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Nicht das Land ihrer Träume

Emigranten haben keine Wahl

„Ich bemühe mich aber ausserdem noch weiter um U.S.A. und England, und werde dann in Ruhe entscheiden, wo es für mich am besten sein wird. Ich habe nicht viel Lust in Pal. zu bleiben.“

Siena/Turin

Von dem Gedanken, in Palästina zu leben, war Stella nicht begeistert. Wie ihre Freundin Anneliese Riess, der sie am 28. Dezember ihre Gefühle mitteilte, war sie nach Italien geflohen. Aber auch hier war sie als Jüdin nicht willkommen: Laut der neuen Rassengesetze waren nicht in Italien geborene Juden verpflichtet, das Land innerhalb eines halben Jahres zu verlassen. Die 2000 unter den 10000 ausländischen Juden, die sich bereits vor 1919 in Italien niedergelassen hatten, waren von der Bestimmung ausgenommen. Wenigstens hatte Stella ein von der Mandatsregierung ausgestelltes Einwanderungs-Zertifikat für Palästina, und in einer Tel Aviver Klinik wartete auf sie eine unbezahlte Stelle, die freie Wohnung und Verpflegung versprach. Dennoch bemühte sie sich weiter um eine Einreisegenehmigung nach England oder in die USA. Tatsächlich war selbst eine unbezahlte Stelle mehr als viele eingewanderte Ärzte in Palästina erhoffen konnten: seit 1936 herrschte ein Überschuss an Ärzten im Land, und eine neue Einwanderungswelle nach der Annexion Österreichs im Februar 1938 („Anschluss“) hatte die Situation noch verschärft.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Anneliese Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, ordner 10

Heimweh

Erster Brief an ein emigriertes Kind

„Es ist eine ungeheure Leistung, die Du bis jetzt vollbrachtest und Deine lieben Berichte malen uns wenigstens einiges aus Deinem gegenwärtigen Leben aus. Bubi, wenn wieder Heimweh über Dich kommt, so weisst Du, dass wir unausgesetzt, Tag und Nacht, an Dich denken.“

Wien/Dovercourt, Essex

Mit 16 Jahren war Heinz Ludwig Katscher unter den älteren deutsch-jüdischen Kindern, denen die britische Regierung vorübergehendes Asyl zu gewähren bereit war. Seine Eltern, der Ingenieur Alfred Katscher und seine Frau Leopoldine, wie auch seine jüngere Schwester Liane waren in Wien zurückgeblieben. Offensichtlich hatte der Junge auf der Reise mit einer Gruppe von Kindern, die allesamt zu jung waren, um allein an einen ihnen unbekannten Ort zu reisen, in seinen ersten Briefen nach Hause Heimweh ausgedrückt: in seinem ersten Antwortbrief nach England bezieht sich der Vater liebevoll und beruhigend auf das Thema. Obwohl Herr Katscher seinen Sohn eindeutig vermisst, ist sein Ton optimistisch: angeblich seien die amerikanischen „Bewilligungen“ unterwegs , dank derer die Familie „entschlossener und sicherer“ geworden sei. Überschwänglich lobt er die Leistung des Sohnes, ohne die Familie nach England gereist zu sein und drückt sein Vertrauen in die Fähigkeit des Heranwachsenden aus, hinsichtlich seiner Zukunft in England die richtigen Entscheidungen zu fällen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Ludwig Katscher, AR 6336

Original:

Archivbox 1, Ordner A

Keine neue Regelung für Geschwister

Argentinien verschärft Einwanderungsbedingungen

„Mir ist immer elend zu Mute, wenn ich Euch Briefe schreiben muss, die immer wieder eine Hoffnung bei Euch zerstoeren, ich komme mir dann schuldbewusst vor, obwohl ich an der ganzen Sache beim besten Willen nichts aendern kann.“

Buenos Aires/Berlin

Aufgrund der Vorstellung, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte, dass Einwanderer – vorzugsweise aus Europa – gebraucht würden, um die gewaltigen Flächen Argentiniens zu bevölkern, war die Einwanderungspolitik des Landes vergleichsweise großzügig. Doch bereits nach dem Ersten Weltkrieg wendete sich das Blatt: der Bedarf an Arbeitskräften war saturiert, und in den zwanziger Jahren wurden administrative Barrieren gegen die Einwanderung errichtet. Als Opfer der Verfolgung durch die Nazis Zuflucht zu suchen begannen, wurden die Bestimmung weiter verschärft. Dennoch fanden Tausende deutscher Juden und Regimegegner in Argentinien Zuflucht. Unter ihnen war Max Busse. Seine Schwester Anna Nachtlicht, hatte gehört, die argentinische Regierung habe vor, die Einwanderung zu erleichtern und es zu ermöglichen, Geschwister anzufordern. Max erkundigte sich sofort, aber die Ergebnisse waren ernüchternd: in seiner Antwort vom 26. Dezember muss er ihr mitteilen, dass Pläne dieser Art nicht zu existieren scheinen. Verwandte in Frankreich hatten den Nachtlichts angeboten, bei ihnen auf die Einreisegenehmigung in ein Drittland zu warten. Vielleicht, so Max, wäre es einfacher, von dort aus einen Antrag zu stellen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Familie Nachtlicht, AR 25031

Original:

Archivbox 1, Ordner 7

Bürokratie ohne Empathie

Die Auswirkungen eines Gesetzes von 1917 im Jahr 1938

„Um seine Zulassungsfähigkeit in die Vereinigten Staaten laut Einwanderungsgesetz festzustellen, muss der Ausländer nachweisen, dass er von keiner der Ausnahmebestimmungen in Abschnitt 3 des Einwanderungsgesetzes vom 5. Februar 1917 betroffen ist, einschließlich derjenigen, die sich auf Personen bezieht, bei denen die Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie der Öffentlichkeit zur Last fallen werden.“

