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Das Morgen umarmen

Ein Flüchtling rät Flüchtlingen

„Wir bleiben Kämpfer für ein freies, gerechtes, sauberes Deutschland. [...] Diese Unterwelt muss enden, sie wird enden! Ein menschliches Deutschland wird leben. Auf dieses wirkliche Deutschland hoffen nicht nur die wirklichen Deutschen, es hoffen die Juden, es hofft die Welt.“

New York

Schon vier Jahre lang diente der Aufbau, das Vereinsblatt des German-Jewish Club in New York, Einwanderern als kultureller und emotionaler Anker und als Quelle nützlicher Information. Die Dezember-Ausgabe brachte eine begeisterte Meldung über das neue wöchentliche Radio-Programm des Club. Unter den prominenten Rednern, die man gebeten hatte, anlässlich der Einführung des Programms zu sprechen, war Dr. Joachim Prinz, ein zuvor in Berlin ansässiger Rabbiner und engagierter Gegner der Nazis. In seinem Beitrag spannte er einen Bogen von der Zeit des Exodus über eine Geschichte der Emigrationen bis hin zur gegenwärtigen bedrängten Lage und versuchte nicht, das Los der Emigranten zu bagatellisieren. Gleichzeitig zeigte er auch das Potential der Herausforderungen des Einwandererlebens in Amerika auf, indem er die Situation seiner Gemeinschaft mit der jüdischer Flüchtlinge der Spanischen Inquisition verglich. Das neue Programm, so meinte er, sei „ein wichtiges Instrument der Erziehung zu Juden und zu Menschen der Freiheit“. Der Ruf der Stunde war klar: „Wir müssen das Morgen umarmen und das Gestern begraben. Wir müssen versuchen, wieder glücklich zu sein.“

Ein totalitäres Regime fürchtet die freie Presse

Opfer nationalsozialistischer Berufsverbote begegnen einander im Exil

„Wenn er [Dr. Selmar Aschheim] nicht die Erlaubnis zum Praktizieren erhält, will er sich mit Bally oder anderer Pharmacie zusammentun, ihnen seinen Namen zur Verfügung stellen und damit Geld verdienen.“

Paris

Eine der ersten Amtshandlungen der neuen nationalsozialistischen Machthaber im Jahr 1933 war die Ausschaltung der unabhängigen Presse. Bereits im Februar wurde die Pressefreiheit aufgehoben, ab Oktober wurden nur noch solche Personen zu journalistischen Berufen zugelassen, die politisch zuverlässig waren und „arische“ Abkunft nachweisen konnten. Ernst Feder (geb. 1881), Jurist und einst Ressortleiter für Innenpolitik beim Berliner Tageblatt, genügte keiner dieser Anforderungen. Im Pariser Exil nahm er als einer der Gründer der Exilzeitung „Pariser Tageblatt“ (1933-36) und als Freischaffender seine journalistische Tätigkeit wieder auf. Auf den Seiten seines Tagebuches behandelt er eine Fülle von Themen, vom Persönlichen bis hin zum Philosophischen und Politischen. Unter seinen Freunden und Mit-Exilanten war der Gynäkologe und Endokrinologe Dr. Selmar Aschheim (geb. 1878). Wie Feder am 30. Dezember in seinem Tagebuch notiert, suchte der berühmte Arzt und Wissenschaftler nach alternativen Einkommensquellen, für den Fall, dass ihm die Möglichkeit verweigert würde, in Frankreich zu praktizieren. Besonders ältere Auswanderer hatten oft große Widerstände zu überwältigen, um im Ausland wieder Fuß zu fassen. Sprachbarrieren und Zulassungsprüfungen, für die Jahrzehnte der Berufspraxis nicht als Ersatz betrachtet wurden, erschwerten die Situation zusätzlich.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Ernst Feder, AR 7040 / MF 497

Original:

Archivbox 1, Tagebuch, Bd. 13, 1938

Nicht das Land ihrer Träume

Emigranten haben keine Wahl

„Ich bemühe mich aber ausserdem noch weiter um U.S.A. und England, und werde dann in Ruhe entscheiden, wo es für mich am besten sein wird. Ich habe nicht viel Lust in Pal. zu bleiben.“

Siena/Turin

Von dem Gedanken, in Palästina zu leben, war Stella nicht begeistert. Wie ihre Freundin Anneliese Riess, der sie am 28. Dezember ihre Gefühle mitteilte, war sie nach Italien geflohen. Aber auch hier war sie als Jüdin nicht willkommen: Laut der neuen Rassengesetze waren nicht in Italien geborene Juden verpflichtet, das Land innerhalb eines halben Jahres zu verlassen. Die 2000 unter den 10000 ausländischen Juden, die sich bereits vor 1919 in Italien niedergelassen hatten, waren von der Bestimmung ausgenommen. Wenigstens hatte Stella ein von der Mandatsregierung ausgestelltes Einwanderungs-Zertifikat für Palästina, und in einer Tel Aviver Klinik wartete auf sie eine unbezahlte Stelle, die freie Wohnung und Verpflegung versprach. Dennoch bemühte sie sich weiter um eine Einreisegenehmigung nach England oder in die USA. Tatsächlich war selbst eine unbezahlte Stelle mehr als viele eingewanderte Ärzte in Palästina erhoffen konnten: seit 1936 herrschte ein Überschuss an Ärzten im Land, und eine neue Einwanderungswelle nach der Annexion Österreichs im Februar 1938 („Anschluss“) hatte die Situation noch verschärft.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Anneliese Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, ordner 10

Keine neue Regelung für Geschwister

Argentinien verschärft Einwanderungsbedingungen

„Mir ist immer elend zu Mute, wenn ich Euch Briefe schreiben muss, die immer wieder eine Hoffnung bei Euch zerstoeren, ich komme mir dann schuldbewusst vor, obwohl ich an der ganzen Sache beim besten Willen nichts aendern kann.“

