholz. 1937 zwangen die Auswirkungen der antisemitischen Gesetzgebung der Nazis gegen Ärzte Dr. Dessauer, seine Praxis aufzugeben. Emigration war die einzige Lösung. Doch wie die schöne Schlafzimmerausstattung ins Ausland retten? Die Nazis machten diese Sorge hinfällig: in der Pogromnacht vom 9. auf den 10.11. wurde das Mobiliar kurz- und kleingeschlagen, ein Portrait des Nobelpreisträgers Paul Ehrlich aufgeschlitzt und ruiniert. Wenige Tage nach dem Schock der brutalen Zerstörung erlebten die Dessauers eine seltene Geste des Anstands: ein ihnen vollkommen unbekannter Mann brachte das Portrait in perfekt restauriertem Zustand zurück.

Die Grenzen der Gastfreundschaft

Asyl für jüdische Kinder

Die Kinder werden dort untergebracht, bis die Vorbereitungen zu ihrer Unterbringung in Privathäusern und für ihre Schulbildung abgeschlossen sind.

London

Die Nachrichten über die brutalen Gewaltakte, die während der Novemberpogrome an deutschen und österreichischen Juden verübt worden waren, sandten Schockwellen durch jüdische Gemeinden. Mitte November ersuchte eine Gruppe jüdischer Führungspersonen die Regierung, jüdischen Kindern vorübergehendes Asyl zu gewähren, die später in ihre Länder zurückgeschickt werden sollten. Am 25. November berichtete die Jewish Telegraphic Agency von der bevorstehenden Eröffnung eines Lagers für 600 Flüchtlingskinder aus Deutschland an der Ostküste Englands. Die britische Abteilung des World Movement for the Care of German Children sollte Pflegefamilien für 5000 Kinder rekrutieren. Der Plan hatte die Einwilligung der Regierung – vorausgesetzt, die Kinder seien unter 17 und ihr Unterhalt werde nicht der Öffentlichkeit zur Last fallen.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Original:

91.13

Vertrauen auf Fremde setzen

Der Hilfsverein nimmt seine Verantwortung ernst

Ein Mann, der so freundlich ist, Bürgschaften auszustellen, würde diese Menschen sicher nicht ausnutzen..

New York/Boston

Konnte man Willy Nordwind vom Boston Committee for Refugees – einer Organisation, die sich nicht schwerpunktmäßig um unbegleitet einwandernde Kinder kümmerte – das Wohlergehen einer Sechzehnjährigen anvertrauen? Der Hilfsverein der Juden in Deutschland war nicht bereit, Risiken einzugehen: Anstatt Frieda Diamont einfach auf die Reise zu schicken, wandte sich die Organisation an das National Council of Jewish Women in New York, um sich zu vergewissern, ob auf Herrn Nordwinds Integrität Verlass sei. Merle Henoch vom Council gab den Fall an Jewish Family Welfare in Boston weiter, wo auch Nordwind seinen Standort hatte. Für sie stand es außer Zweifel: Ein so großzügiger Helfer wie Willy Nordwind musste ein vertrauenswürdiger Verbündeter sein.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 8

Source available in English

Berufsverbot in allen Künsten

Ungeeignet für die Förderung deutscher Kultur

„Nach dem Ergebnis meiner Überprüfung der in Ihren persönlichen Verhältnissen begründeten Tatsachen besitzen Sie nicht die erforderliche Eignung und Zuverlässigkeit, an der Förderung deutscher Kultur in Verantwortung gegenüber Volk und Reich mitzuwirken.“

