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Das Morgen umarmen

Ein Flüchtling rät Flüchtlingen

„Wir bleiben Kämpfer für ein freies, gerechtes, sauberes Deutschland. [...] Diese Unterwelt muss enden, sie wird enden! Ein menschliches Deutschland wird leben. Auf dieses wirkliche Deutschland hoffen nicht nur die wirklichen Deutschen, es hoffen die Juden, es hofft die Welt.“

New York

Schon vier Jahre lang diente der Aufbau, das Vereinsblatt des German-Jewish Club in New York, Einwanderern als kultureller und emotionaler Anker und als Quelle nützlicher Information. Die Dezember-Ausgabe brachte eine begeisterte Meldung über das neue wöchentliche Radio-Programm des Club. Unter den prominenten Rednern, die man gebeten hatte, anlässlich der Einführung des Programms zu sprechen, war Dr. Joachim Prinz, ein zuvor in Berlin ansässiger Rabbiner und engagierter Gegner der Nazis. In seinem Beitrag spannte er einen Bogen von der Zeit des Exodus über eine Geschichte der Emigrationen bis hin zur gegenwärtigen bedrängten Lage und versuchte nicht, das Los der Emigranten zu bagatellisieren. Gleichzeitig zeigte er auch das Potential der Herausforderungen des Einwandererlebens in Amerika auf, indem er die Situation seiner Gemeinschaft mit der jüdischer Flüchtlinge der Spanischen Inquisition verglich. Das neue Programm, so meinte er, sei „ein wichtiges Instrument der Erziehung zu Juden und zu Menschen der Freiheit“. Der Ruf der Stunde war klar: „Wir müssen das Morgen umarmen und das Gestern begraben. Wir müssen versuchen, wieder glücklich zu sein.“

Erpresste Auswanderung

Über Cuba in die Freiheit

„Sobald uns nähere Nachrichten über die Einreiseerlaubnis für Cuba vorliegen, werden wir Sie benachrichtigen.“

Schwandorf, Bayern

Die massenhafte Festnahme jüdischer Männer während der Novemberpogrome – etwa 30.000 wurden in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau inhaftiert – erfüllte ihren Zweck: sie diente der Erpressung zur Aufgabe des verbleibenden jüdischen Vermögens und zur Auswanderung. Unter den 10911 Juden, die allein in Dachau festgehalten worden waren, befanden sich Georg Friedmannn, Inhaber eines Modehauses in Schwandorf (Bayern), und sein Sohn Bruno. Lillian Friedmann verlor keine Zeit: schon im November, während Ehemann und Sonn noch inhaftiert waren, führte sie ein Beratungsgespräch im Reisebüro der Hamburg-Amerika-Linie in München, dem ein intensiver Briefwechsel folgte. Dank einer wohlhabenden Verwandten in New York (die in diesem Kontext erstmals von ihnen erfuhr), waren sie im Besitz einer Bürgschaft. Der Plan war, über Kuba nach New York zu reisen. Am 29. Dezember stellte die Hamburg-Amerika-Linie Frau Friedmann eine Quittung für die Überfahrt von Hamburg nach Havanna für ihren Sohn Bruno und ihre Schwiegermutter Amanda Friedmann aus.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung George und Lilian Friedman, AR 7223

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Von Exil zu Exil

Ein deutscher Jurist hält zu seiner jüdischen Familie

„Wir stehen mitten in einer Katastrophe so gewaltigen Ausmasses, dass wir sie noch nicht einmal zu erfassen vermögen. Es geht längst nicht mehr um das Schicksal einer verfolgten Minorität, es geht um die Menschheit schlechthin.“

New York/Basel

Mit der Ausdrucksstärke eines Dichters beschreibt der Jurist Paul Schrag am 9. Dezember 1938 seinem Freund Max Gutzwiller in Basel seine Umstände nach der Emigration. Seit Juli lebt er mit Frau und Kind in einem Hotel in Manhattan. Neben der Emigration und der damit verbundenen beruflichen Ungewissheit galt es auch, rein menschliche Belange zu verkraften: im September war sein Vater unerwartet verstorben, und nun bedurfte die kranke Mutter der Betreuung. Die Menschheitskatastrophe der dreißiger Jahre erlebte er sehr tief und hoffte auf das Einsetzen einer „tiefgreifenden seelischen und moralischen Gegenströmung“. Etwas Hoffnungsfreude brachte der kleine Sohn ins Leben, dessen Glück von Tagesgeschehen und Ortswechsel unberührt blieb.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Schrag, AR 25161

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Von der Wut zum Handeln

Der „Aufbau“ ruft zum Handeln auf

„Hass kann man nur überwinden, wenn man selbst sich über ihn hinaus zu positiver Leistung erhebt.“

New York

In Reaktion auf die Novemberpogrome, den bisher massivsten Ausbruch anti-jüdischer Gewalt in Deutschland, begnügt sich das Dezember-Editorial des Aufbau nicht mit Äußerungen des Schmerzes und der Trauer, sondern ruft kraftvoll dazu auf, der Brutalität der Nazis durch positives Handeln entgegenzutreten. „Die Antwort auf Barbarei ist schon immer Aufklärung gewesen“ – mit diesen Worten zitierte es den US-Erziehungsbeauftragten J.W. Studebaker, der überzeugter Demokrat war und die entscheidende Rolle öffentlicher Diskussion und politischer Bildung für das Funktionieren der Demokratie erfasste. Das Editorial versicherte der deutschen Judenheit, ganz Amerika sei vereint im Bemühen, „der Barbarei in Mitteleuropa Einhalt zu tun.“ Es befürwortete uneingeschränkt die Position der Regierung und benannte Bildung und Aufklärung als Mittel, diesen „schwersten aller Angriffe auf die menschliche Kultur“ abzuwehren.