Buenos Aires/Berlin

Aufgrund der Vorstellung, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte, dass Einwanderer – vorzugsweise aus Europa – gebraucht würden, um die gewaltigen Flächen Argentiniens zu bevölkern, war die Einwanderungspolitik des Landes vergleichsweise großzügig. Doch bereits nach dem Ersten Weltkrieg wendete sich das Blatt: der Bedarf an Arbeitskräften war saturiert, und in den zwanziger Jahren wurden administrative Barrieren gegen die Einwanderung errichtet. Als Opfer der Verfolgung durch die Nazis Zuflucht zu suchen begannen, wurden die Bestimmung weiter verschärft. Dennoch fanden Tausende deutscher Juden und Regimegegner in Argentinien Zuflucht. Unter ihnen war Max Busse. Seine Schwester Anna Nachtlicht, hatte gehört, die argentinische Regierung habe vor, die Einwanderung zu erleichtern und es zu ermöglichen, Geschwister anzufordern. Max erkundigte sich sofort, aber die Ergebnisse waren ernüchternd: in seiner Antwort vom 26. Dezember muss er ihr mitteilen, dass Pläne dieser Art nicht zu existieren scheinen. Verwandte in Frankreich hatten den Nachtlichts angeboten, bei ihnen auf die Einreisegenehmigung in ein Drittland zu warten. Vielleicht, so Max, wäre es einfacher, von dort aus einen Antrag zu stellen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Familie Nachtlicht, AR 25031

Original:

Archivbox 1, Ordner 7

Alpträume

Ein jüdisches Kind dokumentiert ungewöhnliche Zeiten

„Hatte heute eine sehr schlechte Nacht mit furchtbaren Träumen, so dass ich mehrere Male schreiend aufwachte. Wahrscheinlich rührte das von den überstandenen Aufregungen her.“

Wien

Als Gertrude Fichmann ihrem zwölfjährigen Sohn Harry im November 1938 ein Tagebuch schenkte, in dem er die Auswanderungserlebnisse der Familie festhalten sollte, hatte sie keine Ahnung, wann sie aufbrechen würden und wohin ihre Reise sie führen würde. Auch konnte sie nicht voraussehen, welch eine ereignisreiche Zeit den Juden in Österreich im allgemeinen und ihrer Familie im besonderen bevorstand. Während fast jeder Tag neue aufwühlende Ereignisse brachte, hielt Harry alles regelmäßig und wortgewandt fest. Das Miterleben der beängstigenden Ereignisse und das Beobachten der Angst der Erwachsenen in seinem Leben ging nicht spurlos an ihm vorüber: am 11. Dezember berichtet er von Alpträumen in der vergangenen Nacht.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Zwischen Hammer und Amboss

Zunehmende Angst an der tschechisch-polnischen Grenze

„Bei uns hier an der Grenze ist es besonders arg. In Ostrau allein wurden allein [sic] 8000 Juden polnischer Staatszugehörigkeit binnen 3 Tagen ausgewiesen.“

Mährisch Ostrau

Bis jetzt war Lilly and Sim, einem Ehepaar in Mährisch Ostrau, größeres Leid erspart geblieben – wenigstens auf der persönlichen Ebene. Doch während täglich neue Gerüchte aufkamen, welche Stadt die Deutschen als nächstes besetzen würden, wuchs die Angst in der Stadt an der tschechisch-polnischen Grenze. Am schlimmsten war das Schicksal anderer Juden: in diesem Brief vom 10. Dezember 1938 erzählt Lilly ihren Freunden im Ausland von nicht weniger als 8000 Juden polnischer Herkunft, die man innerhalb von drei Tagen gezwungen hatte, die Stadt zu verlassen – manchmal nach 10, 20 oder sogar 40 Jahren am Ort. Ihr größter Wunsch – hinauszukommen – war schwer zu verwirklichen, und es war ihr unvorstellbar, sich als Landarbeiter einem Flüchtlingstransport in ein beliebiges Land “mit unmöglichem Klima” anzuschließen. Indessen stand Sim eine Beförderung bevor, doch angesichts der völligen Ungewissheit der Zukunft – da ein Abkommen zwischen Polen und der Tschechoslawakei noch ausstand, wusste das Paar zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, welche Staatsangehörigkeit es hatte – erweckte die Aussicht darauf keine große Freude.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 32

Von Exil zu Exil

Ein deutscher Jurist hält zu seiner jüdischen Familie

„Wir stehen mitten in einer Katastrophe so gewaltigen Ausmasses, dass wir sie noch nicht einmal zu erfassen vermögen. Es geht längst nicht mehr um das Schicksal einer verfolgten Minorität, es geht um die Menschheit schlechthin.“

New York/Basel

Mit der Ausdrucksstärke eines Dichters beschreibt der Jurist Paul Schrag am 9. Dezember 1938 seinem Freund Max Gutzwiller in Basel seine Umstände nach der Emigration. Seit Juli lebt er mit Frau und Kind in einem Hotel in Manhattan. Neben der Emigration und der damit verbundenen beruflichen Ungewissheit galt es auch, rein menschliche Belange zu verkraften: im September war sein Vater unerwartet verstorben, und nun bedurfte die kranke Mutter der Betreuung. Die Menschheitskatastrophe der dreißiger Jahre erlebte er sehr tief und hoffte auf das Einsetzen einer „tiefgreifenden seelischen und moralischen Gegenströmung“. Etwas Hoffnungsfreude brachte der kleine Sohn ins Leben, dessen Glück von Tagesgeschehen und Ortswechsel unberührt blieb.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Schrag, AR 25161

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Endlich Zusagen

Ein junger Tagebuchschreiber dokumentiert die Zeit vor der Auswanderung

„Erst hatten wir sehnsüchtig auf eine Antwort gewartet, und jetzt kommen sie alle zusammen.“