Berlin/Dresden

Die Arbeiten des expressionistischen Malers und Grafikers Bruno Gimpel waren im Dritten Reich als „entartete Kunst“ eingestuft. Weder sein freiwilliger Dienst als Lazarettgehilfe im Ersten Weltkrieg noch seine „Mischehe“ mit einer „arischen“ Frau ersparten ihm die üblichen Repressalien: Am 22. November 1938 erhielt er einen Brief von der Reichskammer der bildenden Künste, die ihm erneut die Mitgliedschaft verweigerte und ihm Berufsverbot in allen Sparten seines Metiers erteilte. 1935 hatte diese Institution des Dritten Reiches schon einmal ein Aufnahmegesuch des Dresdner Künstlers abgeschlagen. Seit 1937 blieb ihm zum Broterwerb nichts anderes übrig, als jüdischen Kindern Zeichenunterricht zu erteilen.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Sammlung:

Schreiben des Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste mit der Ablehnung des Antrages auf Mitgliedschaft von Bruno Gimpel

Neue Hoffnung auf Hilfe

Die Feldsteins in Wien hoffen auf Hilfe von den Feldsteins in Los Angeles

„Es hat mich sehr gefreut zu hören, dass Sie uns helfen werden, nach Amerika zu kommen. Ich hoffe Ihre Kinder sind im selben Alter wie ich, und ich werde gute Freunde haben.“

Wien/Los Angeles

19 Jahre lang hatte Fritz Feldstein zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten bei einer Wiener Bank gearbeitet. Doch 1938, nachdem Deutschland das benachbarte Österreich annektiert hatte, verlor er seine Stelle. Am 5. Juli ließ sich die Familie beim Amerikanischen Generalkonsulat registrieren, aber zur Einwanderung wurden Bürgschaften benötigt. Nach Monaten zutiefst beunruhigender politischer Veränderungen wagte Fritz Feldstein einen ungewöhnlichen Schritt: Am 16. Oktober wandte er sich an einen Julius Feldstein in Los Angeles, von dem er hoffte, er sei ein Verwandter, und appellierte an “die wohlbekannte amerikanische Hilfsbereitschaft”. Bald entwickelte sich ein Briefaustausch, an dem auch Fritz’ Ehefrau Martha und die gemeinsame Tochter Gerda beteiligt war. Die Elfjährige war nicht nur eine geschickte Klavierspielerin, sie hatte offenbar auch ein ausgesprochenes Sprachtalent: Am 20. November schreibt sie den Feldsteins zum ersten Mal – auf Englisch.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Fritz Feldstein Familie, AR 3250

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Nur Hilfe – egal woher

Versuch der Hilfe für die in Deutschland Verbliebenen

„Wir sind ratlos und unglücklich, dass wir aber auch gar nichts tun können, was unseren Leuten ein wenig helfen könnte.“

Antwerpen/Cleveland, Ohio

Martha Lippmann, die Witwe eines Wollhändlers in Stolzenau an der Weser in Niedersachsen, und ihre Mutter waren die letzten Familienmitglieder, die noch in Deutschland verblieben waren, als die Novemberpogrome Deutschlands Juden trafen: Ihre Tochter Gertrude war nach Belgien geflohen, ihr älterer Sohn, Erich, nach Amerika und ihr jüngerer Sohn, Hans Martin, nach England. Die Nachrichten von der Welle anti-jüdischer Gewalt steigerte die Dringlichkeit, mit der Emigranten versuchten, sich für ihre in Deutschland zurückgelassenen Verwandten einzusetzen. In einem Brief vom 16. November berichtet Max Stern, Gertrudes Ehemann, von einem geplanten Termin bei einem belgischen Rechtsanwalt in Martha Lippmanns Angelegenheit, mit dem Ziel, ein befristetes Visum für sie zu bekommen. Erich selbst hatte sich mit William Dodd in Verbindung gesetzt, dem ehemaligen US-Botschafter in Deutschland, dem er es zu verdanken hatte, dass er selbst nach Amerika gelangt war – bisher ohne Erfolg.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Martha Lipman, AR 6355

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Keine Spur von Onkel Arthur

Konzentrationslager als Kollektivstrafe

„Vorläufig wurden nur 2 Verordnungen verlautbart: die 1., dass bis Januar alle jüdischen Betriebe aufgelöst sein müssen. Die 2. war, dass den Juden einen Betrag von 1 Milliarde Reichsmark auferlegt wird. Brrrrrr!“

