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Erpresste Auswanderung

Über Cuba in die Freiheit

„Sobald uns nähere Nachrichten über die Einreiseerlaubnis für Cuba vorliegen, werden wir Sie benachrichtigen.“

Schwandorf, Bayern

Die massenhafte Festnahme jüdischer Männer während der Novemberpogrome – etwa 30.000 wurden in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau inhaftiert – erfüllte ihren Zweck: sie diente der Erpressung zur Aufgabe des verbleibenden jüdischen Vermögens und zur Auswanderung. Unter den 10911 Juden, die allein in Dachau festgehalten worden waren, befanden sich Georg Friedmannn, Inhaber eines Modehauses in Schwandorf (Bayern), und sein Sohn Bruno. Lillian Friedmann verlor keine Zeit: schon im November, während Ehemann und Sonn noch inhaftiert waren, führte sie ein Beratungsgespräch im Reisebüro der Hamburg-Amerika-Linie in München, dem ein intensiver Briefwechsel folgte. Dank einer wohlhabenden Verwandten in New York (die in diesem Kontext erstmals von ihnen erfuhr), waren sie im Besitz einer Bürgschaft. Der Plan war, über Kuba nach New York zu reisen. Am 29. Dezember stellte die Hamburg-Amerika-Linie Frau Friedmann eine Quittung für die Überfahrt von Hamburg nach Havanna für ihren Sohn Bruno und ihre Schwiegermutter Amanda Friedmann aus.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung George und Lilian Friedman, AR 7223

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Geraubte Kunst

Nazis als Kunsträuber

Leipzig

In der Mitte des 16. Jahrhunderts begannen jüdische Pelzhändler, in Leipzig Handel zu treiben. Mehrere Hundert Jahre lang durften sich jüdische Händler nur zur Messezeit in der Stadt aufhalten, trugen aber dennoch maßgeblich zum Wohlstand der Stadt bei. Infolge der rechtlichen Gleichstellung der Juden im 19. Jahrhundert begannen jüdische Pelzhändler, sich in Leipzig niederzulassen, besonders auf dem Brühl. Mit der Zeit trugen Juden dazu bei, Leipzig zu einem Zentrum des internationalen Fellhandels zu machen. Nach 1933 flohen viele jüdische Pelzhändler in andere Zentren des Gewerbes im Ausland. Siegmund Fein, geboren in Leipzig im Jahr 1880, lebte 1938 noch immer in Leipzig. Die Qualen des Ehepaars Fein unter den Nazis kulminierte während der Novemberpogrome. Siegmund Fein wurde vom 11. bis zum 30. November im KZ Buchenwald festgehalten und schwer misshandelt. Nach seiner Freilassung wurde ihm angemessene ärztliche Fürsorge verweigert. Am 20. Dezember floh er nach Brüssel. Das hier gezeigte Gemälde Anselm Feuerbachs, „Mädchenkopf“, wie auch andere Kunstwerke aus dem Besitz des Ehepaars Fein, wurde von den Nazis konfisziert.

Auswanderung als Voraussetzung für die Entlassung

Freiheit nur nach Auswanderung

„Der Polizeipräsident in Wien (Zentralmeldungsamt) bestätigt zum Vorweise bei der Konsularabteilung der amerikanischen Gesandtschaft in Wien, daß über den hiesigen Aufenthalt der Frau Renee Aldor, geborene Fanto, geboren am 30. Dezember 1900 zu Budapest in Ungarn, zuständig nach Wr. Neustadt, im Zentralmeldungsamt nebst früheren nachstehende Meldungen erliegen.“

WIEN

Am 10. November, im Verlauf der Pogrome, die über das ganze Reich hinwegfegten, wurde der Elektroingenieur Ernst Aldor in seiner eigenen Wohnung in Wien für das Vergehen, ein Jude zu sein, festgenommen und ins Konzentrationslager Dachau, 366 Kilometer westlich von seinem Wohnort, deportiert. Am 9. Dezember wurde er entlassen. Während der Haftzeit erhielt seine Frau Renée Einreisegenehmigungen für Bolivien und ein Telegramm von ihrem Cousin Emil Deutsch in Amerika, der bestätigte, eine Bürgschaft sei in Vorbereitung. Australien war eine dritte Option, die das Ehepaar als Zufluchtsort in Erwägung gezogen hatte. In Vorbereitung der Auswanderung ließ sich Renée Aldor, eine gebürtige Ungarin, vom Zentralmeldungsamt des Wiener Polizeipräsidiums dieses Dokument, datiert auf den 20. Dezember 1938, ausstellen, in dem sämtliche ihrer Wohnungen in der Stadt seit 1920 aufgelistet sind.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Renee Aldor, AR 10986