Wien

Immer einmal wieder beschäftigt sich das Tagebuch des Wiener Jungen Harry Kranner-Fiss mit Themen, die einem Zwölfjährigen angemessen sind: Unfugtreiben in der Schule, Begeisterung über neue Kleider, ein „Erwachsenenhaarschnitt“, Spiele mit Freunden. Aber meist reflektieren Harrys eloquente Einträge das ausgeprägte Bewusstsein um die bedrohte Situation der Juden in Österreich 1938: sie befassen sich mit der Deportation eines Onkels ins Konzentrationslager Dachau, berichten von einer Tante, die aus ihrer Wohnung ausgesperrt und deren Wohnungsschlüssel konfisziert wurde, mit den Angst- und Sorgentränen seiner Mutter, mit Ausgangssperren, öffentlicher Demütigung und Gewalt. Kein Wunder, dass sein Stiefvater unablässig darum bemüht war, einen Weg zu finden, das Land zu verlassen. Verheißungsvolle Antworten ließen lange auf sich warten, doch am 7. Dezember, Tage nachdem die Familie das Versprechen einer Bürgschaft zur Einreise in die Vereinigten Staaten bekommen hatte, hielt Harry aufgeregt fest, auch aus Australien sei eine positive Antwort eingegangen. Laut einem früheren Tagebucheintrag hatte sein Stiefvater Anfang November bei der britischen Kommission für Australien, die sich gerade in Wien aufhielt, vorgesprochen, war aber auf eine Wartezeit von acht bis neun Monaten vorbereitet worden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, ordner 12

Banken als Komplizen

Deutsche Banken sperren jüdische Konten

„Selbst das Kind habe ich weggeschickt. Die Angst und Unsicherheit im eigenen Haus ist zu gross. Ich sitze und schreibe an Patienten und bitte die Rechnung zu bezahlen. Zum ersten Mal in meinem Leben muss ich um Geld bitten.“

Berlin

Als Doppelverdienern ging es den Nathorffs jahrelang materiell recht gut: die Kinderärztin Hertha Nathorff war Leiterin eines vom Roten Kreuz betriebenen Kinder- und Säuglingsheimes in Berlin-Charlottenburg, ihr Mann Erich Internist am Krankenhaus Moabit. Daneben führte das Ehepaar eine private Praxis. Kurz nach Machtantritt der Nazis verloren beide ihre Stellen, führten aber weiter die gemeinsame Praxis, bis im September 1938 allen jüdischen Ärztinnen und Ärzten die Approbation entzogen wurde. Erich Nathorff war unter den wenigen, die als sogenannte „Krankenbehandler“ ausschließlich jüdische Patienten versorgen durften. Doch während der Novemberpogrome wurde er festgenommen und im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert. Am 4. Dezember vertraute Hertha Nathorff ihrem Tagebuch an, sie habe wegen der Unsicherheit der Lage den Sohn „weggeschickt“ und stecke in finanziellen Schwierigkeiten: Infolge der Politik der Nazis, die Konten von Juden zu sperren, die materiell zur Auswanderung in der Lage waren, hatte sie keinen Zugriff auf ihr Geld.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Hertha Nathorff, Reichstagsbrand, ME 460

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Von der Wut zum Handeln

Der „Aufbau“ ruft zum Handeln auf

„Hass kann man nur überwinden, wenn man selbst sich über ihn hinaus zu positiver Leistung erhebt.“

New York

In Reaktion auf die Novemberpogrome, den bisher massivsten Ausbruch anti-jüdischer Gewalt in Deutschland, begnügt sich das Dezember-Editorial des Aufbau nicht mit Äußerungen des Schmerzes und der Trauer, sondern ruft kraftvoll dazu auf, der Brutalität der Nazis durch positives Handeln entgegenzutreten. „Die Antwort auf Barbarei ist schon immer Aufklärung gewesen“ – mit diesen Worten zitierte es den US-Erziehungsbeauftragten J.W. Studebaker, der überzeugter Demokrat war und die entscheidende Rolle öffentlicher Diskussion und politischer Bildung für das Funktionieren der Demokratie erfasste. Das Editorial versicherte der deutschen Judenheit, ganz Amerika sei vereint im Bemühen, „der Barbarei in Mitteleuropa Einhalt zu tun.“ Es befürwortete uneingeschränkt die Position der Regierung und benannte Bildung und Aufklärung als Mittel, diesen „schwersten aller Angriffe auf die menschliche Kultur“ abzuwehren.

Quälende Ungewissheit

Die Sorge um Angehörige in Deutschland

„Das Gefühl der Ungewissheit über Euer persönliches Wohl ist so gross und die Hilflosigkeit bei allem Einsatz so trostlos, dass ich wirklich nicht weiss, was ich schreiben soll.“

Cleveland, Ohio/Stolzenau

Nicht wenige Juden in Deutschland reagierten mit Verzweiflung, existentieller Angst und sogar mit Selbstmord auf die Ereignisse der Novemberpogrome. Aber auch für diejenigen, die es geschafft hatten, sich ins Ausland abzusetzen, war die Situation hochgradig bedrückend: von weitem mussten sie mitansehen, wie ihre Gotteshäuser in Flammen aufgingen, wie Juden zu Tausenden festgenommen und in Konzentrationslager gesperrt wurden, wie jüdischer Besitz gestohlen oder zerstört wurde. Am schlimmsten war jedoch die Ungewissheit um das Befinden geliebter Angehöriger und die Qual, ihnen nicht oder zu langsam helfen zu können. Einer der vielen Emigranten, die diese Gefühle artikulierten, war Erich Lippmann: in diesem Brief aus Ohio an seine Mutter und Großmutter in Niedersachsen beschreibt er das Gefühl der Hilflosigkeit, erwähnt aber auch Bemühungen, von offizieller Seite Unterstützung zu bekommen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Martha Lipman, AR 6355

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Die Zukunft von Menschheit und Kultur

Ein Aufruf zum Handeln in schlechten Zeiten

„Wenn jemals tapfere Herzen, klare Hirne und starke Fäuste nötig waren, dann heute, wo nicht weniger als die Zukunft von Menschheit und Kultur auf dem Spiele steht!“

New York

Niemand, der die November-Ausgabe des Aufbau las, konnte die fettgedruckte Botschaft auf der Titelseite verpassen: Unter der Überschrift „Die grosse Prüfung“ wird mit starken Worten das totale Versagen der „Staatsoberhäupter der sogenannten Demokratien“ angeprangert, die die Tschechoslowakei an Nazi-Deutschland geopfert haben. Jüdische Flüchtlinge sitzen in Böhmen im Niemandsland fest, in Deutschland verpassen die Nazis den Juden den „wirtschaftlichen Todesstreich,“ die Briten gefährden das zionistische Unternehmen und „wenig mehr als eine blasse Erinnerung“ ist von der Konferenz von Evian verblieben, die im Juli einberufen wurde, um das Problem der Neuansiedlung jüdischer Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland in Griff zu bekommen. Dies ist wahrlich „ein Zeitalter der vollkommenen Sündhaftigkeit.“ Werden die Bedrohten sich endlich aufraffen?