Washington D.C./Virginia Beach, Virginia

Amerika hatte mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, und im Kongress herrschte einen ablehnende Haltung gegenüber Fremden vor. In weiten Teilen der Bevölkerung war der Gedanke, eine größere Anzahl jüdischer Flüchtlinge ins Land zu lassen, nicht populär. Als daher Alice Rice in Virginia Beach versuchte, die Einreise ihrer tschechischen Verwandten zu unterstützen, bekam sie vom amtierenden Leiter der Visumsabteilung des Außenministeriums, Eliot B. Coulter, die gängige Antwort: er betonte, wie wichtig es sei, nachzuweisen, dass eine Belastung der öffentlichen Hand durch die Bewerber unwahrscheinlich sei und wies auf die Bestimmungen des Einwanderungsgesetzes von 1917 hin, das zusätzlich zu wirtschaftlichen Voraussetzungen die Einwanderung von einer Vielzahl von Bedingungen politischer, rassischer, moralischer und gesundheitlicher Natur abhängig machte. Dazu legte es fest, Personen im Alter von über 16 Jahren hätten nur dann ein Anrecht auf Einwanderung, wenn sie des Lesens und Schreibens kundig wären. Trotz des beherzten Einsatzes der Arbeitsministerin Frances Perkins, deren Ministerium zu dieser Zeit für Einwanderungs- und Einbürgerungsangelegenheiten zuständig war, wurde die Einwanderungspolitik der USA nicht angepasst, um der Welle der Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland gerecht zu werden. Interessanter Weise war eine der Rechtfertigungen hierfür, dass die Quote nie ganz gefüllt werde – ohne allerdings zu erwähnen, dass dies auf die Bestimmung zurückzuführen war, laut der nur solche Personen einwandern dürfen, die der Öffentlichkeit nicht zur Last fallen würden; diese machte es den vielen deutschen Juden, die durch die Politik des Regimes in die Armut getrieben worden waren und nicht das Glück hatten, wohlhabende Bürgen in Amerika zu haben, unmöglich, sich erfolgreich um Visen zu bewerben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Familie Klein-Cohn, AR 6217

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Source available in English

Keine Erholung für Juden in deutschen Badeorten

A refugee from Germany intervenes

„Die Verhaeltnisse liegen in diesem Falle besonders unguenstig, um nicht zu sagen, traurig. Ihre Eltern haben seit langer Zeit keine Beschaeftigung mehr, da sie, auf einer Nordsee-Insel lebend, zu den ersten Opfern der Nazibewegung gehoeren.“

Wangerooge

Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert war Feindseligkeit gegenüber Juden in deutschen Badeorten keine Seltenheit. Manche warben mit dem Prädikat „judenfrei“ für sich. In Nord- und Ostsee präsentierten sich ganze Inseln als antisemitisch. Einige hatten kleine jüdische Gemeinden. Auf den Stränden der Nordseeinsel Wangerooge waren bereits 1920 Hakenkreuzfahnen zu sehen, als diese gerade erst zum Symbol der Nazibewegung wurden. Nach dem Machtantritt der Nazis wurde die Situation der Juden auf der Insel noch schwieriger. Am 22. Dezember 1938 wandte sich Fritz Jacoby, selbst Nutznießer der Arbeit des Boston Committee for Refugees und ein Neuankömmling in den Vereinigten Staaten, an Willy Nordwind, den stellvertretenden Vorsitzenden: alle männlichen Verwandten der 24jährigen Wangeroogerin Marga Levy seien seit der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November („Kristallnacht“) inhaftiert und sie habe weder Geld, noch die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Daher bittet der dankbare Herr Jacoby das Kommittee inständig, eine „Hausangestellten-Bürgschaft“ für die junge Frau zu besorgen, die ihr ermöglichen würde, „Tag und Nacht“ zu arbeiten, „um ihre Eltern zu ernähren“.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 15

Stigmatisierende Bürokratie

Die Namensänderung wird offiziell

„Hierdurch teile ich pflichtgemäss mit, dass obengenannte 4 Personen ab 1. Januar 1939 die zusätzlichen Vornamen ,Sara‘ bzw. ,Israel‘ entsprechend der gesetzlichen Vorschrift führen.“

Schwandorf, Bayern

Am 17. August war dem „Gesetz über die Änderung von Familiennamen“ eine Verordnung beigestellt worden, die deutsche Juden zwang, sich durch die Hinzufügung des Namens „Sara“ bzw. „Israel“ zu ihrem Vornamen als Juden kenntlich zu machen. Diese Bestimmung sollte am 1. Januar 1939 in Kraft treten. Die vollzogene Änderung war bis Ende Januar beim zuständigen Standesamt und bei der Ortspolizei zu melden. In diesem Kontext ist diese Mitteilung der Familie Friedmann vom 21. Dezember 1938 an die Ortspolizeibehörde Schwandorf (Bayern) zu verstehen. Gleichzeitig wird mitgeteilt, dass auch die zuständigen Standesämter von der bevorstehenden Namensänderung Amalie, Bruno, Lillian und Georg Friedmanns in Kenntnis gesetzt worden seien.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung George und Lilian Friedman, AR 7223

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Ein alter Kopf begegnet neuen Herausforderungen

Von der Schwierigkeit, ein älterer Einwanderer zu sein

„Ich selbst habe Englisch und Ivrith angefangen. Es geht aber in einen alten Kopf nur sehr schwer etwas Neues hinein. Geld zum Stundennehmen habe ich nicht.“

Haifa

Im September 1938 hatten Dr. Hermann Mansbach und seine Frau Selma ihr Zuhause in Mannheim verlassen und sich in Haifa niedergelassen. Ihr Sohn Herbert, ein Zahnarzt wie sein Vater, saß in der Schweiz fest und versuchte, sich seinen Eltern anzuschließen. Nach einem Erlass der Nazis im April 1937, laut dem die Verleihung der Doktorwürde an Juden mit sofortiger Wirkung eingestellt zu werden habe, hatte Herbert Deutschland sofort verlassen und sein Studium in der Schweiz zu Ende geführt. Ein Zertifikat zur Einreise nach Palästina zu bekommen, erwies sich als schwierig, und um die Sache noch schlimmer zu machen, war Herbert um sein gesamtes Geld betrogen worden. Am 19. Dezember erstattete Hermann Mansbach Familie Frank in Zürich, die seinem Sohn zur Seite stand, und Herbert selbst Bericht von seinem neuen Leben in Palästina: durch die diskriminierende Politik der Nazis, die darauf hinzielte, das Leben von Juden in Deutschland wirtschaftlich unmöglich zu machen, und kostspielige Auswanderungsauflagen hatte das Ehepaar wenig Geld übrig, was den Neuanfang erschwerte. Dazu hatte er Mühe, Englisch und Hebräisch zu lernen und einen Lebensunterhalt zu verdienen. Als wären das nicht genug, köchelten im Hintergrund pausenlos politische Unruhen. Frau Mannsbach fügte hinzu, dass sie und ihr Mann das Haus nie gleichzeitig verließen, um ja keinen Patienten zu verpassen. Die Lage war schwer, aber, wie Dr. Mansbach schrieb, in einem Konzentrationslager zu sein, wäre schlimmer.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herbert Joseph Mansbach, AR 7073