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Totale Willkür

Juden im Polizeistaat

„Auflage: Sie haben sich sofort bei der Ortspolizeibehörde Ihres Wohnortes Stapostelle Potsdam zu melden.“

Sachsenhausen

Eines der Werkzeuge in den Händen der Nazis, die Juden zu terrorisieren, war willkürliche Inhaftierung: das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 reichte dem Regime die rechtliche Grundlage für die perfide Institution der „Schutzhaft“: Menschen, die man als „Gefahr für die Sicherheit des Volkes“ einstufte, konnten ohne konkrete Anklagepunkte festgenommen werden. Angeblich war die Maßnahme auf politische Gegner ausgerichtet. Tatsächlich wurde sie oft gegen Juden zum Einsatz gebracht. Der Verkäufer Hans Wilk war unter ihren ersten Opfern: 1933, als 24jähriger, verbrachte er über vier Monate im Konzentrationslager Lichtenburg. Während der Pogrome im November 1938 war er unter den etwa 30.000 jüdischen Männern, die in Konzentrationslager gesperrt wurden. Am 16. Dezember wurde er aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen in Oranienburg bei Berlin entlassen. Die Auflage, sofort bei der Staatspolizei seines Heimatorts vorzusprechen, machte deutlich, dass die Schikane noch nicht vorüber war.

Endlich Zusagen

Ein junger Tagebuchschreiber dokumentiert die Zeit vor der Auswanderung

„Erst hatten wir sehnsüchtig auf eine Antwort gewartet, und jetzt kommen sie alle zusammen.“

Wien

Immer einmal wieder beschäftigt sich das Tagebuch des Wiener Jungen Harry Kranner-Fiss mit Themen, die einem Zwölfjährigen angemessen sind: Unfugtreiben in der Schule, Begeisterung über neue Kleider, ein „Erwachsenenhaarschnitt“, Spiele mit Freunden. Aber meist reflektieren Harrys eloquente Einträge das ausgeprägte Bewusstsein um die bedrohte Situation der Juden in Österreich 1938: sie befassen sich mit der Deportation eines Onkels ins Konzentrationslager Dachau, berichten von einer Tante, die aus ihrer Wohnung ausgesperrt und deren Wohnungsschlüssel konfisziert wurde, mit den Angst- und Sorgentränen seiner Mutter, mit Ausgangssperren, öffentlicher Demütigung und Gewalt. Kein Wunder, dass sein Stiefvater unablässig darum bemüht war, einen Weg zu finden, das Land zu verlassen. Verheißungsvolle Antworten ließen lange auf sich warten, doch am 7. Dezember, Tage nachdem die Familie das Versprechen einer Bürgschaft zur Einreise in die Vereinigten Staaten bekommen hatte, hielt Harry aufgeregt fest, auch aus Australien sei eine positive Antwort eingegangen. Laut einem früheren Tagebucheintrag hatte sein Stiefvater Anfang November bei der britischen Kommission für Australien, die sich gerade in Wien aufhielt, vorgesprochen, war aber auf eine Wartezeit von acht bis neun Monaten vorbereitet worden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, ordner 12

Banken als Komplizen

Deutsche Banken sperren jüdische Konten

„Selbst das Kind habe ich weggeschickt. Die Angst und Unsicherheit im eigenen Haus ist zu gross. Ich sitze und schreibe an Patienten und bitte die Rechnung zu bezahlen. Zum ersten Mal in meinem Leben muss ich um Geld bitten.“