Wien

Harry Kranner war 12 Jahre alt, als die Nazis eine Welle anti-jüdischer Gewalt inszenierten, wie es sie in diesem Umfang und in solcher Intensität noch nie gegeben hatte – angeblich ein „spontaner Ausbruch des Volkszorns“ als Reaktion auf die Ermordung eines Angestellten der deutschen Botschaft in Paris durch einen jungen Juden. Harrys Tagebucheinträge zeigen jedoch, dass er sich des Geschehens um ihn herum sehr wohl bewusst war. Am frühen Morgen des 10. November, als die grausamen Ereignisse der Nacht von Deutschland nach Österreich hinüberzuschwappen begannen, waren zwei Gestapobeamte in die Wohnung der Familie in Wien gekommen – angeblich auf der Suche nach Waffen. Harry verstand, welches Glück er gehabt hatte, mit dem Schrecken davonzukommen: er hatte von Juden gehört, die in ihre Wohnungen ein- oder aus ihnen ausgesperrt worden waren. Aber eine große Sorge blieb: am 12. November gab es noch immer keine Spur von seinem Onkel Arthur, der mit Tausenden von anderen Juden festgenommen worden war. Aufgrund eines Radioberichts, dass alle Festgenommenen vom Westbahnhof aus in die Konzentrationslager Dachau und Mauthausen deportiert werden sollten, eilten Harrys Vater und Tante dorthin, doch ohne Erfolg. Inzwischen hieß es, man werde den Juden ein erhebliches Bußgeld auferlegen – für die Gewalt, der sie selbst zum Opfer gefallen waren.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Jahreschronik 1938

Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben

Ein in der Progromnacht zerstörtes Geschäft in Magdeburg im November 1938.

Die nationalsozialistische Regierung Deutschlands erlässt die “Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben”. Von nun an ist es Juden verboten, in Einzelhandel und Handelsagenturen zu arbeiten und ein Handwerk auszuüben. Darüber hinaus dürfen Juden keine Güter und Dienstleistungen mehr anbieten. Kurze Zeit später, am 3. Dezember 1938, werden Juden zum Verkauf ihrer Immobilien gezwungen und ihnen die Verfügung über ihre Ersparnisse entzogen.

Zur Jahreschronik 1938

Glück im Unglück

Totale Zerstörung und ein bisschen Glück

„Es ist bei uns nicht ein Stück ganz geblieben. Alles Geschirr kaputt, alles Essbare auf den Boden geschmissen, Mehl, Zucker etc., alles zerstreut, zum Teil noch zertrampelt, wie Kuchen etc., man kann sich das nicht vorstellen.“

Ludwigshafen/New York

Richard Neubauer hatte Glück: Als während der Novemberpogrome, in der Nacht vom 9. auf den 10. November, Nazi-Schläger den Besitz seiner Verwandten in Deutschland zerstörten, war er bereits in New York, in Sicherheit. In diesem Brief beschreibt ihm sein Bruder Fritz in lebendigen Einzelheiten die schreckliche Zerstörung, die über die Juden und ihren Besitz gekommen war und den Schrecken, den das brutale Vorgehen der Nazis hervorgerufen hatte. Die Brüder hatten von ihrem Onkel die Druckerei Neubauer in Ludwigshafen geerbt, die infolge der Zerstörung der freien Presse durch die Gleichschaltung unter den Nazis sämtliche Geschäfte eingebüßt hatte. Dank einer Reihe glücklicher Zufälle waren Fritz, seine Frau Ruth und ihre beiden Kinder im Besitz von Fahrkarten, mit denen sie legal in die Schweiz einreisen konnten. Ruth hatte sie aus den Trümmern ihrer Wohnungseinrichtung gerettet.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Otto Neubauer, AR 25339