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Ein sicherer Ort für Marianne

Leo Baecks Enkelin wird nach England umgeschult

„Ich schreibe Ihnen, um Ihnen mitzuteilen, dass meine Kollegin Fräulein Martin und ich Ihre Tochter Marianne gern als Schülerin in unserer Schule aufnehmen werden.“

Westgate-on-Sea, Kent/Berlin

Für viele jüdische Kinder in Deutschland war der Gang zur Schule zur Qual geworden: die ständige antisemitische Indoktrination deutscher Schüler vergiftete die Atmosphäre. Als Ausführende dieser Politik setzten Lehrer sich selten für ihre jüdischen Schüler ein, und der bloße Akt, in die Schule und zurück zu gehen, konnte zum Spießrutenlaufen werden. Infolgedessen hatte die Zahl jüdischer Schulen stark zugenommen, und wer es sich leisten konnte, schickte seine Kinder auf Internate im Ausland. Als Ruth Berlak in Berlin diese freundliche Nachricht von der St. Margaret’s School in Westgate-on-Sea, Kent, bekam, dass ihre dreizehnjährige Tochter Marianne als Schülerin zugelassen werde, war kaum mehr als ein Monat vergangen, seit das Naziregime die Entfernung jüdischer Schüler aus deutschen Schulen verordnet hatte. — Mariannes Großvater mütterlicherseits war Rabbiner Dr. Leo Baeck, der Präsident der Reichsvertretung der Juden in Deutschland. Ihr Großvater väterlicherseits war Leo Berlak, der Vorsitzende des Verbands jüdischer Heimatvereine.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Brief von Leo Baecks Enkelin, Marianne Dreyfus. Mit freundlicher Genehmigung von Marianne Dreyfus.

Auf Güte anderer angewiesen

Düstere Aussichten

„Wie uns bei all dem Bevorstehenden zumute ist, brauche ich Euch nicht zu schildern. Auflösung alles Bestehenden-der Familie, der Wohnung-das Verpflanzen in fremde, unbekannte Verhältnisse-überall auf Güte anderer angewiesen-Eltern und Kinder auseinandergerissen, ohne zu wissen, ob es ein Wiedersehen giebt [sic]-man hat kaum die Kraft, es im voraus auszudenken.“

Berlin/Buenos Aires

Als Ehefrau eines erfolgreichen Architekten hatte Anna Nachtlicht gesellschaftliches Prestige und Jahre des materiellen Wohlstands erlebt. 1932 jedoch zwang die Weltwirtschaftskrise das Ehepaar, seine Kunstsammlung zu versteigern, und 1933 verlor Leo seine Anstellung. Schließlich blieb dem Ehepaar keine andere Wahl als Zimmer zu vermieten. Die erwachsenen Töchter der Nachtlichts, Ursula (geb. 1909) and Ilse (geb. 1912), trugen zum Haushalt bei. Doch die Situation wurde unhaltbar. Wie Anna Nachtlicht am 17. Dezember an ihren Bruder Max in Argentinien schreibt, hatte die Familie „alle Ursache,“ nun auch noch mit dem Verlust der Wohnung in Berlin-Wilmersdorf zu rechnen. Während realistische Hoffnung darauf bestand, dass die Töchter in England Stellen bekommen würden, waren Anna und Leos Bemühungen, im Ausland Zuflucht zu finden, fast vollkommen erfolglos geblieben. Verwandte Leos in Frankreich hatten immerhin zugesagt, das Ehepaar vorübergehend unterzubringen, bis ein drittes Land ihnen ein dauerhaftes Zuhause anböte. Anna Nachtlicht bat offensichtlich nicht gern um Hilfe und beklagte die Abhängigkeit von anderen, doch die ständige Verschlechterung der Lage und dunkle Vorahnungen ließen ihr keine Wahl. Sie hatte gehört, Argentinien sei im Begriff, seine Einwanderungspolitik zu ändern und es möglich zu machen, Geschwister anzufordern. Mit unverhohlener Verzweiflung bittet sie ihren Bruder in Buenos Aires, sofort die Zusammenführung mit ihr zu beantragen und damit ihre Emigration zu ermöglichen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Familie Nachtlicht, AR 25031

Original:

Archivbox 1, Ordner 7

Die reine Wahrheit

Berufsverbot für Rechtsanwälte

„[...] ich muss immer wieder sagen, so sehr Ihr uns fehlt und so gross die Sehnsucht ist, so sind wir doch glücklich und zufrieden, dass es Euch so gut geht.“

Hamburg/Broadstairs, Kent

Julie Jonas in Hamburg und ihre Töchter Elisabeth und Margarethe hatten einander geschworen, wahrheitsgemäß über ihr seelisches Wohlbefinden Bericht zu erstatten. Fast täglich wurden Postkarten ausgetauscht. Seit wenigen Wochen waren beide Mädchen in England. Ihr Vater, der Rechtsanwalt Julius Jonas, hatte verschiedene NS-Gesetze, deren Ziel die Verdrängung von Juden und Regimegegnern aus juristischen Berufen war, überdauert. Doch mit Inkraften der „Fünften Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ am 30. November 1938 wurde er aus der Anwaltschaft ausgeschlossen. Der 15. Dezember war sein Geburtstag. Schon am Vortag hatte Julie Jonas den Kindern geschrieben, ihre Nerven seien „recht dünn“ geworden und es sei ihnen gar nicht nach Geburtstag zumute. Trotzdem bemühte sie sich tapfer, ihre Freude über das gute Befinden der Mädchen zu zeigen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Samlung Elizabeth Melamid, AR 25691