Die Zukunft von Menschheit und Kultur

Ein Aufruf zum Handeln in schlechten Zeiten

„Wenn jemals tapfere Herzen, klare Hirne und starke Fäuste nötig waren, dann heute, wo nicht weniger als die Zukunft von Menschheit und Kultur auf dem Spiele steht!“

New York

Niemand, der die November-Ausgabe des Aufbau las, konnte die fettgedruckte Botschaft auf der Titelseite verpassen: Unter der Überschrift „Die grosse Prüfung“ wird mit starken Worten das totale Versagen der „Staatsoberhäupter der sogenannten Demokratien“ angeprangert, die die Tschechoslowakei an Nazi-Deutschland geopfert haben. Jüdische Flüchtlinge sitzen in Böhmen im Niemandsland fest, in Deutschland verpassen die Nazis den Juden den „wirtschaftlichen Todesstreich,“ die Briten gefährden das zionistische Unternehmen und „wenig mehr als eine blasse Erinnerung“ ist von der Konferenz von Evian verblieben, die im Juli einberufen wurde, um das Problem der Neuansiedlung jüdischer Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland in Griff zu bekommen. Dies ist wahrlich „ein Zeitalter der vollkommenen Sündhaftigkeit.“ Werden die Bedrohten sich endlich aufraffen?

Vertrauen auf Fremde setzen

Der Hilfsverein nimmt seine Verantwortung ernst

Ein Mann, der so freundlich ist, Bürgschaften auszustellen, würde diese Menschen sicher nicht ausnutzen..

New York/Boston

Konnte man Willy Nordwind vom Boston Committee for Refugees – einer Organisation, die sich nicht schwerpunktmäßig um unbegleitet einwandernde Kinder kümmerte – das Wohlergehen einer Sechzehnjährigen anvertrauen? Der Hilfsverein der Juden in Deutschland war nicht bereit, Risiken einzugehen: Anstatt Frieda Diamont einfach auf die Reise zu schicken, wandte sich die Organisation an das National Council of Jewish Women in New York, um sich zu vergewissern, ob auf Herrn Nordwinds Integrität Verlass sei. Merle Henoch vom Council gab den Fall an Jewish Family Welfare in Boston weiter, wo auch Nordwind seinen Standort hatte. Für sie stand es außer Zweifel: Ein so großzügiger Helfer wie Willy Nordwind musste ein vertrauenswürdiger Verbündeter sein.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 8

Source available in English

Wo ist Paul Weiner?

Verstörende Nachrichten von den Verwandten

„Paul, der Ärmste, ist schon eine Woche im Konzentrationslager, wo, weiß Berta auch nicht, die Wohnung ist bis auf das Schlafzimmer total demoliert [...].“

Basel/New York

Willi Jonas und seine Frau Hilde führten ein Schuhgeschäft im ruhigen Basel. Voller Sorge um die Verwandten in Deutschland, schickte Willi Jonas seinen Schweizer Chauffeur, um die Lage zu erkunden. In einem Brief vom 18. November 1938 berichtet das Ehepaar ausgewanderten Freunden in Amerika von den Erlebnissen ihrer Angehörigen während und nach der Pogromnacht: Louis Jonas, ein Viehhändler in Waldbreitbach bei Neuwied, ist ohne materielle Verluste davongekommen. Nachdem er aber vier Tage im Gefängnis verbringen musste und nur deshalb freigelassen wurde, weil er über fünfzig ist, will er nichts mehr, als Deutschland zu verlassen. Die Nachrichten aus Worms sind noch beunruhigender: Paul Weiner ist in ein Konzentrationslager gebracht worden, und niemand hat es für nötig befunden, seine Frau Berta (geb. Jonas) wissen zu lassen, in welches. Die Wohnung des Paares wurde fast vollständig zerstört, ein Teil des Besitzes gestohlen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Betty und Morris Moser, AR 25497

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Source available in English

Glück im Unglück

Totale Zerstörung und ein bisschen Glück

„Es ist bei uns nicht ein Stück ganz geblieben. Alles Geschirr kaputt, alles Essbare auf den Boden geschmissen, Mehl, Zucker etc., alles zerstreut, zum Teil noch zertrampelt, wie Kuchen etc., man kann sich das nicht vorstellen.“

Ludwigshafen/New York

Richard Neubauer hatte Glück: Als während der Novemberpogrome, in der Nacht vom 9. auf den 10. November, Nazi-Schläger den Besitz seiner Verwandten in Deutschland zerstörten, war er bereits in New York, in Sicherheit. In diesem Brief beschreibt ihm sein Bruder Fritz in lebendigen Einzelheiten die schreckliche Zerstörung, die über die Juden und ihren Besitz gekommen war und den Schrecken, den das brutale Vorgehen der Nazis hervorgerufen hatte. Die Brüder hatten von ihrem Onkel die Druckerei Neubauer in Ludwigshafen geerbt, die infolge der Zerstörung der freien Presse durch die Gleichschaltung unter den Nazis sämtliche Geschäfte eingebüßt hatte. Dank einer Reihe glücklicher Zufälle waren Fritz, seine Frau Ruth und ihre beiden Kinder im Besitz von Fahrkarten, mit denen sie legal in die Schweiz einreisen konnten. Ruth hatte sie aus den Trümmern ihrer Wohnungseinrichtung gerettet.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Otto Neubauer, AR 25339

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Jahreschronik 1938

Die Novemberpogrome

Die in Brand gesetzte Synagoge in Bamberg in der Nacht vom 9. auf den 10. November.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November kommt es in Deutschland, Österreich und dem Sudentenland zu gewaltsamen Übergriffen auf die dort leben den Juden. Die Pogrome sind staatlich sanktioniert. Mehr als 90 Juden werden in dieser Nacht getötet. 267 Synagogen werden in Brand gesteckt oder auf andere Weise zerstört, Geschäften, die von Juden geführt werden, werden die Fenster eingeworfen, Gemeindezentren und Privathäuser werden geplündert und zerstört. Nationalsozialistische Randalierer schänden jüdische Friedhöfe, Krankenhäuser und Schulen. Polizei und Feuerwehr schauen tatenlos zu. Die „Kristallnacht“ stellt einen doppelten Wendepunkt dar im ohnehin schon schicksalsträchtigen Jahr 1938: Die antijüdischen Diskriminierungen der Nazis kennen keine Grenzen mehr. Für viele Juden sind die November-Pogrome das letzte Warnsignal, die Flucht zu ergreifen.