Berlin

Als Doppelverdienern ging es den Nathorffs jahrelang materiell recht gut: die Kinderärztin Hertha Nathorff war Leiterin eines vom Roten Kreuz betriebenen Kinder- und Säuglingsheimes in Berlin-Charlottenburg, ihr Mann Erich Internist am Krankenhaus Moabit. Daneben führte das Ehepaar eine private Praxis. Kurz nach Machtantritt der Nazis verloren beide ihre Stellen, führten aber weiter die gemeinsame Praxis, bis im September 1938 allen jüdischen Ärztinnen und Ärzten die Approbation entzogen wurde. Erich Nathorff war unter den wenigen, die als sogenannte „Krankenbehandler“ ausschließlich jüdische Patienten versorgen durften. Doch während der Novemberpogrome wurde er festgenommen und im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert. Am 4. Dezember vertraute Hertha Nathorff ihrem Tagebuch an, sie habe wegen der Unsicherheit der Lage den Sohn „weggeschickt“ und stecke in finanziellen Schwierigkeiten: Infolge der Politik der Nazis, die Konten von Juden zu sperren, die materiell zur Auswanderung in der Lage waren, hatte sie keinen Zugriff auf ihr Geld.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Hertha Nathorff, Reichstagsbrand, ME 460

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Auswanderung als einziger Ausweg

Der Bericht des Joint Distribution Committee nach den Novemberpogromen

„Das Elend der Juden im Reich ist unbeschreiblich. Ihrer Unterhaltsquellen beraubt, aus ihren Wohnungen hinausgeworfen, nicht imstande, in arischen Geschäften einzukaufen, zu Tode verängstigt durch die jüngsten Ausschreitungen, von Festnahme und schwerer Arbeit in Konzentrationslagern bedroht, gibt es für sie keine andere Lösung als die Emigration.“

Berlin

Der Abgesandte des American Joint Distribution Committee, George Rooby, dessen Auftrag es war, nach den Novemberpogromen in Deutschland eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, reiste in mehrere Städte, um Eindrücke aus erster Hand zu sammeln. Die Ergebnisse waren zutiefst verstörend: Berlin, Nürnberg, Fürth, egal, wohin er ging, überall sah er niedergebrannte Synagogen, demolierte und geplünderte jüdische Geschäfte, entweihte Torahrollen und traf zu Tode erschrockene Juden an, deren Führerschaft Handlungsverbot hatte oder in Konzentrationslager gebracht worden war. Nicht-Juden, die halfen, setzten sich der Gefahr der Vergeltung durch die Nazis aus. Die fast vollständige Abwesenheit von Kleinkindern und Babys hatte man Rooby damit erklärt, dass seit dem Machtantritt der Nazis die jüdische Geburtenziffer erheblich zurückgegangen sei. Leiter jüdischer Gemeinden hatten ihm versichert, für unmittelbare Wohlfahrtsarbeit stünden genügend Mittel zur Verfügung. Denjenigen Organisationen hingegen, deren Ziel die Förderung der Auswanderung war, fehlte es erheblich an Geld. Allgemein herrschte die Hoffnung, die Reichsvertretung würde in Kürze ihre Tätigkeit wieder aufnehmen können und das ihre tun, um die Auswanderung zu beschleunigen. Diese, so Roobys Schlussfolgerung, sei die einzige Hoffnung, der Gewalt zu entkommen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung George Rooby, AR 6550

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Quälende Ungewissheit

Die Sorge um Angehörige in Deutschland

„Das Gefühl der Ungewissheit über Euer persönliches Wohl ist so gross und die Hilflosigkeit bei allem Einsatz so trostlos, dass ich wirklich nicht weiss, was ich schreiben soll.“

Cleveland, Ohio/Stolzenau

Nicht wenige Juden in Deutschland reagierten mit Verzweiflung, existentieller Angst und sogar mit Selbstmord auf die Ereignisse der Novemberpogrome. Aber auch für diejenigen, die es geschafft hatten, sich ins Ausland abzusetzen, war die Situation hochgradig bedrückend: von weitem mussten sie mitansehen, wie ihre Gotteshäuser in Flammen aufgingen, wie Juden zu Tausenden festgenommen und in Konzentrationslager gesperrt wurden, wie jüdischer Besitz gestohlen oder zerstört wurde. Am schlimmsten war jedoch die Ungewissheit um das Befinden geliebter Angehöriger und die Qual, ihnen nicht oder zu langsam helfen zu können. Einer der vielen Emigranten, die diese Gefühle artikulierten, war Erich Lippmann: in diesem Brief aus Ohio an seine Mutter und Großmutter in Niedersachsen beschreibt er das Gefühl der Hilflosigkeit, erwähnt aber auch Bemühungen, von offizieller Seite Unterstützung zu bekommen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Martha Lipman, AR 6355

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Wo ist Paul Weiner?