Original:

Archivbox1, Ordner 1

Zwischen Hammer und Amboss

Zunehmende Angst an der tschechisch-polnischen Grenze

„Bei uns hier an der Grenze ist es besonders arg. In Ostrau allein wurden allein [sic] 8000 Juden polnischer Staatszugehörigkeit binnen 3 Tagen ausgewiesen.“

Mährisch Ostrau

Bis jetzt war Lilly and Sim, einem Ehepaar in Mährisch Ostrau, größeres Leid erspart geblieben – wenigstens auf der persönlichen Ebene. Doch während täglich neue Gerüchte aufkamen, welche Stadt die Deutschen als nächstes besetzen würden, wuchs die Angst in der Stadt an der tschechisch-polnischen Grenze. Am schlimmsten war das Schicksal anderer Juden: in diesem Brief vom 10. Dezember 1938 erzählt Lilly ihren Freunden im Ausland von nicht weniger als 8000 Juden polnischer Herkunft, die man innerhalb von drei Tagen gezwungen hatte, die Stadt zu verlassen – manchmal nach 10, 20 oder sogar 40 Jahren am Ort. Ihr größter Wunsch – hinauszukommen – war schwer zu verwirklichen, und es war ihr unvorstellbar, sich als Landarbeiter einem Flüchtlingstransport in ein beliebiges Land “mit unmöglichem Klima” anzuschließen. Indessen stand Sim eine Beförderung bevor, doch angesichts der völligen Ungewissheit der Zukunft – da ein Abkommen zwischen Polen und der Tschechoslawakei noch ausstand, wusste das Paar zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, welche Staatsangehörigkeit es hatte – erweckte die Aussicht darauf keine große Freude.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 32

Von Exil zu Exil

Ein deutscher Jurist hält zu seiner jüdischen Familie

„Wir stehen mitten in einer Katastrophe so gewaltigen Ausmasses, dass wir sie noch nicht einmal zu erfassen vermögen. Es geht längst nicht mehr um das Schicksal einer verfolgten Minorität, es geht um die Menschheit schlechthin.“

New York/Basel

Mit der Ausdrucksstärke eines Dichters beschreibt der Jurist Paul Schrag am 9. Dezember 1938 seinem Freund Max Gutzwiller in Basel seine Umstände nach der Emigration. Seit Juli lebt er mit Frau und Kind in einem Hotel in Manhattan. Neben der Emigration und der damit verbundenen beruflichen Ungewissheit galt es auch, rein menschliche Belange zu verkraften: im September war sein Vater unerwartet verstorben, und nun bedurfte die kranke Mutter der Betreuung. Die Menschheitskatastrophe der dreißiger Jahre erlebte er sehr tief und hoffte auf das Einsetzen einer „tiefgreifenden seelischen und moralischen Gegenströmung“. Etwas Hoffnungsfreude brachte der kleine Sohn ins Leben, dessen Glück von Tagesgeschehen und Ortswechsel unberührt blieb.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Schrag, AR 25161

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Geld entscheidet über alles oder nichts

Die Rettung hängt vom Geld ab

„Sie werden natürlich einsehen, dass wir Sie nicht finanziell unterstützen können. Mein letzter Brief wird Ihnen vielmehr verdeutlicht haben, wie dringend unser Bedarf an Mitteln für Hilfe vor Ort ist.“

Nairobi/Rongai

Die Antwort des Sekretärs des Kenya Jewish Refugee Committee, Israel Somen, auf Paul Egon Cahns Bitte um Hilfe war einigermaßen reserviert: der junge Mann wollte dringend seine Eltern aus Köln nachholen, aber es fehlten ihm die £100, die zum Erwerb von Einreisegenehmigungen an das britische Kolonialamt in Mombasa zu entrichten waren. Die Finanzlage des Committee war bis aufs äußerste gespannt, so dass Somen dem jungen Mann nur raten konnte, bei der Einwanderungsbehörde in Nairobi einen ordnungsgemäßen Antrag einzureichen. Dieser hätte er zu beweisen, dass er in der Lage sei, für den Unterhalt seiner Eltern aufzukommen und dass er die Gebühr für die Genehmigungen entrichtet habe. Dann sei es immerhin möglich, dass die Behörde seinem Gesuch stattgeben würde, gesetzt den Fall, das Refugee Committee würde eine finanzielle Bürgschaft übernehmen. Auch dies, betonte Somen, sei von Paul Egon Cahns Fähigkeit abhängig, zu beweisen, dass die Eltern weder dem Committee noch der Lokalverwaltung finanziell zur Last fallen würden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Egon Cahn, AR 25431

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Gnadenlose Bürokratie

Alles oder nichts

„Mein Bruder Ernst (der Name im Pass ist Elias) ist vollkommen gesund. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals krank gewesen ist. Außerdem kann er lesen und schreiben, und sogar er verfügt über etwas englisches Vokabular. Das einzige Problem ist, dass er seit seinem fünfzehnten Lebensjahr nicht mehr gewachsen ist.“

Columbus, Ohio

Otto Neubauer war besorgt, seine Bemühungen, die Auswanderung seiner Familie in die Wege zu leiten, würden scheitern. Die USA waren entschlossen, Flüchtlingen, bei denen die Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie der öffentlichen Hand zur Last fallen würden, die Einreise zu verweigern. Ottos 34jähriger Bruder Ernst war geistig behindert, und es war ihm klar, dass sein in Mannheim ansässiger Vater Maximilian Deutschland unter keinen Umständen ohne seinen anderen Sohn verlassen würde. Am 6. Dezember versicherte Otto Herbert Reich, der sich bereiterklärt hatte, den Neubauers bei der Einwanderung in die USA zu helfen, Ernst sei „harmlos“ und seine Ansprüche minimal. Um die Chancen seines Bruders auf Einreisebewilligung zu erhöhen, meinte Otto, es wäre hilfreich, zwei Bürgschaften zu beschaffen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Otto Neubauer, AR 25339

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Source available in English

Quälende Ungewissheit

Die Sorge um Angehörige in Deutschland

„Das Gefühl der Ungewissheit über Euer persönliches Wohl ist so gross und die Hilflosigkeit bei allem Einsatz so trostlos, dass ich wirklich nicht weiss, was ich schreiben soll.“