Zur Jahreschronik 1938

Protest durch den Stimmzettel

Gefährdete Demokratie

„Wir alle, die wir nur etwas vertraut sind mit der amerikanischen Tagespolitik, wissen, dass der von uns allen aufs höchst verehrte Präsident der Vereinigten Staaten nie auch nur daran denken würde, diese Gesetze in rein persönlichem Sinne auszulegen. Was gibt uns aber die Garantie, dass nicht einstmals ein Nachfolger sie so auslegen würde?“

New York

Die Tatsache, dass sie sich den Gefahren des Nazismus entzogen hatten, bedeutete nicht, dass es für die Einwanderer an der Zeit sei, unachtsam zu werden: Das Editorial der November-Ausgabe des Aufbau ermahnte die Neuankömmlinge, sich Kenntnisse über das Funktionieren der amerikanischen Politik anzueignen, um Entwicklungen zu verhindern, die denen glichen, durch die die gegenwärtige Regierung in Deutschland an die Macht gekommen war. Insbesondere warnt der Verfasser vor einer Beschneidung der Rechte mit „verfassungsmäßigen“ Mitteln. Der wirksamste Protest gegen Versuche, die Demokratie zu untergraben, bestehe im „Protest durch den Stimmzettel.“ Nur die Kandidaten, die für den wahren Amerikanismus, wie er ihn sah, stünden – für Frieden und Gerechtigkeit oder, mit anderen Worten, für Demokratie – verdienten, gewählt zu werden.

Wovon wird er in Amerika leben?

Ein Flüchtling ohne Englischkenntnisse und mit wenig Fachkönnen braucht Hilfe bei der Arbeitssuche

„Wir brauchen nicht darauf hinzuweisen, dass Herr Raskin bereits über das Alter hinaus ist, in dem hier Geborene Schwierigkeiten bei der Suche nach einer neuen Tätigkeit auf Schwierigkeiten stoßen. Herr Raskin spricht kaum Englisch. Er beherrscht kein Handwerk. Seine Erfahrung als Bonbonverkäufer ist bei Bewerbung um eine Stelle nicht besonders hilfreich.“

New York/Boston

Seit Anfang der 1880er Jahre schloss das Einwanderungsgesetz der Vereinigten Staaten eine Klausel ein, die darauf abzielte, Menschen fernzuhalten, bei denen die Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie der Öffentlichkeit zur Last fallen würden. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise bestätigte Präsident Hoover 1930 die Sperre. Hilfsorganisationen hatten es schwer, den Neuankömmlingen Arbeitsplätze zu verschaffen: am 26. Oktober schildert ein Mitarbeiter des Employment Department of the Greater New York Coordinating Committee for German Refugees Willy Nordwind vom Boston Committee for Refugees die Schwierigkeiten bei der Suche nach Arbeit für einen Mann, der es geschafft hatte, ins Land zu kommen, aber kaum Englisch sprach und außer seiner Tätigkeit als Bonbonverkäufer keine Arbeitserfahrung aufzuweisen hatte. Dennoch verspricht der Mitarbeiter, sich weiterhin um die Belange des Einwanderers zu bemühen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 26

Jahreschronik 1938

Die „Polenaktion“

Eine fotographische Momentaufnahme der Polenaktion.

Ende Oktober weisen die Nationalsozialisten etwa 17.000 polnische Juden aus dem Deutschen Reich aus. Die als „Polenaktion“ bezeichnete Massenabschiebung markiert den bisherigen Höhepunkt der Diskriminierungen der Nazis gegenüber den Juden. Das polnische Parlament hatte im März und Oktober Gesetze erlassen, die die Pässe von im Ausland lebenden jüdischen Polen schwächten. Unter anderem sollten im Ausland ausgestellte Pässe zum 30. Oktober nicht mehr zur Einreise nach Polen befugen, sofern sie nicht einen Prüfvermerk des polnischen Konsulats trugen. Die polnische Regierung wollte so eine Masseneinwanderung von polnischen Juden aus dem Deutschen Reich nach Polen verhindern. Als die Deutsche Botschaft in Warschau davon erfuhr, veranlassten die Nazis die „Polenaktion” binnen weniger Tage.

Zur Jahreschronik 1938

Es kommt noch schlimmer

Nach dem Tod ihres Mannes ist die Sängerin Amalia Carneri gezwungen, ihren Besitz zu verkaufen, und bei fremden Menschen einzuziehen.

Wien/New York

Amalia Carneri hatte bessere Tage gesehen: einst eine gefeierte Opern- und Konzertsängerin, musste sie nun gleichzeitig mit dem Tod ihres Ehemanns, des Mineninspektors Heinrich Pollak, der Notwendigkeit, das langjährige Zuhause der Familie in Wien aufzugeben und der Besorgnis erregenden politischen Situation fertig werden. In diesem Brief vom 19. Oktober 1938 an den älteren ihrer beiden Söhne, Fritz, der nach Amerika geflohen war, beschreibt sie in großem Detail ihre Schwierigkeiten beim Verkauf ihres Besitzes: selbst mit der Unterstützung eines wohl etwas unseriösen Helfers muss sie unter Wert verkaufen. Ungewiss, was sie an Witwenpension zu erwarten hat und mit nur einer vagen Hoffnung, sich eines Tages Fritz in Amerika anzuschließen, ist sie in einem Zustand spürbarer Unruhe, und ihre Söhne sind ihr einziger Trost.

QUELLE

Institution:

Courtesy of Nancy Polk, Woodbridge, Connecticut

Original:

Brief von Amalia Cameri an ihrem Sohn, Fritz Pollak

Neues Unternehmen, altes Netzwerk

Was bedeutet Auswanderung für einen Unternehmer?