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Jahreschronik 1938

Die Novemberpogrome

Die in Brand gesetzte Synagoge in Bamberg in der Nacht vom 9. auf den 10. November.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November kommt es in Deutschland, Österreich und dem Sudentenland zu gewaltsamen Übergriffen auf die dort leben den Juden. Die Pogrome sind staatlich sanktioniert. Mehr als 90 Juden werden in dieser Nacht getötet. 267 Synagogen werden in Brand gesteckt oder auf andere Weise zerstört, Geschäften, die von Juden geführt werden, werden die Fenster eingeworfen, Gemeindezentren und Privathäuser werden geplündert und zerstört. Nationalsozialistische Randalierer schänden jüdische Friedhöfe, Krankenhäuser und Schulen. Polizei und Feuerwehr schauen tatenlos zu. Die „Kristallnacht“ stellt einen doppelten Wendepunkt dar im ohnehin schon schicksalsträchtigen Jahr 1938: Die antijüdischen Diskriminierungen der Nazis kennen keine Grenzen mehr. Für viele Juden sind die November-Pogrome das letzte Warnsignal, die Flucht zu ergreifen.

Zur Jahreschronik 1938

Politische und andere Erdbeben

Die Perspektive eines Kindes

„Es ist ein Glück, das ich schon mein Tagebuch angefangen habe! Denn wir leben ja in einer so abwechslungsreichen Zeit!“

Wien

Tage nach seinem 12. Geburtstag am 15. April 1938 musste Harry Kranner, zusammen mit all seinen jüdischen Schulkameraden, das Realgymnasium Kandlgasse in Wien verlassen. Im November waren Harrys Mutter Gertrude und sein Stiefvater Emil Fichmann damit beschäftigt, Vorbereitungen zur Auswanderung zu treffen. Harry zeigt sich sehr enthusiastisch über die Aussicht des Reisens und über die verschiedenen Ausrüstungsgegenstände, die er bekommt: im Eintrag für den 8. November in dem neuen Tagebuch, das ihm seine Mutter gegeben hat, damit er seine Auswanderungserfahrungen festhalten kann, berichtet er begeistert von seinen neuen Lederhandschuhen. Aber der größte Teil des Eintrags beschäftigt sich mit dem Erdbeben in der vergangenen Nacht.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Mord in Paris

Ein Akt der Verzweiflung

Paris

Am 3. November 1938 hatte Herszel Grynszpan, ein junger Jude polnischer Abstammung, Nachricht erhalten, seine Eltern und zwei Geschwister seien aus ihrem Wohnort Hannover nach Polen vertrieben worden. Das polnische Parlament hatte kürzlich ein Gesetz erlassen, laut dem Bürger, die seit fünf oder mehr Jahren im Ausland waren, ausgebürgert werden konnten. Aus Furcht, 70.000 polnische Juden würden unwiderruflich in Deutschland bleiben, hatte das Naziregime wenige Tage zuvor etwa 17.000 von ihnen deportiert. Herszel, dem bereits 1936 die Einreise nach Frankreich gelungen war, lebte zu diesem Zeitpunkt bei Onkel und Tante in Paris. Aufgebracht über das Schicksal seiner Landsleute, betrat er am 7. November die deutsche Botschaft, erschoss einen deutschen Karrierediplomaten, den 29jährigen Ernst vom Rath, und wurde sofort festgenommen.

Ein Mädchen geht voran

Hoffnung auf eine Zukunft in Palästina

„Ich stel mir vor das es Euch dorten gut geht. Es kommt mir vor nach eueren Schreiben wie in einem Paradis. Liebe Lotte du kannst mir glauben ich möchte an euerer Stelle sein, den das Leben hier ist sehr traurig und fad überhaupt jetzt wo Benno nicht zuhause ist.“