Cleveland, Ohio/Stolzenau

Nicht wenige Juden in Deutschland reagierten mit Verzweiflung, existentieller Angst und sogar mit Selbstmord auf die Ereignisse der Novemberpogrome. Aber auch für diejenigen, die es geschafft hatten, sich ins Ausland abzusetzen, war die Situation hochgradig bedrückend: von weitem mussten sie mitansehen, wie ihre Gotteshäuser in Flammen aufgingen, wie Juden zu Tausenden festgenommen und in Konzentrationslager gesperrt wurden, wie jüdischer Besitz gestohlen oder zerstört wurde. Am schlimmsten war jedoch die Ungewissheit um das Befinden geliebter Angehöriger und die Qual, ihnen nicht oder zu langsam helfen zu können. Einer der vielen Emigranten, die diese Gefühle artikulierten, war Erich Lippmann: in diesem Brief aus Ohio an seine Mutter und Großmutter in Niedersachsen beschreibt er das Gefühl der Hilflosigkeit, erwähnt aber auch Bemühungen, von offizieller Seite Unterstützung zu bekommen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Martha Lipman, AR 6355

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Die einzige Hoffnung

Afrika als Zufluchtsort

„Die einzige Hoffnung meiner Eltern, hinauszukommen, bin ich.“

Rongai/Nairobi

1903, infolge des Pogroms von Kischinew, erklärte sich die britische Regierung bereit, im damaligen “Protektorat Ostafrika,” dem heutigen Kenya, die Ansiedlung europäischer Juden zu gestatten. Aufgrund massiver Opposition innerhalb der zionistischen Bewegung kam es nicht zu einer Realisierung des Plans, der unter dem irreführenden Namen „Uganda-Plan“ bekannt ist. 35 Jahre später fand sich Paul Egon Cahn, der zuletzt in Köln gelebt hatte, in Rongai (Kenya) wieder. Nach den Novemberpogromen begann der 20jährige Kfz-Mechaniker, zu versuchen, auch seine Eltern aus Deutschland herauszubringen. Während sich europäische Siedler und Angehörige der lokalen indisch-stämmigen Bevölkerung der Einwanderung jüdischer Flüchtlinge entgegenstellten, erwies sich das “Kenya Jewish Refugee Committee”, das seine Einwanderung ermöglicht hatte, als hilfreich. So wandte sich der junge Mann an den Sekretär des Komitees, Israel Somen, um Hilfe: er brauchte dringendst die £100, die das britische Kolonialamt für zwei Einreisegenehmigungen berechnete.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Egon Cahn, AR 25431

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Hilfe unter Freunden

Ein alter Freund in Not

„Beim hiesigen amerikanischen Konsulat anzukommen ist praktisch unmöglich, da überhaupt keine Auskunft gegeben wird und man dazu nicht erst mehrere Stunden auf einem kalten Hof stehen und warten muss.“

BERLIN/BOSTON

Willy Nordwind, der stellvertretende Vorsitzende des Boston Committee for Refugees, bemühte sich unermüdlich, Juden vor dem Zugriff der Nazis zu retten, indem er ihnen half, in die Vereinigten Staaten einzuwandern. Selbst aus Deutschland eingewandert und mit den Vorschriften bestens vertraut, half er, Bürgschaften zu beschaffen und dafür zu sorgen, dass Neuankömmlinge mit so verschiedenartigen Fachgebieten wie Tabak- und Kleider-Einzelhandel, Ein- und Verkauf von Strickwaren und Fisch-Großhandel in Amerika Anstellung fanden. Die meisten dieser Menschen waren ihm vollkommen fremd, doch manche der Hilfsempfänger waren persönliche Bekannte: Am 28.11. beschwört ihn sein Freund Seppel, eine besondere Lösung für ihn zu finden, um die Angelegenheit zu beschleunigen. Seit der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November war die Anzahl der Visumsanträge scharf gestiegen, und die gewöhnliche Wartezeit auf die Bearbeitung von Bürgschaften war viel zu lang.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 24

Vertrauen auf Fremde setzen

Der Hilfsverein nimmt seine Verantwortung ernst

Ein Mann, der so freundlich ist, Bürgschaften auszustellen, würde diese Menschen sicher nicht ausnutzen..

New York/Boston

Konnte man Willy Nordwind vom Boston Committee for Refugees – einer Organisation, die sich nicht schwerpunktmäßig um unbegleitet einwandernde Kinder kümmerte – das Wohlergehen einer Sechzehnjährigen anvertrauen? Der Hilfsverein der Juden in Deutschland war nicht bereit, Risiken einzugehen: Anstatt Frieda Diamont einfach auf die Reise zu schicken, wandte sich die Organisation an das National Council of Jewish Women in New York, um sich zu vergewissern, ob auf Herrn Nordwinds Integrität Verlass sei. Merle Henoch vom Council gab den Fall an Jewish Family Welfare in Boston weiter, wo auch Nordwind seinen Standort hatte. Für sie stand es außer Zweifel: Ein so großzügiger Helfer wie Willy Nordwind musste ein vertrauenswürdiger Verbündeter sein.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 8

Source available in English

Berufsverbot in allen Künsten

Ungeeignet für die Förderung deutscher Kultur

„Nach dem Ergebnis meiner Überprüfung der in Ihren persönlichen Verhältnissen begründeten Tatsachen besitzen Sie nicht die erforderliche Eignung und Zuverlässigkeit, an der Förderung deutscher Kultur in Verantwortung gegenüber Volk und Reich mitzuwirken.“

Berlin/Dresden

Die Arbeiten des expressionistischen Malers und Grafikers Bruno Gimpel waren im Dritten Reich als „entartete Kunst“ eingestuft. Weder sein freiwilliger Dienst als Lazarettgehilfe im Ersten Weltkrieg noch seine „Mischehe“ mit einer „arischen“ Frau ersparten ihm die üblichen Repressalien: Am 22. November 1938 erhielt er einen Brief von der Reichskammer der bildenden Künste, die ihm erneut die Mitgliedschaft verweigerte und ihm Berufsverbot in allen Sparten seines Metiers erteilte. 1935 hatte diese Institution des Dritten Reiches schon einmal ein Aufnahmegesuch des Dresdner Künstlers abgeschlagen. Seit 1937 blieb ihm zum Broterwerb nichts anderes übrig, als jüdischen Kindern Zeichenunterricht zu erteilen.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Sammlung:

Schreiben des Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste mit der Ablehnung des Antrages auf Mitgliedschaft von Bruno Gimpel

Neue Hoffnung auf Hilfe

Die Feldsteins in Wien hoffen auf Hilfe von den Feldsteins in Los Angeles

„Es hat mich sehr gefreut zu hören, dass Sie uns helfen werden, nach Amerika zu kommen. Ich hoffe Ihre Kinder sind im selben Alter wie ich, und ich werde gute Freunde haben.“

Wien/Los Angeles

19 Jahre lang hatte Fritz Feldstein zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten bei einer Wiener Bank gearbeitet. Doch 1938, nachdem Deutschland das benachbarte Österreich annektiert hatte, verlor er seine Stelle. Am 5. Juli ließ sich die Familie beim Amerikanischen Generalkonsulat registrieren, aber zur Einwanderung wurden Bürgschaften benötigt. Nach Monaten zutiefst beunruhigender politischer Veränderungen wagte Fritz Feldstein einen ungewöhnlichen Schritt: Am 16. Oktober wandte er sich an einen Julius Feldstein in Los Angeles, von dem er hoffte, er sei ein Verwandter, und appellierte an “die wohlbekannte amerikanische Hilfsbereitschaft”. Bald entwickelte sich ein Briefaustausch, an dem auch Fritz’ Ehefrau Martha und die gemeinsame Tochter Gerda beteiligt war. Die Elfjährige war nicht nur eine geschickte Klavierspielerin, sie hatte offenbar auch ein ausgesprochenes Sprachtalent: Am 20. November schreibt sie den Feldsteins zum ersten Mal – auf Englisch.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Fritz Feldstein Familie, AR 3250

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Vom Regen in die Traufe

Schwindender Freundeskreis

Seit 14 Tagen sind die alten Goldmanns sang- und klanglos verschwunden. Wir wissen nicht, wo sie sind.

BERLIN

Schon einmal hatten die Intrators fliehen müssen: Die judenfeindliche Atmosphäre in ihrer polnischen Heimat hatte Rachel (Rosa) und Jakob Intrator 1905 veranlasst, ihren Wohnsitz nach Berlin zu verlegen. Der im selben Jahr geborene Sohn Alexander wurde ein erfolgreicher Konzertgeiger. Der fünf Jahre jüngere Gerhard studierte Jura, doch kaum waren die Nazis an die Macht gebracht worden, begannen sie, systematisch jüdische Juristen zu verdrängen. Angesichts der Aussichtslosigkeit einer juristischen Karriere in Deutschland emigrierte der 27jährige 1937 in die Vereinigten Staaten. Nun war er massiv bemüht, die Eltern nachzubringen. Am 19.11. berichtete ihm sein Vater Jakob vom Erhalt der zur Einwanderung nötigen Bürgschaft (“affidavit”). Allerdings sei in näherer Zukunft nicht mit Visen zu rechnen. Unterdessen wurde der Kreis der Verwandten und Freunde immer kleiner: Manche wurden von den Nazis zur Rückkehr nach Polen gezwungen. Andere verschwanden einfach.

QUELLE

Institution:

Mit freundlicher Genehmigung von Joanne Intrator

Sammlung:

Brief von Jakob Intrator an Gerhard Intrator

Wo ist Paul Weiner?

Verstörende Nachrichten von den Verwandten

„Paul, der Ärmste, ist schon eine Woche im Konzentrationslager, wo, weiß Berta auch nicht, die Wohnung ist bis auf das Schlafzimmer total demoliert [...].“

Basel/New York

Willi Jonas und seine Frau Hilde führten ein Schuhgeschäft im ruhigen Basel. Voller Sorge um die Verwandten in Deutschland, schickte Willi Jonas seinen Schweizer Chauffeur, um die Lage zu erkunden. In einem Brief vom 18. November 1938 berichtet das Ehepaar ausgewanderten Freunden in Amerika von den Erlebnissen ihrer Angehörigen während und nach der Pogromnacht: Louis Jonas, ein Viehhändler in Waldbreitbach bei Neuwied, ist ohne materielle Verluste davongekommen. Nachdem er aber vier Tage im Gefängnis verbringen musste und nur deshalb freigelassen wurde, weil er über fünfzig ist, will er nichts mehr, als Deutschland zu verlassen. Die Nachrichten aus Worms sind noch beunruhigender: Paul Weiner ist in ein Konzentrationslager gebracht worden, und niemand hat es für nötig befunden, seine Frau Berta (geb. Jonas) wissen zu lassen, in welches. Die Wohnung des Paares wurde fast vollständig zerstört, ein Teil des Besitzes gestohlen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Betty und Morris Moser, AR 25497

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Source available in English

Nur Hilfe – egal woher

Versuch der Hilfe für die in Deutschland Verbliebenen

„Wir sind ratlos und unglücklich, dass wir aber auch gar nichts tun können, was unseren Leuten ein wenig helfen könnte.“

Antwerpen/Cleveland, Ohio

Martha Lippmann, die Witwe eines Wollhändlers in Stolzenau an der Weser in Niedersachsen, und ihre Mutter waren die letzten Familienmitglieder, die noch in Deutschland verblieben waren, als die Novemberpogrome Deutschlands Juden trafen: Ihre Tochter Gertrude war nach Belgien geflohen, ihr älterer Sohn, Erich, nach Amerika und ihr jüngerer Sohn, Hans Martin, nach England. Die Nachrichten von der Welle anti-jüdischer Gewalt steigerte die Dringlichkeit, mit der Emigranten versuchten, sich für ihre in Deutschland zurückgelassenen Verwandten einzusetzen. In einem Brief vom 16. November berichtet Max Stern, Gertrudes Ehemann, von einem geplanten Termin bei einem belgischen Rechtsanwalt in Martha Lippmanns Angelegenheit, mit dem Ziel, ein befristetes Visum für sie zu bekommen. Erich selbst hatte sich mit William Dodd in Verbindung gesetzt, dem ehemaligen US-Botschafter in Deutschland, dem er es zu verdanken hatte, dass er selbst nach Amerika gelangt war – bisher ohne Erfolg.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Martha Lipman, AR 6355