Verstörende Nachrichten von den Verwandten

„Paul, der Ärmste, ist schon eine Woche im Konzentrationslager, wo, weiß Berta auch nicht, die Wohnung ist bis auf das Schlafzimmer total demoliert [...].“

Basel/New York

Willi Jonas und seine Frau Hilde führten ein Schuhgeschäft im ruhigen Basel. Voller Sorge um die Verwandten in Deutschland, schickte Willi Jonas seinen Schweizer Chauffeur, um die Lage zu erkunden. In einem Brief vom 18. November 1938 berichtet das Ehepaar ausgewanderten Freunden in Amerika von den Erlebnissen ihrer Angehörigen während und nach der Pogromnacht: Louis Jonas, ein Viehhändler in Waldbreitbach bei Neuwied, ist ohne materielle Verluste davongekommen. Nachdem er aber vier Tage im Gefängnis verbringen musste und nur deshalb freigelassen wurde, weil er über fünfzig ist, will er nichts mehr, als Deutschland zu verlassen. Die Nachrichten aus Worms sind noch beunruhigender: Paul Weiner ist in ein Konzentrationslager gebracht worden, und niemand hat es für nötig befunden, seine Frau Berta (geb. Jonas) wissen zu lassen, in welches. Die Wohnung des Paares wurde fast vollständig zerstört, ein Teil des Besitzes gestohlen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Betty und Morris Moser, AR 25497

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Source available in English

Keine Spur von Onkel Arthur

Konzentrationslager als Kollektivstrafe

„Vorläufig wurden nur 2 Verordnungen verlautbart: die 1., dass bis Januar alle jüdischen Betriebe aufgelöst sein müssen. Die 2. war, dass den Juden einen Betrag von 1 Milliarde Reichsmark auferlegt wird. Brrrrrr!“

Wien

Harry Kranner war 12 Jahre alt, als die Nazis eine Welle anti-jüdischer Gewalt inszenierten, wie es sie in diesem Umfang und in solcher Intensität noch nie gegeben hatte – angeblich ein „spontaner Ausbruch des Volkszorns“ als Reaktion auf die Ermordung eines Angestellten der deutschen Botschaft in Paris durch einen jungen Juden. Harrys Tagebucheinträge zeigen jedoch, dass er sich des Geschehens um ihn herum sehr wohl bewusst war. Am frühen Morgen des 10. November, als die grausamen Ereignisse der Nacht von Deutschland nach Österreich hinüberzuschwappen begannen, waren zwei Gestapobeamte in die Wohnung der Familie in Wien gekommen – angeblich auf der Suche nach Waffen. Harry verstand, welches Glück er gehabt hatte, mit dem Schrecken davonzukommen: er hatte von Juden gehört, die in ihre Wohnungen ein- oder aus ihnen ausgesperrt worden waren. Aber eine große Sorge blieb: am 12. November gab es noch immer keine Spur von seinem Onkel Arthur, der mit Tausenden von anderen Juden festgenommen worden war. Aufgrund eines Radioberichts, dass alle Festgenommenen vom Westbahnhof aus in die Konzentrationslager Dachau und Mauthausen deportiert werden sollten, eilten Harrys Vater und Tante dorthin, doch ohne Erfolg. Inzwischen hieß es, man werde den Juden ein erhebliches Bußgeld auferlegen – für die Gewalt, der sie selbst zum Opfer gefallen waren.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Jahreschronik 1938

Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben

Ein in der Progromnacht zerstörtes Geschäft in Magdeburg im November 1938.

Die nationalsozialistische Regierung Deutschlands erlässt die “Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben”. Von nun an ist es Juden verboten, in Einzelhandel und Handelsagenturen zu arbeiten und ein Handwerk auszuüben. Darüber hinaus dürfen Juden keine Güter und Dienstleistungen mehr anbieten. Kurze Zeit später, am 3. Dezember 1938, werden Juden zum Verkauf ihrer Immobilien gezwungen und ihnen die Verfügung über ihre Ersparnisse entzogen.