Nur Hilfe – egal woher

Versuch der Hilfe für die in Deutschland Verbliebenen

„Wir sind ratlos und unglücklich, dass wir aber auch gar nichts tun können, was unseren Leuten ein wenig helfen könnte.“

Antwerpen/Cleveland, Ohio

Martha Lippmann, die Witwe eines Wollhändlers in Stolzenau an der Weser in Niedersachsen, und ihre Mutter waren die letzten Familienmitglieder, die noch in Deutschland verblieben waren, als die Novemberpogrome Deutschlands Juden trafen: Ihre Tochter Gertrude war nach Belgien geflohen, ihr älterer Sohn, Erich, nach Amerika und ihr jüngerer Sohn, Hans Martin, nach England. Die Nachrichten von der Welle anti-jüdischer Gewalt steigerte die Dringlichkeit, mit der Emigranten versuchten, sich für ihre in Deutschland zurückgelassenen Verwandten einzusetzen. In einem Brief vom 16. November berichtet Max Stern, Gertrudes Ehemann, von einem geplanten Termin bei einem belgischen Rechtsanwalt in Martha Lippmanns Angelegenheit, mit dem Ziel, ein befristetes Visum für sie zu bekommen. Erich selbst hatte sich mit William Dodd in Verbindung gesetzt, dem ehemaligen US-Botschafter in Deutschland, dem er es zu verdanken hatte, dass er selbst nach Amerika gelangt war – bisher ohne Erfolg.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Martha Lipman, AR 6355

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Keine Spur von Onkel Arthur

Konzentrationslager als Kollektivstrafe

„Vorläufig wurden nur 2 Verordnungen verlautbart: die 1., dass bis Januar alle jüdischen Betriebe aufgelöst sein müssen. Die 2. war, dass den Juden einen Betrag von 1 Milliarde Reichsmark auferlegt wird. Brrrrrr!“

Wien

Harry Kranner war 12 Jahre alt, als die Nazis eine Welle anti-jüdischer Gewalt inszenierten, wie es sie in diesem Umfang und in solcher Intensität noch nie gegeben hatte – angeblich ein „spontaner Ausbruch des Volkszorns“ als Reaktion auf die Ermordung eines Angestellten der deutschen Botschaft in Paris durch einen jungen Juden. Harrys Tagebucheinträge zeigen jedoch, dass er sich des Geschehens um ihn herum sehr wohl bewusst war. Am frühen Morgen des 10. November, als die grausamen Ereignisse der Nacht von Deutschland nach Österreich hinüberzuschwappen begannen, waren zwei Gestapobeamte in die Wohnung der Familie in Wien gekommen – angeblich auf der Suche nach Waffen. Harry verstand, welches Glück er gehabt hatte, mit dem Schrecken davonzukommen: er hatte von Juden gehört, die in ihre Wohnungen ein- oder aus ihnen ausgesperrt worden waren. Aber eine große Sorge blieb: am 12. November gab es noch immer keine Spur von seinem Onkel Arthur, der mit Tausenden von anderen Juden festgenommen worden war. Aufgrund eines Radioberichts, dass alle Festgenommenen vom Westbahnhof aus in die Konzentrationslager Dachau und Mauthausen deportiert werden sollten, eilten Harrys Vater und Tante dorthin, doch ohne Erfolg. Inzwischen hieß es, man werde den Juden ein erhebliches Bußgeld auferlegen – für die Gewalt, der sie selbst zum Opfer gefallen waren.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Jahreschronik 1938

Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben

Ein in der Progromnacht zerstörtes Geschäft in Magdeburg im November 1938.

Die nationalsozialistische Regierung Deutschlands erlässt die “Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben”. Von nun an ist es Juden verboten, in Einzelhandel und Handelsagenturen zu arbeiten und ein Handwerk auszuüben. Darüber hinaus dürfen Juden keine Güter und Dienstleistungen mehr anbieten. Kurze Zeit später, am 3. Dezember 1938, werden Juden zum Verkauf ihrer Immobilien gezwungen und ihnen die Verfügung über ihre Ersparnisse entzogen.

Zur Jahreschronik 1938

Politische und andere Erdbeben

Die Perspektive eines Kindes

„Es ist ein Glück, das ich schon mein Tagebuch angefangen habe! Denn wir leben ja in einer so abwechslungsreichen Zeit!“

Wien

Tage nach seinem 12. Geburtstag am 15. April 1938 musste Harry Kranner, zusammen mit all seinen jüdischen Schulkameraden, das Realgymnasium Kandlgasse in Wien verlassen. Im November waren Harrys Mutter Gertrude und sein Stiefvater Emil Fichmann damit beschäftigt, Vorbereitungen zur Auswanderung zu treffen. Harry zeigt sich sehr enthusiastisch über die Aussicht des Reisens und über die verschiedenen Ausrüstungsgegenstände, die er bekommt: im Eintrag für den 8. November in dem neuen Tagebuch, das ihm seine Mutter gegeben hat, damit er seine Auswanderungserfahrungen festhalten kann, berichtet er begeistert von seinen neuen Lederhandschuhen. Aber der größte Teil des Eintrags beschäftigt sich mit dem Erdbeben in der vergangenen Nacht.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Protest durch den Stimmzettel