„Erlauben Sie mir im Bezug auf meine Bürgschaft noch auszuführen, dass ich mein jährliches Einkommen nicht angegeben habe, weil die Hochhauser Leather Co Inc. erst vor kurzer Zeit gegründet wurde.“

NEW YORK/WIEN

In Wien war Hans Hochhauser gemeinsam mit seinem Bruder erfolgreicher Inhaber eines Ledermanufaktur- und Exportunternehmens gewesen. Doch bereits einen Tag nach dem „Anschluss“ hatte er alle Zelte abgebrochen und war mit seiner Frau Greta und seiner Tochter Ilse auf abenteuerlichem Wege aus Österreich geflohen: abgewiesen an der tschechischen Grenze, gelangte die Familie mit dem Zug in die Schweiz und von dort mit einem gecharterten Flugzeug nach England, von wo aus sie schließlich ihren Weg in die Vereinigten Staaten fand. In New York angekommen, musste Hans Hochhauser von vorn beginnen: seine neue Firma hieß „Hochhauser Leather Co Inc.“ In einem Schreiben an das amerikanische Generalkonsulat in Wien vom 14. Oktober 1938, mit dem er eine Bürgschaft für seinen Cousin Arthur Plowitz übermittelte, wies er darauf hin, dass er mit seiner neuen Firma zwar noch am Anfang stehe, aber auf große Teile seines alten Handelsnetzwerks zurückgreifen könne.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Hans und Grete Hochhauser, AR 12070

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

“America First!”

Nach vorne schauen und nicht zurück

Aber Freiheit und Recht werden uns nicht geschenkt, wir haben auch hier für sie zu arbeiten und zu kämpfen!

New York

Das Editorial der Oktober-Ausgabe des Aufbau verfolgt ein klares Ziel: die Leserinnen und Leser daran zu erinnern, dass sie „nunmehr Amerikaner sind mit allen Rechten, aber auch mit allen Pflichten.“ Bindungen vornehmlich familiärer und kultureller Art werden anerkannt, gleichzeitig aber betont, wie wichtig es sei, den Blick in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit zu richten. „America First!“ lautete das Motto, das als Aufruf zur Integration der jüdischen Emigranten in die amerikanische Gesellschaft verstanden werden kann. Der Autor des Editorials liefert seinen Lesern dafür auch Argumente: Europa könne ihnen fundamentale Werte wie Freiheit und Recht nicht mehr garantieren. In den Vereinigten Staaten mit ihrer „Bill of Rights“ hingegen lohne es sich, für diese Werte einzustehen und zu kämpfen. Der Jewish Club als Herausgeber des Aufbau positionierte sich somit klar innerhalb der amerikanischen Gesellschaft – und erwartete diese Haltung auch von seinen Lesern und Mitgliedern.

Entfernt verwandt

FREITAG

„Ich appelliere an Ihre Menschlichkeit und Ihren Sinn für Blutsverwandtschaft, wenn ich mir die Freiheit nehme, Sie zu bitten, mir bei meiner Immigration in die Staaten zu helfen und mir die notwendige Bürgschaft auszustellen.“

Wien/New York

Es muss Überwindung gekostet haben: Eva Metzger-Hohenberg schrieb dem entfernten Verwandten, aber ihr eigentlich völlig unbekannten Leo Klauber in Manhattan einen flehenden Brief. Ihre Lage sei prekär, für Juden sei in Deutschland kein Platz mehr. Maria Metzger-Hohenberg appellierte an Leo Klaubers „Menschlichkeit“ und seinen „Sinn für Blutsverwandtschaft“ und bat ihn, ihr und ihrer Familie Bürgschaften auszustellen. Dieser Brief aus Wien zeigt nicht nur, welche verzweifelten Maßnahmen manche jüdische Familien ergreifen mussten, um ihre Auswanderung zu ermöglichen. Er zeichnet auch ein lebendiges Bild von der Situation, in der sich viele Juden im Herbst 1938 befanden. Marias Eltern und ihr Bruder hatten ihr Fleisch-Geschäft aufgeben müssen. Der Großhandel ihres Ehemanns, der mehr als 140 Mitarbeiter beschäftigte, wurde „arisiert“. Faktisch bedeutete dies, dass er weit unter Wert verkauft werden musste. Das Schicksal der Metzger-Hohenbergs steht exemplarisch für das unzähliger jüdischer Familien in dieser Zeit.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Laura und Leonard Yaffe Korrespondenze, AR 11921

Original:

Archivbox 2, Ordner 3

Source available in English

Fließend Englisch!

Exil mit Sprachbarrieren

„Fließend Englisch in ein paar Wochen. Originelle, einfache, wissenschaftliche Methode.“

New York

Fließend Englisch sprechen! Das könnte einer der guten Vorsätze jüdischer Einwanderer in den Vereinigten Staaten für das bevorstehende neue jüdische Jahr gewesen sein. Die September-Ausgabe des „Aufbau“ bot eine ganze Bandbreite von Lernangeboten: Diverse Inserate etwa warben mit „niedrigem Honorar“ oder auch mit „originellen” Methoden, mit denen man sein Englisch schon in wenigen Wochen deutlich verbessern könne. Das Angebot stieß auf jeden Fall auf Nachfrage. Denn nach der Ankunft in den Vereinigten Staaten stellte die englische Sprache für viele Einwanderer eine erste entscheidende Hürde dar. Wer in einem amerikanischen Umfeld arbeiten und ein neues Leben aufbauen wollte, musste sich verständigen können.