Zur Jahreschronik 1938

Brandstiftung

Nazi-Bürokratie

„Eine Baugenehmigung für die Wiedererrichtung der Synagoge an derselben Stelle ist ausgeschlossen.“

Chemnitz

Während die jüdische Bevölkerung der Stadt versuchte, die brutale Gewalt zu verarbeiten, die sie zwei Tage zuvor erlebt hatte – die prächtige Synagoge war in der Pogromnacht in Brand gesteckt und zerstört und 170 Mitglieder der Gemeinde ins KZ Buchenwald deportiert worden – wurde der Vertreter der Gemeinde, der Kaufmann Josef Kahn, vom Bürgermeister der Stadt kontaktiert: mit unfassbarem Zynismus forderte er, die Ruinen der Synagoge, die in der Nacht vom 9. auf den 10.11. „in Brand geraten“ sei, seien innerhalb von drei Tagen zu entfernen. Falls der Anordnung nicht innerhalb des angegebenen Zeitrahmens Folge geleistet werde, werde das Baupolizeiamt die Räumung auf Kosten des Besitzers veranlassen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Chemnitz, Sammlung der Juedischen Gemeinde. AR 813

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Von Dachau nach Buchenwald

Fritz Löhner-Beda wird deportiert

DACHAU/BUCHENWALD

Fritz Löhner war nur einen Tag nach dem „Anschluss“ in Wien von den Nazis verhaftet und kurz darauf ins Konzentrationslager Dachau deportiert worden. Geboren worden war Löhner 1883 in Böhmen, als junges Kind war er mit seinen Eltern nach Wien umgezogen. Beda, wie sich Fritz Löhner teilweise auch nannte, war in den 1920er Jahren zu einem der gefragtesten Librettisten für Operetten-Texte in Wien geworden. Daneben schrieb er zahlreiche, teils noch bis heute bekannte Schlagertexte, aber auch gesellschaftskritische Satire und Kabarettstücke – immer mit klarer Haltung: Seine Zeit als Offizier im Ersten Weltkrieg hatte ihn zum Antimilitaristen werden lassen. Am 23. September 1938 verlegten ihn die Nazis von Dachau in Konzentrationslager Buchenwald.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Foto von Fritz Löhner; Inv. Nr. 24627

Die Hilfsstelle der Liga für Menschenrechte

„Diese Hunde von Hitler und Göring werden niemals gewinnen“

„Es stirbt halt nicht der jüd. Wohltätigkeitssinn aus und es wird diesen Hunden von Hitler und Göring nicht gelingen, dass die Emigranten in der Gosse krepieren.“

Brünn/Rischon LeZion

Hugo Jellinek war ein vielseitig begabter Mann. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwang ihn, sein Medizinstudium abzubrechen. Als Soldat wurde er in Samarkand schwer verwundet und verliebte sich in die Krankenschwester, die ihn pflegte und später seine Frau und die Mutter seiner drei Töchter wurde. Das Paar siedelte sich in Taschkent (Usbekistan) an. Nach dem Tod seiner noch jungen Frau im Jahr 1926 floh er 1930 aus der Sowjetunion und kehrte schließlich nach Wien zurück. Dort machte er sich die acht Sprachen, die er beherrschte, als Übersetzer zunutze und arbeitete als freiberuflicher Jornalist. Dank einer Warnung bezüglich seiner bevorstehenden Festnahme gelang es ihm im Juni 1938, nach Brünn zu entkommen. Seine älteste Tochter Gisella Nadja brach am selben Tag nach Palästina auf. In diesem schillernden Brief zeigt Hugo väterliche Sorge um Nadjas Wohlbefinden, diskutiert aber auch ausführlich die eigenen Nöte als Flüchtling und vergisst nicht zu berichten, dass der Sohn seines Cousins im Konzentrationslager Dachau interniert sei. Mit Genugtuung erwähnt er die Arbeit der von ihm so genannten „Liga“ (gemeint ist wohl die Hilfsstelle der Liga für Menschenrechte), die sich um die Flüchtlinge kümmerte und damit Hitlers teuflischen Plänen trotzte. Letztendlich jedoch käme es vor allem darauf an, für einen eigenen Staat zu kämpfen.