Wien/Gan Schmuel

Die Ankunft von Gertrude Münzers erstem Brief aus Palästina war ein Anlass zu Freude, Erleichterung und Hoffnung für ihre Familie, die in Wien zurückgeblieben war. Die Münzers waren eine gut integrierte Familie, aber nach der Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland wandte sich das Blatt, und sie gerieten zunehmend in Bedrängnis: Zunächst wurden sie aus ihrer Wohnung geworfen, dann verlor Moses Münzer seine Stelle. Mit Unterstützung ihrer Eltern ging Gertrude als einziges Mitglied ihrer Familie mit einer zionistischen Jugendgruppe nach Palästina. Angeregt durch ihr Beispiel, war ihr älterer Bruder Benno auf Hachscharah gegangen. In seiner Ratlosigkeit bittet ihr Vater in seinem Antwortbrief seine 15jährige Tochter inständig, im Kibbuz oder anderswo um Unterstützung für ihn nachzusuchen, damit er mit dem Rest der Familie nachkommen kann.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gertrude Knopf Familie, AR 11692

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Das Ende eines Familienbetriebes

Das Ende eines Familienbetriebs nach drei Generationen

„Pucki hat seine Tätigkeit in der Fabrik beendet. Ich folge in den nächsten Tagen nach. Mein Privatleben wird aber durch Kochen und Plätten zu Hause wohl auch ganz ausgefüllt sein.“

Neustadt, Oberschlesien/Brünn

Hans Joseph Pinkus‘ Urgroßvater hatte im 19. Jahrhundert in die Familie Fränkel in Neustadt, Oberschlesien, eingeheiratet. Mit vereinten Kräften betrieben die zwei Familien die Firma „S. Fränkel“, eine erfolgreiche Textilfabrik, die zu einem der größten Leinenproduzenten der Welt wurde. Unter gewöhnliche Umständen wäre Hans Joseph wohl den drei Generationen männlicher Vorfahren gefolgt und hätte die Geschicke der Firma gelenkt, aber er war erst 16 Jahre alt und im Internat, als diese „arisiert“ wurde: am 20. Oktober 1938 ließ ihn seine Stiefmutter Lili wissen, sein Vater stünde kurz davor, seinen Posten zu verlassen und sie würde es ihm in Kürze nachtun. Sie ließ nicht durchblicken, ob „Kochen und Plätten zu Hause“ eine attraktive Alternative für sie darstellte und behielt ihre Gefühle für sich.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung John Peters Pinkus Domuenten, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 16

Zeit zum Innehalten

Berlin

Schülerinnen und Schüler an jüdischen Schulen sollten diesen hohen Festtag möglichst mit allen Sinnen erfahren, fernab von den Sorgen und Nöten, mit denen sie im Alltag konfrontiert waren.

Berlin

Jom Kippur fiel 1938 auf den 5. Oktober, einen Mittwoch. Die Schulabteilung der „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ hatte in diesem Jahr ein Büchlein mit zahlreichen Anregungen veröffentlicht, wie dieser hohe Festttag in den Schulen begangen werden könne. Es liest sich wie eine didaktische Handreichung, die so auch in früheren oder späteren Jahren hätte geschrieben werden können: auf die schwierigen Umstände, in denen sich die Juden in Deutschland und nicht zuletzt jüdische Schülerinnen und Schüler 1938 befanden, finden sich keinerlei Hinweise. In den vergangenen fünf Jahren hatten die Nazis schrittweise eine “Rassentrennung” in öffentlichen Schulen vollzogen. Der Anteil jüdischer Schüler an öffentlichen Schulen hatte sich bereits bis 1936 nahezu halbiert.

 

 

Jahreschronik 1938

Ausweise von Juden für ungültig erklärt

Der Pass einer jüdischen Frau, mit dem verpflichtendem „J“ für „Jüdin“ versehen. Sammlung Siegmund Feist, Leo Baeck Institute

Das Reichinnenministerium erklärt alle Ausweise von Juden für ungültig. Erst der rote Aufdruck des Buchstabens „J“ mache die Pässe wieder gültig. Die Aktion ist ein weiterer Schritt im Bestreben der Nazis, die Juden dauerhaft vom Rest der Bevölkerung zu trennen.