Zum Nazi erzogen

Erika Manns Buch über das NS-Bildungsystem

NEW YORK

Erika Mann eröffnet ihr Buch mit einer fesselnden Beschreibung. Sie erzählt von einem Treffen mit einer Frau M. aus München. Zu dieser Zeit lebte Erika mit ihren Eltern Thomas und Katia Mann bereits im Exil. Frau M. möchte ebenfalls mit ihrer Familie emigrieren. Dieser Wunsch allerdings trifft auf Erika Manns Unverständnis, immerhin hätten Frau M. und ihre Familie als wohlhabende „Arier“ nichts zu befürchten. Dann aber spricht Frau M. einen entscheidenden Satz aus: „Ich möchte, dass mein Sohn ein anständiger Mensch wird, ein Mann und kein Nazi“ [„I want the boy to become a decent human being—a man and not a Nazi“]. Der Satz wird zum Ausgangspunkt von Erika Manns Studie über das nationalsozialitische Bildungs- und Indoktrinationssystem. Ihr viel beachtetes Buch erschien 1938 unter dem Titel „School for Barbarians. Education under the Nazis“ in den Vereinigten Staaten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Original:

Erika Mann, School for Barbarians; Education under the Nazis,New York: Modern Age Books, 1938 ; LA 721.8 M312

„Israel“ und „Sarah“

Wenn Namen politisch werden...

„Wäre das Motiv, dem jene Verordnung entsprungen ist, nicht so abgründig gemein – an ihrem Inhalt gibt es nichts zu tadeln: ,Israel‘ bedeutet ,Gottesstreiter‘ und ,Sarah‘ oder ,Sara‘ […] bedeutet ,Fürstin.‘“

NEW YORK

Im August 1938 war eine neue Verordnung erlassen worden: Juden, deren Namen laut Auffassung der Nazis nicht als „typisch jüdisch“ erkennbar waren, sollten zukünftig (spätestens ab dem 1. Januar 1939) einen zweiten Vornamen tragen: „Sara“ für Frauen, „Israel“ für Männer. Die September-Ausgabe des Aufbau brachte die Perfidität dieser Verordnung auf den Punkt: „Wäre das Motiv, dem jene Verordnung entsprungen ist, nicht so abgründig gemein – an ihrem Inhalt gibt es nichts zu tadeln: „Israel” bedeutet ‚Gottesstreiter‘ und „Sarah“ oder „Sara“ […] bedeutet ‚Fürstin‘.” Die Nazis bedienten sich somit nicht nur an Inhalten jüdischer Kultur, sie missbrauchten diese auch, um die Privatsphäre der Juden in Deutschland erneut auf massive Weise einzuschränken.

Hauptsache raus

Wachsende Demoralisierung der Juden drängt sie aus dem Land

„Der Arisierungsprozess geht unaufhaltsam weiter, da gibt es kein Halten mehr. Ob noch einmal die Wunder des Alten Testaments kommen werden? Wie war es doch so schön zu dieser Zeit! Der Durchzug durch das Rote Meer .....! Heuschreckenplage .....! Sterben der Erstgeborenen .....! usw. - aber wir liegen heute in der verkehrten Zone, und das Alte Testament darf nicht mehr gelesen werden.“

BONN/NEW YORK

In diesem Brief an seine Freunde Betty und Morris Moser in New York, geschrieben am 31. August 1938, nahm der Bonner Ludwig Gottschalk kein Blatt vor den Mund: Inzwischen seien die Juden in Deutschland dermaßen demoralisiert und lebten in einem so beständigen Zustand der Angst, dass der Wunsch, das Land zu verlassen, allgegenwärtig sei, egal, was „draußen“ zu erwarten sei. Seinen Informationen zufolge sei das US-Konsulat in Stuttgart durch die Vielzahl der Einwanderungsanträge derartig überlastet, dass neue Bürgschaften zur Zeit gar nicht bearbeitet würden. Die Gottschalks hatten bereits eine Nummer auf der Warteliste und rechneten damit, relativ bald emigrieren zu können. In der Zwischenzeit lernten sie Englisch. Ludwig spielte auf die Veränderungen, die sich seit der Abreise der Freunde in Deutschland ereignet hatte, an, indem er sie „Israel“ und „Sara“ nannte: Am 17. August war ein Erlass ergangen, der die Juden zwang, ihrem Vornamen je nach Geschlecht einen dieser Namen hinzuzufügen und damit ihre jüdische Identität unübersehbar zu machen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Betty und Morris Moser, AR 25497

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Not macht erfinderisch

Intellektuelle planen Wohnkolonie in USA für arbeitslose jüdische Ärzte

„Sie wissen, dass wir alle vom 1. Oktober an nicht mehr Ärzte sind; die deutsche Approbation ist allen unseres Glaubens entzogen. Es gibt natürlich eine Menge, die dann nicht wissen, wovon zu leben und auch hier nicht weiter leben können.“

BERLIN/NEW YORK

Die Existenzkrise jüdischer Ärzte in Deutschland, die verschiedene Stadien (Ausschluss aus dem öffentlichen Gesundheitswesen und aus Krankenkassen, Verbot der Zusammenarbeit zwischen jüdischen und „arischen“ Ärzten etc.) durchlaufen hatte und durch das Berufsverbot im Juli 1938 eskalierte, machte schöpferische Lösungsansätze erforderlich. Am 25. August schrieb Dr. Felix Pinkus, ein renommierter Berliner Dermatologe, an seinen Freund Sulzberger in Amerika, um ihn als Mitstreiter für ein Hilfsprojekt zu gewinnen: Der Soziologe und Nationalökonom Franz Oppenheimer war darauf gekommen, in den Vereinigten Staaten eine Art Wohnkolonie für ehemalige Ärzte einzurichten, deren Finanzierung durch Spenden amerikanisch-jüdischer Ärzte bestritten werden sollte. Laut Oppenheimers Berechnungen wäre damit zu rechnen, dass etwa 1000 Ärzte diese Lösung in Anspruch nehmen würden. (Dr. Pinkus schätzte, es wären eher 3000.)