Unaushaltbare Verzweiflung

Jewish Telegraphic Agency veröffentlicht Liste von den jüngsten Suiziden unter Juden

“4 Deaths Announced Among Arrested Jews in Vienna; Family of 4 Committs suicide”

Wien

Der „Anschluss“, die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland im März 1938, hatte eine Welle anti-jüdischer Gewalt in Gang gesetzt: Die durch Ihren neuen Status und die völlige Hilflosigkeit der Juden ermutigten Nazis und Sympathisanten drangen in jüdische Wohnungen ein und nahmen sich, was ihnen gefiel. Betriebe, die in jüdischem Besitz waren, wurden geplündert oder zerstört. Juden und Jüdinnen jeden Alters wurden zu der demütigenden Handlung gezwungen, die Straßen zu schrubben, um unter unter den Augen johlender Zuschauer politische Slogans gegen den „Anschluss“ zu entfernen. Da von der Polizei keinerlei Schutz zu erwarten war, wurden viele Juden von einem Gefühl völliger Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit erfasst und in den Selbstmord getrieben: Allein in den ersten zwei Monaten nach dem „Anschluss“ entzogen sich 218 Juden der staatlich sanktionierten und geförderten Grausamkeit durch Selbstmord. Diese Notiz der Jewish Telegraphic Agency listet die jüngsten Selbstmorde – darunter der einer vierköpfigen Familie – und Todesfälle im Konzentrationslager Dachau auf.

Im Dunkel gelassen

Keine Informationen für die Familien von tausenden von inhaftierten Juden

„Ob alle oder einige wenige der mehreren Tausend Festgenommenen nach Dachau oder in die Steiermark geschickt worden sind und ob sie bald entlassen werden, ist eine beängstigend ungewisse Angelegenheit. Die Ereignisse der letzten Tage werden wohl nie aus dem Bewusstsein Tausender von Frauen hier getilgt werden.

WIEN

Niemand hielt es für nötig, die besorgten Familien tausender von den Nazis festgenommener Juden über deren Verbleib und die veranschlagte Dauer der Inhaftierung in Kenntnis zu setzen. Notgedrungen entschlossen sich viele jüdische Frauen, das Gefängnis in der Rossauer Lände aufzusuchen, um sich nach dem Verbleib ihrer Ehemänner zu erkundigen. Laut diesem Bericht der Jewish Telegraphic Agency waren die Männer in überfüllten Eisenbahnwaggons abtransportiert worden, nachdem viele von ihnen stundenlang in unbequemer Haltung hatten verharren müssen. Während es Andeutungen gab, dass die ins Konzentrationslager Dachau Verschickten als Bauarbeiter bei der Erweiterung des Lagers ausgenutzt werden und danach freigelassen werden sollten, hatten viele keine Ahnung, wo ihre Angehörigen waren. Der Verfasser des Berichts empfindet die ‚‚außerordentliche Gefühllosigkeit, mit der die Polizei Information zurückgehalten hat“, als ‚‚einen der erschreckendsten Aspekte der Situation“.

Dekorierter Soldat, Pazifist und Kabarettist

Fritz Grünbaum wird im Konzentrationslager Dachau interniert

„Ich sehe nichts, absolut gar nichts, da muss ich mich in die nationalsozialistische Kultur verirrt haben.“

DACHAU

Nachdem er seine österreichischen Landsleute drei Jahrzehte lang zum Lachen gebracht hatte, wurde die Karriere des Kabarettisten Fritz Grünbaum durch den „Anschluss“ abrupt beendet. Seine Politik allein hätte genügt, ihn für das Regime untragbar zu machen: Grünbaum war aus dem Ersten Weltkrieg nicht nur als dekorierter Soldat, sondern auch als erklärter Pazifist zurückgekehrt. Was den Nationalsozialismus betraf, nahm er kein Blatt vor den Mund: Seit 1933 war er politischer geworden, und als 1938 während einer Vorstellung ein Stromausfall eintrat und die Lichter ausgingen, kommentierte er schlagfertig: „Ich sehe nichts, absolut gar nichts, da muss ich mich in die nationalsozialistische Kultur verirrt haben.“ Seinem letzten Auftritt im berühmten Kabarett Simpl in Wien am 10. März, zwei Tage vor dem „Anschluss“, folgte ein Auftrittsverbot für jüdische Künstler. Grünbaum und seine Frau Lilly, eine Nichte Theodor Herzls, versuchten in die Tschechoslowakei zu fliehen, wurden jedoch an der Grenze zurückgewiesen. Am 24. Mai wurde er im Konzentrationslager Dachau interniert. – Grünbaum war auch als ernsthafter Kunstsammler vor allem modernistischer österreichischer Werke und als Librettist bekannt.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Fritz Grünbaum auf dem Appellplatz in Dachau; Inv. Nr. 24631