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Brandstiftung

Nazi-Bürokratie

„Eine Baugenehmigung für die Wiedererrichtung der Synagoge an derselben Stelle ist ausgeschlossen.“

Chemnitz

Während die jüdische Bevölkerung der Stadt versuchte, die brutale Gewalt zu verarbeiten, die sie zwei Tage zuvor erlebt hatte – die prächtige Synagoge war in der Pogromnacht in Brand gesteckt und zerstört und 170 Mitglieder der Gemeinde ins KZ Buchenwald deportiert worden – wurde der Vertreter der Gemeinde, der Kaufmann Josef Kahn, vom Bürgermeister der Stadt kontaktiert: mit unfassbarem Zynismus forderte er, die Ruinen der Synagoge, die in der Nacht vom 9. auf den 10.11. „in Brand geraten“ sei, seien innerhalb von drei Tagen zu entfernen. Falls der Anordnung nicht innerhalb des angegebenen Zeitrahmens Folge geleistet werde, werde das Baupolizeiamt die Räumung auf Kosten des Besitzers veranlassen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Chemnitz, Sammlung der Juedischen Gemeinde. AR 813

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Solidarität

Jüdische und christliche Organisationen unterstützen Flüchtlinge in Brasilien

„Lieber Bernhard und liebe Anni, lasst doch bitte auch gar nicht[s] unversucht. Nur an Euch hängen wir doch unsere einzige Hoffnung zum Leben.“

Gemen/Porto Alegre

Obwohl das Klima unter dem Vargas-Regime in Brasilien zunehmend anti-jüdisch wurde, konnten Flüchtlinge auf die Unterstützung von Verbündeten zählen: bereits 1933 war in Sao Paulo eine Hilfsorganisation für deutsch-jüdische Flüchtlinge ins Leben gerufen worden, und in Porto Alegre, wohin Bernhard und Anni Wolf aus Ostfriesland vor kurzem geflohen waren, hatten Flüchtlinge 1936 einen Kultur- und Wohlfahrtsverein gegründet. Die Haltung der katholischen Kirche war nicht eindeutig; nichtsdestotrotz leistete auch ein katholische Hilfskomitee für Flüchtlinge den neu ins Land Gekommenen bedeutende Hilfe. Nach einem erfolglosen Versuch beim Konsulat in Köln, ihre Einreise nach Brasilien in die Wege zu leiten, setzten Bernhards Bruder Richard und seine Frau Jola nun alle Hoffnung in ihre Verwandten in Brasilien.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Bernhard Wolff Familie, AR 5482

Original:

Archivbox 1, Ordner 9

Glück im Unglück

Totale Zerstörung und ein bisschen Glück

„Es ist bei uns nicht ein Stück ganz geblieben. Alles Geschirr kaputt, alles Essbare auf den Boden geschmissen, Mehl, Zucker etc., alles zerstreut, zum Teil noch zertrampelt, wie Kuchen etc., man kann sich das nicht vorstellen.“

Ludwigshafen/New York

Richard Neubauer hatte Glück: Als während der Novemberpogrome, in der Nacht vom 9. auf den 10. November, Nazi-Schläger den Besitz seiner Verwandten in Deutschland zerstörten, war er bereits in New York, in Sicherheit. In diesem Brief beschreibt ihm sein Bruder Fritz in lebendigen Einzelheiten die schreckliche Zerstörung, die über die Juden und ihren Besitz gekommen war und den Schrecken, den das brutale Vorgehen der Nazis hervorgerufen hatte. Die Brüder hatten von ihrem Onkel die Druckerei Neubauer in Ludwigshafen geerbt, die infolge der Zerstörung der freien Presse durch die Gleichschaltung unter den Nazis sämtliche Geschäfte eingebüßt hatte. Dank einer Reihe glücklicher Zufälle waren Fritz, seine Frau Ruth und ihre beiden Kinder im Besitz von Fahrkarten, mit denen sie legal in die Schweiz einreisen konnten. Ruth hatte sie aus den Trümmern ihrer Wohnungseinrichtung gerettet.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Otto Neubauer, AR 25339

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Jahreschronik 1938

Die Novemberpogrome

Die in Brand gesetzte Synagoge in Bamberg in der Nacht vom 9. auf den 10. November.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November kommt es in Deutschland, Österreich und dem Sudentenland zu gewaltsamen Übergriffen auf die dort leben den Juden. Die Pogrome sind staatlich sanktioniert. Mehr als 90 Juden werden in dieser Nacht getötet. 267 Synagogen werden in Brand gesteckt oder auf andere Weise zerstört, Geschäften, die von Juden geführt werden, werden die Fenster eingeworfen, Gemeindezentren und Privathäuser werden geplündert und zerstört. Nationalsozialistische Randalierer schänden jüdische Friedhöfe, Krankenhäuser und Schulen. Polizei und Feuerwehr schauen tatenlos zu. Die „Kristallnacht“ stellt einen doppelten Wendepunkt dar im ohnehin schon schicksalsträchtigen Jahr 1938: Die antijüdischen Diskriminierungen der Nazis kennen keine Grenzen mehr. Für viele Juden sind die November-Pogrome das letzte Warnsignal, die Flucht zu ergreifen.

Zur Jahreschronik 1938

Abschied für immer?