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Felix Pinkus Familie, AR 25456

Original:

Archivbox 1, Ordner 41

Neues von den Kleinman(n)s

Kurt in der Schweiz, Schwester und Schwager mögen folgen

„Mein jüdischer Name ist Elke, und da ich Jiddisch spreche und Du Deutsch, sollten wir einander sehr gut verstehen können.“

NEW YORK/BASEL

Der Wiener Kurt Kleinmann und die New Yorkerin Helen Kleinman waren einander nie persönlich begegnet. Nachdem Kurt die kreative Idee hatte, eine Familie ähnlichen Namens in New York zu kontaktieren, in der Hoffnung, die amerikanischen Namensvettern wären vielleicht bereit, ihm bei der Beschaffung einer Bürgschaft behilflich zu sein, entwickelte sich eine zunehmend intensive Korrespondenz zwischen dem jungen Mann und der Tochter der Kleinmans. Helen nahm die Angelegenheit entschlossen in die Hand: Drei Monate nach Kurts erster Kontaktaufnahme mit den Kleinmans, als Helen diesen Brief schrieb, war nicht nur Kurts Auswanderung in Bearbeitung. Sie hatte auch eine Tante aktiviert, für seinen Cousin eine Bürgschaft zu übernehmen, mit dem ihm in der Zwischenzeit die Flucht in die Schweiz gelungen war. Außerdem bestand Hoffnung, dass eine andere Tante dasselbe für Kurts Schwester und Schwager tun würde, die noch in Wien festsaßen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt und Helen Klenmann, AR 10738

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

650 Reichsmark und 50 Pfennige

Mit der Columbus nach New York

„Schiffskarten - Eisenbahnkarten - Flugkarten nach allen Ländern“

Berlin/Bremen/New York

Nur wenige Häuser vom Palästina-Amt der Jewish Agency for Palestine entfernt, auf der Meinekestraße 2 in Berlin, befand sich das Reisebüro „Palestine & Orient Lloyd“, das in enger Zusammenarbeit mit der Agency stand und vielen Tausenden von Juden bei der Auswanderung aus Nazi-Deutschland behilflich war – durchaus nicht nur nach Palästina. Einer dieser Auswanderer war Dr. Rolf Katzenstein. Am 20. August 1938 stellte ihm der „Palestine & Orient Lloyd“ diese Rechnung für die Überfahrt nach New York aus, die am 27.8. an Bord der Columbus von Bremen aus starten sollte.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Sammlung:

Rechnung "Palestine & Orient Lloyd" für Rolf Katzenstein, Jüdisches Museum Berlin, Sammlung Ruth Gützlaff geb. Katzenstein

Ellis Levy, Anwalt der Einwanderer

New Yorker Jurist baut Bildungsbrücke für Flüchtlinge

„Ich glaube nun, dass ihre Zulassung zu den Colleges der Stadt New York nicht nur einen Akt der Güte darstellen, sondern gleichzeitig auch einen Schritt in der gebotenen Richtung bedeuten würde, den Leuten zu helfen, nützliche und gebildete Mitglieder unserer Demokratie zu werden.“

NEW YORK

Ellis Levy, ein jüdischer Jurist, der in New York lebte, beschloss, sich die Sache der Einwanderer zu eigen zu machen, die vor der Verfolgung durch die Nazis flohen. In einem Brief an Bürgermeister LaGuardia, der auszugsweise in der August-Ausgabe des „Aufbau“ veröffentlicht wurde, wies er darauf hin, dass viele der Neuankömmlige vollkommen mittellos ins Land kämen, in vielen Fällen, nachdem sie zum Abbruch ihres Studiums oder ihrer Berufsausbildung gezwungen worden seien. Kurz später sollte vor dem „Ausschuss für Höhere Bildung“ eine Gesetzesvorlage eingebracht werden, in der es um die Möglichkeit der Öffnung städtischer Colleges in New York für Nicht-Staatsbürger ging. Der Jurist bat Bürgermeister LaGuardia, seinen Einfluss auf den Ausschuss geltend zu machen, um eine positive Entscheidung zu bewirken. Dies, so argumentierte er, würde sowohl den Bedürfnissen der Einwanderer als auch dem Interesse der Demokratie in den Vereinigten Staaten entgegenkommen. Tatsächlich wurde beschlossen, mit Wirkung vom 1. September des laufenden Jahres ernsthaften Anwärtern auf US-Staatsbürgerschaft mit angemessener Vorbildung ein solches Studium zu ermöglichen.

Fluchtplanung mit touristischem Abstecher

Ein Reisebüro aus New York hilft Ursula Meseritz bei ihrer Reise in die USA

„Im Anschluss an ihren heutigen Besuch in unserem Bureau gestatten wir uns, Ihnen nachstehend Reiseplan und Abrechnung zu übersenden.“

New York

Als einziges Mitglied ihrer Familie hatte die 18jährige Ursula Meseritz Deutschland im Juli verlassen und sich auf der R.N.S. „Britannic“ von Le Havre aus nach New York eingeschifft. Adolf Floersheim, ein ehemaliger Nachbar, der seit 1937 in den Vereinigten Staaten ansässig war, hatte die Bürgschaft übernommen. Ihre Eltern, Olga und Fritz Meseritz, die die Ausreise in die Wege geleitet hatten, blieben in Hamburg zurück. Ein offenbar von deutsch-jüdischen Einwanderern geführtes Reisebüro, Plaut Travel auf der Madison Avenue in New York, hatte die Route für Ursulas Weiterreise an die Westküste – mit einem touristischen Abstecher in die Hauptstadt – ausgearbeitet und am 8. August an sie abgeschickt.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Ursula Meseritz Elgart Familie, AR 25544

Original:

Archivbox 1, Ordner 14

Faschismus in Amerika?

Jüdische Einwanderer warnen vor der Zerbrechlichkeit der Demokratie

„Aus dem hier Dargelegten ergibt sich für uns jüdische Einwanderer, die wir den Faschismus am eigenen Leib erfahren haben, dass wir alle Kräfte anspannen müssen, um den Fortbestand der USA als eines demokratischen Staatswesens zu sichern. Auch hier sind einflussreiche Gruppen am Werk, die Errungenschaften der Demokratie zu untergraben.“

NEW YORK

In der August-Ausgabe des Aufbau bekam eine Gruppe nicht näher identifizierter junger Einwanderer Gelegenheit, zum Schutz und zur Aktivierung der Demokratie in den Vereinigten Staaten aufzurufen: Laut ihrer Auffassung waren es durch ungezügelte Aufrüstung entstandene Wirtschaftskrisen in den faschistisch regierten Ländern Europas, die diesen in ihren eigenen Augen die Legitimation zur Konfiszierung jüdischen Vermögens verschafften. Während die Gruppe die Großzügigkeit der Administration und ihre Bereitschaft zu sozialen Reformen zum Nutzen der vor dem Faschismus Geflohenen lobte, warnte sie vor den reaktionären Kräften, die diese Politik angriffen und ihren Versuchen, die Demokratie in den Vereinigten Staaten zu untergraben. Die Redaktionsleitung achtete darauf, sich von der Position der Gruppe hinsichtlich der Rolle der Wirtschaft in der Geschichte zu distanzieren, erklärte aber dennoch, ihr gern den Raum zu geben, vor der aus Einwanderern bestehenden Leserschaft der Zeitung ihre Bedenken auszubreiten.