Zur Jahreschronik 1938

„Wir wandern aus.“

Ein neues Jahr, ein neuer Start

HAMBURG

Ob sich die Schwestern Helen und Eva Hesse irgendwann noch an das diesjährige Rosch Haschana erinnern würden können? Für ihre Eltern Wilhelm und Ruth Hesse jedenfalls war das Neujahrsfest 1938 eine Zäsur. Die Familie hatte die Entscheidung gefasst, aus Hamburg auszuwandern. Helen war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt, ihre kleine Schwester Eva gerade einmal zwei. Ihr Vater führte in dieser Zeit ein Tagebuch für seine beiden Töchter. Den Eintrag zu Rosch Haschana 5699 überschrieb er mit großen, gedruckten Lettern: „Wir wandern aus”, das „Motiv” des diesjährigen Neujahrsfestes, wie Wilhelm handschriftlich ergänzte. Seine Töchter sollten bis dahin allerdings möglichst sorgenfrei leben. Dass es ihren Eltern ganz anders ging, wird zum Ende des Tagesbucheintrages klar. Dort schrieb Wilhelm Hesse: „Später werden sie sich mal wundern, was ihre Eltern in diesen Zeiten alles ertragen mussten. Wir wandern aus.”

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Helen und Eva Hesse Familie, AR 25327

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Vom Schwur, niemandem zu schaden

Ein jüdischer Arzt sorgt sich wegen beruflicher Konsequenzen der Nazi-Gesetze

„Mir geht in diesen Wochen oft ein lateinischer Vers des Horaz durch den Kopf, der in deutscher Übertragung etwa so lautet: Und wenn die Welt zusammenstürzt, wird sie einen unerschütterten Mann erschlagen.“

KÖLN

Erstaunlich viele deutsche Ärzte hatten anscheinend nicht nur keine Skrupel, sich durch das Nazi-Regime vereinnahmen zu lassen, sondern unterstützten aktiv dessen rassistische und eugenische Grundsätze, wobei sie bequem außer Acht ließen, dass sie doch vorgeblich dem Hippokratischen Eid mit seiner Forderung, keinen Schaden zuzufügen, verpflichtet waren. Nicht genug damit, dass sie eine Ideologie verbreiteten, die Juden zu einer „Gefahr für die deutsche Rasse“ erklärte, schlossen medizinische Organisationen in Deutschland Juden aus und machten es ihnen zunehmend schwerer, ihren Unterhalt zu verdienen. Unter diesen Umständen überrascht es nicht, dass Dr. Max Schönenberg, ein Kölner Arzt, und seine Frau Erna, eine Musikerin, die Auswanderung ihres Sohnes Leopold 1937 nach Palästina unterstützt hatten, obwohl der Junge zu dem Zeitpunkt erst 15 Jahre alt war. In diesem Brief an seinen Sohn vom 18. September 1938 spricht Dr. Schönenberg verschiedene gewichtige Themen an, darunter die gerade erfolgte Entscheidung des Regimes, jüdischen Ärzten die Approbation zu entziehen und seine Ungewissheit hinsichtlich seiner beruflichen Zukunft (manche jüdischen Ärzte erhielten Erlaubnis, jüdische Patienten zu behandeln).

QUELLE

Institution:

NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Original:

Best. 46

Zum Nazi erzogen

Erika Manns Buch über das NS-Bildungsystem

NEW YORK

Erika Mann eröffnet ihr Buch mit einer fesselnden Beschreibung. Sie erzählt von einem Treffen mit einer Frau M. aus München. Zu dieser Zeit lebte Erika mit ihren Eltern Thomas und Katia Mann bereits im Exil. Frau M. möchte ebenfalls mit ihrer Familie emigrieren. Dieser Wunsch allerdings trifft auf Erika Manns Unverständnis, immerhin hätten Frau M. und ihre Familie als wohlhabende „Arier“ nichts zu befürchten. Dann aber spricht Frau M. einen entscheidenden Satz aus: „Ich möchte, dass mein Sohn ein anständiger Mensch wird, ein Mann und kein Nazi“ [„I want the boy to become a decent human being—a man and not a Nazi“]. Der Satz wird zum Ausgangspunkt von Erika Manns Studie über das nationalsozialitische Bildungs- und Indoktrinationssystem. Ihr viel beachtetes Buch erschien 1938 unter dem Titel „School for Barbarians. Education under the Nazis“ in den Vereinigten Staaten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Original:

Erika Mann, School for Barbarians; Education under the Nazis,New York: Modern Age Books, 1938 ; LA 721.8 M312

Ein letztes Klassenfoto

Gisela und ihre Familie standen kurz vor der Emigration

DRESDEN

Gisela Kleinermann (obere Reihe, r.) war erst vor Kurzem 10 Jahre alt geworden. Den Arm um ihre Mitschülerin gelegt, blickt sie mit einem leichten Lächeln in die Kamera. Zu diesem Zeitpunkt mag sie bereits gewusst haben, dass sie nicht mehr lange Teil dieser Klasse der Jüdischen Schule in Dresden sein würde: Bereits im Spätsommer 1938 bereitete ihre Mutter Erna die Emigration der Familie Kleinermann in die Vereinigten Staaten vor. Schrittweise hatten die Nazis in den vergangenen Jahren eine „Rassentrennung“ in öffentlichen Schulen forciert. In vielen jüdischen Großgemeinden – so auch in Dresden – waren daraufhin neue jüdische Schulen gegründet worden.

„Illegale“ Einwanderin

Gisella Jellinek wird in Palästina zu Nadja

„Ich gratuliere Dir nachträglich zu Deinem 18. Geburtstage und wünsche Dir, das, was Du Dir wünschst, ein recht langes Leben, Gesundheit, Heldentum, Mut, gute Chawera zu sein und dass Dein Ideal in Erfüllung geht und nicht vergessen (...) recht viel Arbeit.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Unter abenteuerlichen Umständen war Gisella Jellinek im Juni 1938 nach Palästina gelangt. Als Teil einer Gruppe von mehreren hundert Jugendlichen war sie in das Mandatsgebiet eingeschmuggelt worden. Um zu verhindern, von den britischen Mandatsbehörden als illegale Einwanderin aufgespürt zu werden, musste sie sich vom Augenblick des Landgangs in Palästina an die Hebräischkenntnisse zunutze machen, die sie im zionistischen landwirtschaftlichen Ausbildungslager in Österreich erworben hatte. Etwa zwei Monate nach ihrer Ankunft in Palästina wurde Gisella, die sich jetzt Nadja nannte, 18 Jahre alt. In diesem nachträglichen Geburtstagsbrief wünscht ihr ihre Schwester Berta „Heldentum, Mut und eine gute Chawerah (Kibbutz-Mitglied) zu sein“.

Tagesgeschehen zum 18. Geburtstag

Hugo Jellinek gratuliert seiner Tochter und kommentiert die aktuellen Entwicklungen

„Böhmen ist eine harte Nuss, an der sich diese Räuberbande die Zähne ausbrechen werden [sic] oder sagen wir eine Buchtel, an der diese wahnsinnig gewordenen Teufel ersticken werden. Trotz der vielen hiesigen deutschen Hochverräter ist [sic] Regierung und Volk einig in dem unerschütterlichen Willen, die Freiheit und demokratischen Errungenschaften bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Hugo Jellinek war stolz auf seine Tochter Gisella, die während der Hachschara zu einer glühenden Zionistin geworden und wenige Monate zuvor als Teil einer Gruppe wagemutiger Jugendlicher nach Palästina eingewandert war. Zum 18. Geburtstag schickte er seiner erstgeborenen Tochter nicht nur Glückwunsche, sondern ließ sie auch ausführlich an seinen Gedanken zum Tagesgeschehen teilhaben: Deutsche Manöver entlang der tschechoslowakischen Grenze beunruhigten ihn sehr, doch er war überzeugt, anders als im Fall Österreichs würde die Wehrmacht mit scharfem Widerstand zu rechnen haben. Das Misstrauen und der Mangel an Solidarität wohlhabender Brünner Juden gegenüber jüdischen Flüchtlingen erfüllten ihn mit Bitterkeit. Auch war er sehr besorgt wegen der Räumungsbescheide, die bei österreichischen Juden eingingen. Bei allen Sorgen und Klagen verschaffte eine neue Damenbekanntschaft einen Lichtblick.