Trennung um des Überlebens Willen

„Edith lernt jetzt fleissig spanisch, denn es besteht eine leise Aussicht, dass sie nach Südamerika kommt. Wir sind sehr traurig darüber, denn wir sind uns klar, dass das einen Abschied fürs Leben bedeutet, und wir sind trotz des Wissens um die Notwendigkeit ihrer Ausreise fassungslos.“

Wien/Brooklyn

Aus der blühenden neunzehnjährigen Idealistin Hedwig Weiler, in die sich Franz Kafka 1907 bei einem Ferienaufenthalt in Triesch (Mähren) verliebte, ist inzwischen eine promovierte Akademikerin und die Ehefrau des Ingenieurs Leopold Herzka geworden. Die Ereignisse des Jahres 1938 in Österreich haben zum Auseinanderdriften ihres Freundeskreises in alle Himmelsrichtungen geführt. Am 6. XI. 1938 zählt sie in einem Brief an ihre ehemaligen Wiener Nachbarn, die nach Amerika ausgewanderte Familie Buxspan (später Buxpan), eine lange Reihe von Verwandten und gemeinsamen Freunden auf, die entweder bereits emigriert sind oder beabsichtigen, es zu tun. Besonders schwer ist für Hedwig Herzka die Aussicht auf die Auswanderung ihrer Tochter Edith nach Südamerika, und ihre Nerven liegen blank.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Max Buxpan, AR 6141

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Ein Mädchen geht voran

Hoffnung auf eine Zukunft in Palästina

„Ich stel mir vor das es Euch dorten gut geht. Es kommt mir vor nach eueren Schreiben wie in einem Paradis. Liebe Lotte du kannst mir glauben ich möchte an euerer Stelle sein, den das Leben hier ist sehr traurig und fad überhaupt jetzt wo Benno nicht zuhause ist.“

Wien/Gan Schmuel

Die Ankunft von Gertrude Münzers erstem Brief aus Palästina war ein Anlass zu Freude, Erleichterung und Hoffnung für ihre Familie, die in Wien zurückgeblieben war. Die Münzers waren eine gut integrierte Familie, aber nach der Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland wandte sich das Blatt, und sie gerieten zunehmend in Bedrängnis: Zunächst wurden sie aus ihrer Wohnung geworfen, dann verlor Moses Münzer seine Stelle. Mit Unterstützung ihrer Eltern ging Gertrude als einziges Mitglied ihrer Familie mit einer zionistischen Jugendgruppe nach Palästina. Angeregt durch ihr Beispiel, war ihr älterer Bruder Benno auf Hachscharah gegangen. In seiner Ratlosigkeit bittet ihr Vater in seinem Antwortbrief seine 15jährige Tochter inständig, im Kibbuz oder anderswo um Unterstützung für ihn nachzusuchen, damit er mit dem Rest der Familie nachkommen kann.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gertrude Knopf Familie, AR 11692

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Die Macht der Hoffnung

Ein bloßes Versprechen gibt neue Hoffnung

„Niemand, der die Umstände nicht kennt, kann sich vorstellen, in welch trostloser Verfassung wir in den letzten Monaten waren und wie verändert wir nun sind, nach Ihrem freundlichen Brief. Wir sind voller neuer Lebenskraft, Mut und Bereitschaft, zu arbeiten - und all das ist Ihnen zu verdanken.“

Wien/Brooklyn

In Abwesenheit näherer Verwandter in Amerika blieb Familie Metzger in Wien nichts anderes übrig, als einen Cousin 2. Grades, Rechtsanwalt Leo Klauber in Brooklyn, um Hilfe zu bitten. Herr Klauber war nicht imstande, seinen österreichischen Verwandten selbst Bürgschaften zu beschaffen, versprach aber, sich um sie zu bemühen. In Eva Metzger-Hohensteins Antwort auf sein Versprechen vom 1. November 1938 ist das Ausmaß ihrer Erleichterung deutlich spürbar: Nach Monaten der Angst und der Verzweiflung fühlten sich die Metzgers Dank ihres Cousins durch die realistische Aussicht auf Emigration neu belebt.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Korrespondanz zwischen Laura und Leonard Yaffe, AR 11921

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Source available in English

Seine Mutter zu retten

Die Bemühungen eines verzweifelten Sohnes

„Ich möchte meine Mutter nach Amerika bringen und kann nicht warten, bis die Einwanderungsquote wieder geöffnet wird. Ohne Zweifel ist Ihnen bekannt, dass die Einwanderung aus Deutschland aufgrund der ausgeschöpften Quote angehalten worden ist. Laut meinen Informationen gibt es eine Wartezeit von etwa einem Jahr.“

CLEVELAND, OHIO/WASHINGTON D.C.

Dank der Vermittlung William E. Dodds, Botschafter der Vereinigten Staaten in Deutschland von 1933 bis 1937, war es Erich M. Lipmann 1936 gelungen, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Als der 26jährige diesen leidenschaftlichen Appell an Dodd richtete, seiner Mutter Martha Lipmann zu helfen, Deutschland zu verlassen und zu ihm nach Cleveland zu kommen, hatte er bereits zwei Jahre in den Staaten zugebracht. Der hier gezeigte Brief ist nur einer in einer langen Reihe zunehmend verzweifelter Versuche Lipmanns, seine Mutter zu retten. Jahrelang wandte er sich unermüdlich an alle in Frage kommenden Stellen, um Hilfe zu bekommen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Martha Lipmann, AR 6355

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Die Vertreibung polnischer Juden

Die Vertreibung polnischer Juden

Köln

Da es einen massiven Zustrom polnischer Juden aus dem von Nazi-Deutschland annektierten Österreich befürchtete, verabschiedete das polnische Parlament im März 1938 ein Gesetz, das es ermöglichte, Menschen die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, die mindestens fünf Jahre außer Landes waren. Am 15. Oktober erging eine Verfügung, wonach nur Personen mit einem Prüfvermerk des polnischen Konsulats die Einreise gestattet sei. Die Verfügung sollte am 30. Oktober in Kraft treten. Angesichts der Anwesenheit von weit über 70.000 polnischen Juden im Reichsgebiet entschloss sich das Regime zu schnellem Handeln: Im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“ vom 27. bis zum 29. Oktober wurden tausende polnischer Juden ausgewiesen. Viele dieser polnischen Staatsbürger hatten wenig oder überhaupt keine Verbindung zu ihrem Ursprungsland und nichts und niemanden, zu dem sie hätten zurückkehren können. Eines der Opfer der Aktion war Ida, die Haushälterin der Familie Schönenberg in Köln: Am 29. Oktober schreibt Dr. Schönenberg, seit drei Jahren Idas Dienstherr, an seinen Sohn Leopold in Palästina, wie sich die junge Frau mit gerade einmal 3 1/2 Stunden Vorwarnung bei der Polizei habe einfinden müssen. Ida war gebürtige Kölnerin und hatte einen Verlobten in Deutschland.

QUELLE

Institution:

NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Original:

Best. 46

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