Brot für Fremde

Ein Geschäftsmann vom Rhein sieht die USA als Ort der Großzügigkeit

„Unsere Hauptsorge bleibt der Hausverkauf, das Geschäft können wir zweimal verkaufen, oder auch auflösen. Darüber brauchen wir uns also weniger Gedanken zu machen.“

Neuwied am Rhein/New York

Ohne viel Drama schildert der Kaufmann Isidor Nassauer, wohnhaft in Neuwied am Rhein, der befreundeten Familie Moser, die bereits in Amerika ist, seine Situation: Unaufgefordert hat ihm sein Schwager eine Bürgschaft geschickt, die wegen einer fehlenden Unterschrift nicht verwendbar war und zurückgeschickt werden musste. Während er auf das unterschriebene Dokument wartet, nimmt er Englischstunden. Obwohl er keine Ahnung hat, wovon er in Amerika leben soll, erfüllt ihn die Tatsache, dass dort schon „so viel Brot für Fremde gebacken“ wurde, mit Zuversicht. Ein Grund zur Sorge ist für ihn jedoch der Verkauf des Hauses, während es leicht zu sein scheint, das Geschäft (eine Bürstenfabrik) zu verkaufen oder zu liquidieren. In der Regel waren Juden gezwungen, ihren Besitz weit unter Wert zu verkaufen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Betty and Morris Moser Sammlung, AR 25497

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Eine unangemessene Unterstellung

Ein US-Amerikaner warnt seinen Cousin, Amerika sei kein Ort zum Faulenzen

„Ich möchte nicht, dass Du in die Irre geleitet wirst und hinterher bereust, also teile ich Dir im voraus mit, dass Du ehrgeizig arbeiten musst, um voranzukommen. Wenn Du irgendwelche Illusionen hast, Deutschland zu verlassen, um der Arbeit zu entgehen und Dir ein leichtes Leben zu machen, begehst Du einen schweren Fehler.“

New York/Wien

Im Mai 1938 hatte Betty Blum ihren Neffen Stanley Frankfurt in New York kontaktiert: Ihr Sohn Bruno habe seine Anstellung in Wien verloren und es sei unwahrscheinlich, dass er eine andere Beschäftigung finden würde. Über die Situation der österreichischen Juden im allgemeinen seit der Annexion des Landes durch Nazi-Deutschland breitete sie sich nicht weiter aus, fragte aber, ob Stanley etwas für Bruno tun könnte. Als Bruno Stanleys Brief vom 16. Juli bekam, muss er gleichzeitig erleichtert und betreten gewesen sein: während sein Cousin ihm versicherte, er sei für ihn tätig gewesen und habe die erforderliche bürokratische Vorarbeit für seine Einwanderung in die Vereinigten Staaten geleistet, hielt er es für notwendig, ihn darauf hinzuweisen, dass er im Irrtum sei, falls er vorhabe, nach Amerika zu kommen um „sich ein leichtes Leben zu machen“. War Stanley tatsächlich so wenig informiert über das Schicksal der österreichischen Judenheit unter den neuen Machthabern? Es kann angenommen werden, dass seine aufrichtigen Bemühungen um seinen österreichischen Cousin die Verblüffung, die er mit dieser unangemessenen Unterstellung hervorgerufen haben muss, ausgeglichen haben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Blum Familie Sammlung, AR 25132

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Wahlverwandschaft

Gemeinsamer Nachname gibt Mut zum Risiko

„Bevor ich weiter ausführe, möchte ich ausdrücklich sagen, dass meine Familie Ihre Ankunft in New York kaum erwarten kann.“

NEW YORK/WIEN

Als der 28-jährige Wiener Kurt Kleinmann an Familie Kleinman in Amerika schrieb, hätte er nicht auf eine freundlichere, überschwänglichere Antwort hoffen können als die von der 25-jährigen Helen. Nachdem er die Adresse einer Familie Kleinman in den USA gefunden hatte, bat Kurt die völlig Fremden in einem Brief vom 25. Mai, ihm durch Übernahme einer Bürgschaft zu helfen, Österreich zu verlassen. Er hatte in Wien ein Jura-Studium absolviert und führte nun die väterliche Weinhandlung. Helen übernahm bereitwillig die Theorie, dass die Kleinmanns und die Kleinmans tatsächlich miteinander verwandt sein könnten und versprach ihrem „Cousin“, ihm innerhalb einer Woche eine Bürgschaft zu beschaffen. Liebenswürdig und lebhaft versicherte sie ihm, die Kleinmans würden mit ihm korrespondieren, um ihm die Zeit bis zur Abreise kürzer erscheinen zu lassen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Kurt und Helen Kleinman Sammlung, AR 10738

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Dass einem schwindelig wird

Ständig ändernde Bestimmungen zu Ausreise und Ausfuhr

„Ihr werdet sagen, warum ist das nicht schon geschehen, aber das liegt an der raschen Folge der Vorschriften & da ist so rasch die Auskunft nicht erhältlich.”