Gefährdete Demokratie

„Wir alle, die wir nur etwas vertraut sind mit der amerikanischen Tagespolitik, wissen, dass der von uns allen aufs höchst verehrte Präsident der Vereinigten Staaten nie auch nur daran denken würde, diese Gesetze in rein persönlichem Sinne auszulegen. Was gibt uns aber die Garantie, dass nicht einstmals ein Nachfolger sie so auslegen würde?“

New York

Die Tatsache, dass sie sich den Gefahren des Nazismus entzogen hatten, bedeutete nicht, dass es für die Einwanderer an der Zeit sei, unachtsam zu werden: Das Editorial der November-Ausgabe des Aufbau ermahnte die Neuankömmlinge, sich Kenntnisse über das Funktionieren der amerikanischen Politik anzueignen, um Entwicklungen zu verhindern, die denen glichen, durch die die gegenwärtige Regierung in Deutschland an die Macht gekommen war. Insbesondere warnt der Verfasser vor einer Beschneidung der Rechte mit „verfassungsmäßigen“ Mitteln. Der wirksamste Protest gegen Versuche, die Demokratie zu untergraben, bestehe im „Protest durch den Stimmzettel.“ Nur die Kandidaten, die für den wahren Amerikanismus, wie er ihn sah, stünden – für Frieden und Gerechtigkeit oder, mit anderen Worten, für Demokratie – verdienten, gewählt zu werden.

„Rasse“ und Blut kontra Menschlichkeit

Die Verzweiflung der Andersdenkenden

„In aller Herren Länder haben sich die Freunde verstreut. Wohl denen, die noch mit einem blauen Auge davongekommen sind, die nicht mehr einbüßten als einen fünfundsiebzigprozentigen Verlust ihres Vermögens! […] Vermögensverlust läßt sich verschmerzen. Menschliche Kränkung nie.“

BERLIN

In ihrem Tagebucheintrag vom 15. Oktober 1938 erinnert sich die nicht-jüdische Berliner Journalistin Ruth Andreas-Friedrich an ihre vielen jüdischen Freunde, die seit 1933 aus Deutschland ausgewandert sind. „Dieses verzweifelte Sichaufbäumen gegen Rasse- und Blutgesetze! Darf nicht jeder da zu Hause sein, wo er zu Hause sein will?“ In ihrer Kindheit, so schreibt sie, seien die Menschen in gut und schlecht, anständig und nichtanständig, liebenswert und ablehnenswert unterteilt gewesen. Nun aber scheinen „Jude“ und „Arier“ an die Stelle einer auf menschlichen Eigenschaften beruhenden Wertung getreten zu sein. Und all die anti-jüdischen Schikanen – wer wisse schon davon? Wer keine jüdischen Bekannten habe, bleibe ahnungslos.

QUELLE

Institution:

Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Sammlung:

Ruth Andreas-Friedrich: Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945, Berlin 1983 (Neudruck), S. 19.

Zurückgewiesen

Keine Einreisegenehmigung für Anneliese Riess

GENF/TURIN

Eigentlich war Anneliese Riess Archäologin. Doch nach ihrer Promotion in Rom im November 1936 hatte sie als Ausländerin keine Chance, in ihrem Traumberuf angestellt zu werden. 1937 absolvierte sie daher in Genf einen Kurs als Kinderschwester und kehrte dann nach Rom zurück. Als die faschistische Regierung in Italien im Herbst 1938 ausländische Juden aufforderte, innerhalb eines halben Jahres das Land zu verlassen, erklärte sich die Schwesternschule in Genf bereit, Anneliese bis zur Ankunft ihres Visums für die Vereinigten Staaten als Praktikantin aufzunehmen. Aufgrund der fremdenfeindlichen und antisemitischen Einwanderungspolitik der Schweiz verweigerte man der jungen Frau jedoch die Einreise. In einem Brief der Schule vom 10. Oktober wurde ihr mitgeteilt, Fälle dieser Art seien unter den Schülerinnen derartig häufig, dass sich die Leiterin der Schule, Frl. Borsinger, ihr nicht zu einer Aufenthaltsgenehmigung verhelfen könne. Sie habe aber ein Schreiben an das Konsulat beigelegt, das bestätige, Anneliese Riess werde dringend in der Krankenpflegeschule erwartet – allerdings als Schülerin. Dies, so schrieb man, sei die einzige Möglichkeit für sie, ins Land gelassen zu werden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Annelise Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

“America First!”

Nach vorne schauen und nicht zurück

Aber Freiheit und Recht werden uns nicht geschenkt, wir haben auch hier für sie zu arbeiten und zu kämpfen!

New York

Das Editorial der Oktober-Ausgabe des Aufbau verfolgt ein klares Ziel: die Leserinnen und Leser daran zu erinnern, dass sie „nunmehr Amerikaner sind mit allen Rechten, aber auch mit allen Pflichten.“ Bindungen vornehmlich familiärer und kultureller Art werden anerkannt, gleichzeitig aber betont, wie wichtig es sei, den Blick in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit zu richten. „America First!“ lautete das Motto, das als Aufruf zur Integration der jüdischen Emigranten in die amerikanische Gesellschaft verstanden werden kann. Der Autor des Editorials liefert seinen Lesern dafür auch Argumente: Europa könne ihnen fundamentale Werte wie Freiheit und Recht nicht mehr garantieren. In den Vereinigten Staaten mit ihrer „Bill of Rights“ hingegen lohne es sich, für diese Werte einzustehen und zu kämpfen. Der Jewish Club als Herausgeber des Aufbau positionierte sich somit klar innerhalb der amerikanischen Gesellschaft – und erwartete diese Haltung auch von seinen Lesern und Mitgliedern.