Ferienidylle

Ein sonniger Brief an den Vater

„Uns geht es gut. Die Sonne scheint seit zwei Tagen, so dass wir schwimmen gehen konnten, aber für morgen sagt das Radio Regen an.“

Nespeky/Prag

Hitlers Pläne für die Tschechoslowakei hätten eindeutiger nicht sein können: Am 30. Mai 1938 hatte er in einer Weisung an die Wehrmacht mitgeteilt, es sei sein „unabänderlicher Beschluss“, die Tschechoslowakei „in absehbarer Zeit“ zu zerschlagen. Schon Monate zuvor hatte er den Führer der seit Jahren teilweise von Nazideutschland finanzierten Sudetendeutschen Partei, Konrad Henlein, dazu angestachelt, durch nicht erfüllbare Forderungen für die deutsche Minderheit eine Konfrontation heraufzubeschwören. Unter dem Einfluss der Ereignisse in Deutschland hatte der Antisemitismus im Land zugenommen, hatte aber bisher nur in den überwiegend von Deutschen bewohnten Grenzgebieten Nord- und Westböhmens zu Boykotten und tätlichen Übergriffen geführt. Während sich im Hintergrund eine Krise zusammenbraute, war der Psychiater und Schriftsteller Josef Weiner mit seiner Frau Hanka und den zwei kleinen Töchtern im zentralböhmischen Städtchen Nespeky in Urlaub. Hankas Briefchen (in tschechischer Sprache) an ihren Vater, den renommierten Prager Rechtsanwalt Oskar Taussig, atmet reine Ferienidylle und verschont den rekonvaleszenten Empfänger vor allem Unerfreulichen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Winn Familie, AR 25493

Original:

Archivbox 1, ordner 5

Selbst ist die Frau

Eine unabhängige Unternehmerin muss um Hilfe bitten

„Ich glaube, ich schreibe an die Kinder von Emanuel und Victoria Magen, und ich flehe Euch an, uns zu helfen, nach Amerika zu kommen.“ ”

Berlin

Die Berlinerin Gusty Bendheim hatte den amerikanischen Zweig ihrer Familie nie kennengelernt. 42 Jahre alt und geschieden, hatte sie keine andere Wahl, als sich an ihre Verwandten in Übersee zu wenden. Sie bat die quasi Fremden um Hilfe, ihr und ihren Kindern Ralph (13) und Margot (17) die Auswanderung zu ermöglichen. Gusty war ein unternehmerischer Typ: Zum Zeitpunkt ihrer Heirat mit Arthur Bendheim, einem Kaufmann aus Frankfurt am Main, hatte sie bereits das dritte Knopfgeschäft gegründet. Nach der Hochzeit übernahm Arthur die Geschäftsleitung, und Gusty wurde zur Hausfrau. Trotz der zunehmend besorgniserregenden anti-jüdischen Maßnahmen des Naziregimes war Arthur nicht gewillt, das Land zu verlassen. Nach der Scheidung des Paares 1937 nahm Gusty die Dinge selbst in die Hand: In diesem Brief vom 14. August 1938 an ihre unbekannten Verwandten ergänzt sie ihre Bitte um Hilfe durch die Versicherung, ihr geschiedener Mann sei bereit, die Reisekosten für sie und die Kinder in die Vereinigten Staaten zu übernehmen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Margot Friedlander, AR 11397

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

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