FRANKFURT AM MAIN/NEW YORK

Dieser Brief eines Vaters an seine Kinder wird fast ausschließlich dominiert von Sorgen bezüglich des Transfers von Personen und Gegenständen aus dem deutschen Staatsgebiet hinaus. Laut dem Schreiber änderten sich die Bestimmungen mit solcher Geschwindigkeit, dass es schwierig war, den Überblick zu behalten. Letztens war verfügt worden, dass sowohl für Umzugsgut als auch für Reisegepäck detaillierte, genehmigungspflichtige Listen einzureichen seien. Dies konnte recht zeitraubend sein. Der Schreiber des Briefes hatte das Gefühl, die Geschwindigkeit, mit der Antworten gegeben wurden hielte nicht Schritt mit der Geschwindigkeit der Veränderungen, die Erkundigungen erforderlich machten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Gerda Dittmann Sammlung, AR 10484

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Radio, Grammophon, Zeitungen, Belletristik

Die Kunst des Fremdsprachenlernens

„Für den Anfänger ist der "native instructor" nur dann der förderlichste, wenn er hinreichende Kenntnisse der Muttersprache des Schülers hat, um die diesem entgegenstehenden Schwierigkeiten zu erkennen und genügend didaktische Schulung, um mit den geeigneten Mitteln ihrer Herr zu werden.“

NEW YORK

In seinem Artikel „Zehn Gebote für Sprachbeflissene“, der in der Juli-Ausgabe des „Aufbau“ veröffentlicht wurde, empfiehlt Dr. Eugene I. Stern, sich des gesamten Instrumentariums zu bedienen, das dem modernen Englisch-Schüler zur Verfügung steht: Radio, Grammophon, Zeitungen, Belletristik. Die Genauigkeit, mit der er beschreibt, was er für die vielversprechendste Methode des Sprachstudiums hält, entspricht jedem Stereotyp, das mit deutschen Juden in Verbindung gebracht wird. Dr. Stern verspricht keine Patentlösungen, und seine Einschätzung der Aussichten des Sprachschülers ist nicht besonders optimistisch: Gleich eingangs erklärt er, das Meistern einer Fremdsprache sei ein nicht zu erreichendes Ziel. Nichtsdestotrotz erlernten jüngere deutsch-jüdische Einwanderer die Sprache in der Regel innerhalb weniger Jahre, im Gegensatz zu ihren Landsleuten in Palästina, die sich die neue Sprache notorisch langsam und zögerlich aneigneten. Verschiedene Institutionen in Amerika waren ihnen bei ihren Bemühungen behilflich, so z.B. der National Refugee Service und das Adult Education Council, YMCA und YWCA, die den Neuankömmlingen kostenlosen Englischunterricht anboten.

Ausweisung binnen 24 Stunden

Die Situation ist prekär für jüdische Immigranten in Jugoslawien

„Ich sage Euch das eine, der Antisemitismus macht nicht in Deutschland, oder Österreich, oder Ungarn, oder Rumänien, oder Jugoslavien halt, wenn nicht ein Wunder geschieht oder durch eine Katastrophe die Menschen aufgerüttelt werden.“

BELGRAD/NEW YORK

Während der Antisemitismus in Jugoslawien in keiner Weise ein neues Phänomen war – tatsächlich hatte seit Ende des Ersten Weltkriegs das gesamte politische Spektrum Anlässe zu judenfeindlichen Auslassungen gefunden – verschlechterte sich die Situation in den dreißger Jahren unter dem Einfluss der Ereignisse in Deutschland. Der Nürnberger Fritz Schwed hatte, was den vorläufigen Zufluchtsort seiner Familie betraf, keine Illusionen: In diesem langen Brief an seinen alten Freund aus Nürnberger Tagen, Fritz Dittmann, der nach New York geflohen war, beschreibt Schwed die prekäre Situation von Emigranten in Jugoslawien, die mit einer Vorwarnung von bloßen 24 Stunden ausgewiesen werden konnten. Selbst ältere und bereits längere Zeit im Lande ansässige Menschen waren von dieser grausamen Regelung nicht ausgeschlossen. Emigranten bekamen keine Arbeitserlaubnis, und wenn sie beim Übertreten des Verbots ertappt wurden, mussten sie mit sofortiger Ausweisung rechnen. Mit dem Fazit „Es ist für deutsche Juden kein Platz mehr in Jugoslawien und wie mir scheint, auch nirgends mehr in Europa“, begann Schwed, die Möglichkeit einer Emigration nach Australien oder Südamerika auszukundschaften.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gerda Dittmann, AR 10484

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Erschütterte Existenz

Wie leben mit dem Nationalsozialismus?

New York

Der erste größere Bruch in der Biographie des Künstlers Gustav Wolf war während des Ersten Weltkriegs geschehen: Er hatte sich freiwillig zum Dienst an der Front gemeldet und war schwer verwundet worden. Sein Bruder Willy war im Gefecht gefallen. Die Werke, in denen er seine Kriegserlebnisse verarbeitete, lassen keinen Zweifel an seinen Gefühlen: Statt den Krieg zu verherrlichen, zeigt er dessen Grauen. Die Begegnung mit dem Antisemitismus im Krieg und in der Folge führten zu einem verstärkten Bewusstsein um seine jüdische Identität. 1920 nahm er eine Professur an der Badischen Landeskunstschule in Karlsruhe an, wo er versuchte, sein Ideal eines gleichberechtigten Miteinanders von Lehrer und Schüler zu verwirklichen. Nach einem Jahr gab er diese „tote Tätigkeit“ an der Schule, die er als „Intriganten-Anstalt“ bezeichnete, auf. 1929 entwarf er die Ausstattung zu Fritz Langs Stummfilm „Die Frau im Mond“, einem frühen Science Fiction-Film. Nach der Machtübernahme durch die Nazis kündigte er seine Mitgliedschaft in sämtlichen Künstlervereinigungen auf, denen er angehört hatte. Bei der Badener Secession erklärte er es so: „Ich muss mich erst wieder zurechtfinden. Die Grundlagen meiner Existenz sind in Frage gestellt und erschüttert.“ Nach ausgedehnten Aufenthalten in der Schweiz, in Italien und Griechenland kehrte er 1937 nach Deutschland zurück. Der 26. Juni 1938 war sein 49. Geburtstag.

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