Entfernt verwandt

FREITAG

„Ich appelliere an Ihre Menschlichkeit und Ihren Sinn für Blutsverwandtschaft, wenn ich mir die Freiheit nehme, Sie zu bitten, mir bei meiner Immigration in die Staaten zu helfen und mir die notwendige Bürgschaft auszustellen.“

Wien/New York

Es muss Überwindung gekostet haben: Eva Metzger-Hohenberg schrieb dem entfernten Verwandten, aber ihr eigentlich völlig unbekannten Leo Klauber in Manhattan einen flehenden Brief. Ihre Lage sei prekär, für Juden sei in Deutschland kein Platz mehr. Maria Metzger-Hohenberg appellierte an Leo Klaubers „Menschlichkeit“ und seinen „Sinn für Blutsverwandtschaft“ und bat ihn, ihr und ihrer Familie Bürgschaften auszustellen. Dieser Brief aus Wien zeigt nicht nur, welche verzweifelten Maßnahmen manche jüdische Familien ergreifen mussten, um ihre Auswanderung zu ermöglichen. Er zeichnet auch ein lebendiges Bild von der Situation, in der sich viele Juden im Herbst 1938 befanden. Marias Eltern und ihr Bruder hatten ihr Fleisch-Geschäft aufgeben müssen. Der Großhandel ihres Ehemanns, der mehr als 140 Mitarbeiter beschäftigte, wurde „arisiert“. Faktisch bedeutete dies, dass er weit unter Wert verkauft werden musste. Das Schicksal der Metzger-Hohenbergs steht exemplarisch für das unzähliger jüdischer Familien in dieser Zeit.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Laura und Leonard Yaffe Korrespondenze, AR 11921

Original:

Archivbox 2, Ordner 3

Source available in English

Dringend gesucht: Bürgen

Bürgschaften von mindestens zwei Verwandten, dazu Dokumente von Banken, Polizeibehörden...Kurt hat mit den hohen Einwanderungs-Hürden zu kämpfen

„Es versteht sich, dass wir an alle nur irgendwie Bekannten in aller Welt schrieben und schreiben, ohne jedoch bisher etwas Positives erreicht zu haben.“

Genua/East Springfield, Pennsylvania

Keinen langen Brief, nur eine eng beschriebene Postkarte erhielt Ludwig Guckenheimer von seinem alten Freund Kurt – doch diese paar Zeilen zeichnen eine lebendige Momentaufnahme der Situation, in der sich sein Freund gerade befand. Abgeschickt hatte Kurt die Karte am 14. September in Genua. Von hier aus versuchte er bereits seit einiger Zeit, seine Emigration vorzubereiten. Kurt wusste,„dass es anfängt zu eilen.“ Bislang scheiterte es für ihn einerseits am fehlenden Geld, vor allem aber an fehlenden Bürgen. Viele Länder hatten die finanziellen und bürokratischen Hürden zur Immigration in den lezten Jahren enorm erhöht. Die Vereinigten Staaten etwa erwarteten neben zahlreichen offiziellen Bescheinigungen Bürgschaften mindestens zweier enger Angehöriger. Kurt aber ließ sich nicht entmutigen. Bemühungen seines Schwagers in Dallas stimmten ihn hoffnungsvoll.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gertrude Guckenheimer, AR 10042

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

auswege-schwinden

Die Härte schweizerischer Flüchtlingspolitik

„Begründung: Widerrechtliche Einreise“

Zürich

Die Begründung war kurz und knapp, „Widerrechtliche Einreise“ stand auf dem Polizeibericht, der Kurt Kelman mit einer einjährigen Einreisesperre in die Schweiz und Liechtenstein belegte. Bei Verstoß drohten dem 19-jährigen Studenten aus Wien bis zu sechs Monate Gefängnis und eine hohe Geldstrafe. Kurt Kelman war zuvor von Österreich in die Schweiz eingereist und schließlich von der Zürcher Polizei verhaftet worden. Schon kurz nach dem „Anschluss“ hatte die Schweiz eine Visumspflicht für Österreicher eingeführt. Und in den vorangegangenen Wochen hatte sie ihre bislang schon restriktive Einwanderungspolitik nochmals verschärft: Grenzkontrollen und vermehrte Zurückweisungen an der Grenze wurden Alltag. Besonders hart traf es österreichische Juden wie den Studenten Kurt Kelman. Denn seit dem „Anschluss“ hatten die Nazis den Druck auf Juden, zu emigrieren, enorm erhöht.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt Kelman, AR 11292

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

„Israel“ und „Sarah“

Wenn Namen politisch werden...

„Wäre das Motiv, dem jene Verordnung entsprungen ist, nicht so abgründig gemein – an ihrem Inhalt gibt es nichts zu tadeln: ,Israel‘ bedeutet ,Gottesstreiter‘ und ,Sarah‘ oder ,Sara‘ […] bedeutet ,Fürstin.‘“

NEW YORK

Im August 1938 war eine neue Verordnung erlassen worden: Juden, deren Namen laut Auffassung der Nazis nicht als „typisch jüdisch“ erkennbar waren, sollten zukünftig (spätestens ab dem 1. Januar 1939) einen zweiten Vornamen tragen: „Sara“ für Frauen, „Israel“ für Männer. Die September-Ausgabe des Aufbau brachte die Perfidität dieser Verordnung auf den Punkt: „Wäre das Motiv, dem jene Verordnung entsprungen ist, nicht so abgründig gemein – an ihrem Inhalt gibt es nichts zu tadeln: „Israel” bedeutet ‚Gottesstreiter‘ und „Sarah“ oder „Sara“ […] bedeutet ‚Fürstin‘.” Die Nazis bedienten sich somit nicht nur an Inhalten jüdischer Kultur, sie missbrauchten diese auch, um die Privatsphäre der Juden in Deutschland erneut auf massive Weise einzuschränken.