Schwarze Dreiecke

Unerwünschte ins KZ Buchenwald

Buchenwald

Der 30. April 1938 war der zehnte und letzte Tag der „Aktion Arbeitsscheu Reich“, einer Strafaktion, die auf Menschen abzielte, die für „asozial“ oder „arbeitsscheu“ erachtet wurden. Die Definition war ausreichend vage und breit gesteckt, es zu ermöglichen, sich einer großen Bandbreite von „Unerwünschten“ zu entledigen. Zwischen 1500 und 2000 so eingestufte Männer wurden in einer ersten Verhaftungswelle ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht, unter ihnen auch Juden. Sie wurden durch schwarze Dreiecke an der Häftlingskleidung identifiziert.

Liesl

Politische Gegner im Polizeigefängnis

„In Deiner Angelegenheit mache ich nach wie vor alle notwendigen Wege. Die Herren zeigen sich äußerst entgegenkommend, können aber infolge Überbürdung nicht alles so rasch erledigen“.

WIEN

Schon während der Jahre des autoritären Regimes, das 1934 in Österreich eingeführt worden war („Austrofaschismus“), war das Polizeigefängnis Rossauer Lände in Wien (von den Einheimischen „Liesl“ genannt) als Haftanstalt nicht nur für Kriminelle, sondern auch für politische Gegner benutzt worden. Nach der Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland am 12. März 1938 wurden von hier aus die ersten 150 Österreicher ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Edmund Wachs wurde im April 1938 in der „Liesl“ in „Schutzhaft“ genommen, ein bequemes Mittel in den Händen der Nazibehörden, um Juden und politische Gegner loszuwerden, da sie willkürlich verhängt werden konnte und den Gefangenen kaum oder gar keinen Rückgriff auf Rechtsbeistand ließ. Auf dieser Postkarte versichert ihm sein Bruder, Rechtanwalt Dr. Karl Wachs, er täte alles Notwendige, um seinen Fall zu unterstützen und bittet ihn um Geduld.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Edmund und Berta Wachs, AR 25093.

Original:

Archivbox 1, Ordner 6

Entrechtung in Österreich, Freilassung in Dachau

Die Nazis in Österreich erlassen eine Flut an neuen Bestimmungen

Wien

Wenig mehr als einen Monat nach der Machtübernahme der Nazis in Österreich lässt eine Kaskade neuer Bestimmungen und Schritte, die von den neuen Machthabern eingeleitet worden sind, wenig Raum für Optimismus: Die Jewish Telegraphic Agency berichtet für den 14. April aus Wien, es sei geplant, Juden innerhalb von 50 Kilometern aus den Grenzgebieten zur Tschechoslowakei zu vertreiben, österreichische Geschäfte würden auf eigene Kosten der Obhut von Nazi-Kommissaren anvertraut (laut der JTA ist diese Bestimmung im Fall hunderter von Geschäften in jüdischem Besitz bereits in Kraft getreten) und es sei ein Gesetz zur Sicherstellung rassischer Reinheit eingeführt worden. Der eine positive Punkt in dieser umfangreichen Meldung ist die Aussicht darauf, dass alle zur Zeit in Dachau internierten Juden nicht nur freigelassen, sondern auch Einreisegenehmigungen nach Palästina erhalten sollen.

Hotel Métropole

Ein Luxushotel wird zum Gestapo-Quartier

Wien

Das Hotel Métropole in Wien, am Morzinplatz im zentralen 1. Bezirk gelegen, war für die Weltausstellung 1873 errichtet worden. Das luxuriöse Gebäude, entworfen von den Architekten Carl Schumann und Ludwig Tischler, war mit einem prunkvollen Speisesaal und einem prächtigen Innenhof ausgestattet. Am 1. April 1938 nahm die Gestapo in dem Hotel, das von seinen jüdischen Besitzern konfisziert worden war, ihre Tätigkeit auf und machte es zu ihrem Hauptquartier. Mit 900 Angestellten war es die größte Gestapo-Stelle im Reich. Der erste Befehl, der von der neuen Zentrale ausging, war der Abtransport einer ersten Gruppe österreichischer Gefangener ins Konzentrationslager Dachau. Dieses Foto zeigt eine Tischdecke aus besseren Zeiten im Hotel Métropole.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Sammlung:

Tischtuch aus Hotel Metropol

Original:

Inv. Nr. 20526

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