Hauptsache raus

Wachsende Demoralisierung der Juden drängt sie aus dem Land

„Der Arisierungsprozess geht unaufhaltsam weiter, da gibt es kein Halten mehr. Ob noch einmal die Wunder des Alten Testaments kommen werden? Wie war es doch so schön zu dieser Zeit! Der Durchzug durch das Rote Meer .....! Heuschreckenplage .....! Sterben der Erstgeborenen .....! usw. - aber wir liegen heute in der verkehrten Zone, und das Alte Testament darf nicht mehr gelesen werden.“

BONN/NEW YORK

In diesem Brief an seine Freunde Betty und Morris Moser in New York, geschrieben am 31. August 1938, nahm der Bonner Ludwig Gottschalk kein Blatt vor den Mund: Inzwischen seien die Juden in Deutschland dermaßen demoralisiert und lebten in einem so beständigen Zustand der Angst, dass der Wunsch, das Land zu verlassen, allgegenwärtig sei, egal, was „draußen“ zu erwarten sei. Seinen Informationen zufolge sei das US-Konsulat in Stuttgart durch die Vielzahl der Einwanderungsanträge derartig überlastet, dass neue Bürgschaften zur Zeit gar nicht bearbeitet würden. Die Gottschalks hatten bereits eine Nummer auf der Warteliste und rechneten damit, relativ bald emigrieren zu können. In der Zwischenzeit lernten sie Englisch. Ludwig spielte auf die Veränderungen, die sich seit der Abreise der Freunde in Deutschland ereignet hatte, an, indem er sie „Israel“ und „Sara“ nannte: Am 17. August war ein Erlass ergangen, der die Juden zwang, ihrem Vornamen je nach Geschlecht einen dieser Namen hinzuzufügen und damit ihre jüdische Identität unübersehbar zu machen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Betty und Morris Moser, AR 25497

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Ein Verräter!

Harsches Urteil über Schuschnigg

„Nach wie vor […] halte ich Schuschnigg für einen Verräter und käme er heute in meine Hände statt in die Hitlers wäre sein Schicksal noch grausamer.“

Paris

„Ein Verräter!“ Der Journalist und Schriftsteller Joseph Bornstein liess keinen Zweifel an seiner Haltung gegenüber dem ehemaligen österreichischen Kanzler Kurt Schnuschnigg aufkommen. Zwar in freundlichen, aber ebenso scharf pointierten Worten machte er seinem Freund Bosch in einem Brief klar, dass Boschs „Glaube an den guten Glauben an Schuschnigg“ komplett falsch sei. Lange noch hatten viele Juden in Österreich Hoffnungen auf Schuschnigg gesesetzt, da er versucht hatte, den Einfluss des nationalsozialistischen Deutschland auf Österreich abzuwehren. Nachdem der Absender dieses Briefes, Joseph Bornstein, 1933 seine deutsche Staatsbürgerschaft verloren hatte, war er nach Paris immigriert. Hier trat er schon bald den intellektuellen Kreisen anderer deutscher Exil-Journalisten und Autoren bei. Er arbeitete erneut gemeinsam mit Leopold Schwarzschild und war bis 1938 als Chefredakteur für das intellektuelle Magazin „Das neue Tagebuch“ tätig.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

Original:

Archivbox 2, Ordner 1

„Illegale“ Einwanderin

Gisella Jellinek wird in Palästina zu Nadja

„Ich gratuliere Dir nachträglich zu Deinem 18. Geburtstage und wünsche Dir, das, was Du Dir wünschst, ein recht langes Leben, Gesundheit, Heldentum, Mut, gute Chawera zu sein und dass Dein Ideal in Erfüllung geht und nicht vergessen (...) recht viel Arbeit.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Unter abenteuerlichen Umständen war Gisella Jellinek im Juni 1938 nach Palästina gelangt. Als Teil einer Gruppe von mehreren hundert Jugendlichen war sie in das Mandatsgebiet eingeschmuggelt worden. Um zu verhindern, von den britischen Mandatsbehörden als illegale Einwanderin aufgespürt zu werden, musste sie sich vom Augenblick des Landgangs in Palästina an die Hebräischkenntnisse zunutze machen, die sie im zionistischen landwirtschaftlichen Ausbildungslager in Österreich erworben hatte. Etwa zwei Monate nach ihrer Ankunft in Palästina wurde Gisella, die sich jetzt Nadja nannte, 18 Jahre alt. In diesem nachträglichen Geburtstagsbrief wünscht ihr ihre Schwester Berta „Heldentum, Mut und eine gute Chawerah (Kibbutz-Mitglied) zu sein“.

Not macht erfinderisch

Intellektuelle planen Wohnkolonie in USA für arbeitslose jüdische Ärzte

„Sie wissen, dass wir alle vom 1. Oktober an nicht mehr Ärzte sind; die deutsche Approbation ist allen unseres Glaubens entzogen. Es gibt natürlich eine Menge, die dann nicht wissen, wovon zu leben und auch hier nicht weiter leben können.“

BERLIN/NEW YORK

Die Existenzkrise jüdischer Ärzte in Deutschland, die verschiedene Stadien (Ausschluss aus dem öffentlichen Gesundheitswesen und aus Krankenkassen, Verbot der Zusammenarbeit zwischen jüdischen und „arischen“ Ärzten etc.) durchlaufen hatte und durch das Berufsverbot im Juli 1938 eskalierte, machte schöpferische Lösungsansätze erforderlich. Am 25. August schrieb Dr. Felix Pinkus, ein renommierter Berliner Dermatologe, an seinen Freund Sulzberger in Amerika, um ihn als Mitstreiter für ein Hilfsprojekt zu gewinnen: Der Soziologe und Nationalökonom Franz Oppenheimer war darauf gekommen, in den Vereinigten Staaten eine Art Wohnkolonie für ehemalige Ärzte einzurichten, deren Finanzierung durch Spenden amerikanisch-jüdischer Ärzte bestritten werden sollte. Laut Oppenheimers Berechnungen wäre damit zu rechnen, dass etwa 1000 Ärzte diese Lösung in Anspruch nehmen würden. (Dr. Pinkus schätzte, es wären eher 3000.)

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Felix Pinkus Familie, AR 25456

Original:

Archivbox 1, Ordner 41

Sommerfrische und eine unklare Zukunft

Der Onkel von Liesl Teutsch schreibt seiner Nichte eine Ansichtskarte

„Viele Grüße vom reichlich verregneten Urlaub, bei dem auch sonst weder die richtige Erholung noch die dazu gehörige Stimmung aufkommen will.“

FILZMOOS/WIEN

Bereits Jahrzehnte vor dem Anschluss war Antisemitismus an österreichischen Urlaubsorten nicht ungewöhnlich. Das Phänomen hatte sogar einen Namen: “Sommerfrischen-Antisemitismus”. Dennoch blieben die Ferienanlagen unter österreichischen Juden sehr beliebt. Aber als Liesl Teutschs Onkel im August 1938 seinen Urlaub in Filzmoos im Salzburgerland verbrachte, konnte selbst das atemberaubende Panorama seine Gedanken nicht von den beunruhigenden Entwicklungen ablenken. In dieser Postkarte an seine Nichte in Wien macht er deutlich, dass nicht nur das schlechte Wetter ihn um seine Erholung brachte. Er scheint nervös angesichts seiner anstehenden Rückkehr nach Wien, wo ihn eine ungesicherte Zukunft erwartet.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Elisabeth Deutsch Familie, AR 25179

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Tagesgeschehen zum 18. Geburtstag

Hugo Jellinek gratuliert seiner Tochter und kommentiert die aktuellen Entwicklungen

„Böhmen ist eine harte Nuss, an der sich diese Räuberbande die Zähne ausbrechen werden [sic] oder sagen wir eine Buchtel, an der diese wahnsinnig gewordenen Teufel ersticken werden. Trotz der vielen hiesigen deutschen Hochverräter ist [sic] Regierung und Volk einig in dem unerschütterlichen Willen, die Freiheit und demokratischen Errungenschaften bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Hugo Jellinek war stolz auf seine Tochter Gisella, die während der Hachschara zu einer glühenden Zionistin geworden und wenige Monate zuvor als Teil einer Gruppe wagemutiger Jugendlicher nach Palästina eingewandert war. Zum 18. Geburtstag schickte er seiner erstgeborenen Tochter nicht nur Glückwunsche, sondern ließ sie auch ausführlich an seinen Gedanken zum Tagesgeschehen teilhaben: Deutsche Manöver entlang der tschechoslowakischen Grenze beunruhigten ihn sehr, doch er war überzeugt, anders als im Fall Österreichs würde die Wehrmacht mit scharfem Widerstand zu rechnen haben. Das Misstrauen und der Mangel an Solidarität wohlhabender Brünner Juden gegenüber jüdischen Flüchtlingen erfüllten ihn mit Bitterkeit. Auch war er sehr besorgt wegen der Räumungsbescheide, die bei österreichischen Juden eingingen. Bei allen Sorgen und Klagen verschaffte eine neue Damenbekanntschaft einen Lichtblick.

Nach Haifa? Nicht jetzt.

Onkel Alfred rät Neffen ab von Besuch

„Der Zeitpunkt, zu dem wir hierherkommen sollen, wird nach meiner Auffassung von weit höherer Seite bestimmt, das Schicksal wird uns zeigen, wenn wir hierherkommen sollen. Ich habe noch niemals so viele unglückliche Menschen in einem Land konzentriert gesehen, wie hier.“

Haifa/Meran

Nach sechs Jahren in Palästina war Alfred Hirschs Urteil eindeutig: Angesichts der politischen, klimatischen und wirtschaftlichen Struktur des Landes könnten selbst ausgesprochen intelligente, ausdauernde Menschen nicht viel erreichen. Bei seinem Versuch, seinem Neffen Ulli das Kommen auszureden, nahm er kein Blatt vor den Mund. Im sehr säkularen Haifa ansässig, war Alfred Hirsch überzeugt, für einen jungen orthodoxen Juden wie Ulli wäre das Leben in Palästina zum gegenwärtigen historischen Zeitpunkt eine große Enttäuschung. Zwischen der Atmosphäre, die durch das kollektive Elend einer großen Anzahl entwurzelter, bedrückter Menschen erzeugt wurde und den politischen Unruhen, die ernsthafte wirtschaftliche Probleme hervorriefen, erschien Onkel Alfred der Zeitpunkt nicht richtig. (Mit politischer Unruhe gemeint sind der Arabische Aufstand in Reaktion auf den massiven Zustrom europäischer Juden und die Aussicht auf die Errichtung einer Nationalen Heimstätte für die Juden, wie durch die Balfour-Erklärung 1917 vereinbart.)

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Julius und Elisabeth Hirsch, AR 25585

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Faschismus in Amerika?

Jüdische Einwanderer warnen vor der Zerbrechlichkeit der Demokratie

„Aus dem hier Dargelegten ergibt sich für uns jüdische Einwanderer, die wir den Faschismus am eigenen Leib erfahren haben, dass wir alle Kräfte anspannen müssen, um den Fortbestand der USA als eines demokratischen Staatswesens zu sichern. Auch hier sind einflussreiche Gruppen am Werk, die Errungenschaften der Demokratie zu untergraben.“

NEW YORK

In der August-Ausgabe des Aufbau bekam eine Gruppe nicht näher identifizierter junger Einwanderer Gelegenheit, zum Schutz und zur Aktivierung der Demokratie in den Vereinigten Staaten aufzurufen: Laut ihrer Auffassung waren es durch ungezügelte Aufrüstung entstandene Wirtschaftskrisen in den faschistisch regierten Ländern Europas, die diesen in ihren eigenen Augen die Legitimation zur Konfiszierung jüdischen Vermögens verschafften. Während die Gruppe die Großzügigkeit der Administration und ihre Bereitschaft zu sozialen Reformen zum Nutzen der vor dem Faschismus Geflohenen lobte, warnte sie vor den reaktionären Kräften, die diese Politik angriffen und ihren Versuchen, die Demokratie in den Vereinigten Staaten zu untergraben. Die Redaktionsleitung achtete darauf, sich von der Position der Gruppe hinsichtlich der Rolle der Wirtschaft in der Geschichte zu distanzieren, erklärte aber dennoch, ihr gern den Raum zu geben, vor der aus Einwanderern bestehenden Leserschaft der Zeitung ihre Bedenken auszubreiten.

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