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Es kommt noch schlimmer

Nach dem Tod ihres Mannes ist die Sängerin Amalia Carneri gezwungen, ihren Besitz zu verkaufen, und bei fremden Menschen einzuziehen.

Wien/New York

Amalia Carneri hatte bessere Tage gesehen: einst eine gefeierte Opern- und Konzertsängerin, musste sie nun gleichzeitig mit dem Tod ihres Ehemanns, des Mineninspektors Heinrich Pollak, der Notwendigkeit, das langjährige Zuhause der Familie in Wien aufzugeben und der Besorgnis erregenden politischen Situation fertig werden. In diesem Brief vom 19. Oktober 1938 an den älteren ihrer beiden Söhne, Fritz, der nach Amerika geflohen war, beschreibt sie in großem Detail ihre Schwierigkeiten beim Verkauf ihres Besitzes: selbst mit der Unterstützung eines wohl etwas unseriösen Helfers muss sie unter Wert verkaufen. Ungewiss, was sie an Witwenpension zu erwarten hat und mit nur einer vagen Hoffnung, sich eines Tages Fritz in Amerika anzuschließen, ist sie in einem Zustand spürbarer Unruhe, und ihre Söhne sind ihr einziger Trost.

QUELLE

Institution:

Courtesy of Nancy Polk, Woodbridge, Connecticut

Original:

Brief von Amalia Cameri an ihrem Sohn, Fritz Pollak

Neues Unternehmen, altes Netzwerk

Was bedeutet Auswanderung für einen Unternehmer?

„Erlauben Sie mir im Bezug auf meine Bürgschaft noch auszuführen, dass ich mein jährliches Einkommen nicht angegeben habe, weil die Hochhauser Leather Co Inc. erst vor kurzer Zeit gegründet wurde.“

NEW YORK/WIEN

In Wien war Hans Hochhauser gemeinsam mit seinem Bruder erfolgreicher Inhaber eines Ledermanufaktur- und Exportunternehmens gewesen. Doch bereits einen Tag nach dem „Anschluss“ hatte er alle Zelte abgebrochen und war mit seiner Frau Greta und seiner Tochter Ilse auf abenteuerlichem Wege aus Österreich geflohen: abgewiesen an der tschechischen Grenze, gelangte die Familie mit dem Zug in die Schweiz und von dort mit einem gecharterten Flugzeug nach England, von wo aus sie schließlich ihren Weg in die Vereinigten Staaten fand. In New York angekommen, musste Hans Hochhauser von vorn beginnen: seine neue Firma hieß „Hochhauser Leather Co Inc.“ In einem Schreiben an das amerikanische Generalkonsulat in Wien vom 14. Oktober 1938, mit dem er eine Bürgschaft für seinen Cousin Arthur Plowitz übermittelte, wies er darauf hin, dass er mit seiner neuen Firma zwar noch am Anfang stehe, aber auf große Teile seines alten Handelsnetzwerks zurückgreifen könne.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Hans und Grete Hochhauser, AR 12070

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Endlich Antwort!

Wichtige Kommunikationsnetze

„Zu meiner unendlichen Erleichterung habe ich eben Deine Karten vom 30. September und 2. Oktober erhalten. Besten Dank! Ich bin sehr froh, dass du wohl und munter bist.“

Neustadt, Oberschlesien/Brünn

Wie wichtig der persönliche Briefverkehr für eine Familie sein konnte, die ganz verstreut lebte, zeigt die Korrespondenz zwischen Lili Pinkus und ihren Verwandten. So hielt sie etwa mit wöchentlichen Briefen den Kontakt zu ihrem 16-jährigen Stiefsohn Hans Joseph, genannt Pippo, aufrecht, der eine Schule in ihrem Heimatort Brünn in der Tschechoslowakei besuchte. Die gleiche Regelmäßigkeit erwartete sie im Gegenzug allerdings auch von ihrem Stiefsohn. Ihr Brief vom 10. Oktober verdeutlicht, was es bedeutet haben muss, wenn seine Antworten länger ausblieben: „Unendliche Erleichterung“ habe sie gespürt, als nach längerer Zeit endlich zwei erlösende Postkarten des 16-Jährigen eintrafen. Lili Pinkus berichtet ihrem Stiefsohn vom Alltag der Familie – spart dabei aber die Sorgen aus, mit denen sie und ihr Mann gekämpft haben müssen. Die Textilfabrik der Familie im oberschlesischen Neustadt („S. Fränkel“) war einer der größten Leinen-Produzenten der Welt. Lili Pinkus‘ Mann, Hans Hubert, leitete das Familienunternehmen seit 1926. Nun aber stand der Familie die „Arisierung“ des Betriebs bevor.

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung John Peters Pinkus Dokumente, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 16

Umwälzungen erreichen Wohnung und Arbeitsplatz

Suche nach Wohnung und Arbeit

„Jetzt stell dir vor, zu all diesem Elend noch die Aussicht auf meine ,großen Ferien,‘ für mich als Muttels Ernährerin. Da kam gestern ein Lichtblick, ich habe vom Landesverband in Berlin die Erlaubnis engl. Unterrichts-Kurse in der Provinz abzuhalten.“

BRESLAU/BERLIN

Im August 1938 begann Irma Umlaufs Leben, aus den Fugen zu geraten: man benachrichtigte sie, dass die in jüdischen Händen befindliche Firma in Breslau, für die sie arbeitete, liquidiert und sie in die Arbeitslosigkeit entlassen werden sollte, und ihr Vermieter kündigte ihr. Obwohl es im Oktober 1938 kein Gesetz gab, laut dem Nichtjuden keine jüdischen Mieter haben durften, waren manche eifrig dabei, sich ihrer zu entledigen. In Irma Umlaufs Fall war das Problem, dass ihre jüdischen Mitbewohner die Miete nicht länger aufbringen konnten und auszogen. Der nichtjüdische Vermieter fürchtete sich nun laut Irma, neue jüdische Mieter anzunehmen, und da Juden und Nichtjuden nicht länger gemeinsamen Wohnraum teilen durften, hatte sie keine Wahl als auszuziehen. Unter den anderen Themen, die sie in diesem Brief an ihre Freundin Hilde Liepelt in Berlin anschneidet, ist ihre berufliche Situation: glücklicherweise hat ihr der Landesverband in Berlin Erlaubnis erteilt, in den jüdischen Gemeinden Münsterberg und Fraustadt, beide nicht zu weit von Breslau entfernt, Sprachunterricht zu erteilen, wodurch sie eine neue Existenzgrundlage erhält und weiter für den Unterhalt ihrer Mutter sorgen kann. Ein Zubrot verdient sie sich als Sängerin.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Brief von Irma Umlauf, Breslau, an ihre Freundin Hilde Liepelt in Berlin; 7.379, Bl. 14

Entfernt verwandt

FREITAG

„Ich appelliere an Ihre Menschlichkeit und Ihren Sinn für Blutsverwandtschaft, wenn ich mir die Freiheit nehme, Sie zu bitten, mir bei meiner Immigration in die Staaten zu helfen und mir die notwendige Bürgschaft auszustellen.“

Wien/New York

Es muss Überwindung gekostet haben: Eva Metzger-Hohenberg schrieb dem entfernten Verwandten, aber ihr eigentlich völlig unbekannten Leo Klauber in Manhattan einen flehenden Brief. Ihre Lage sei prekär, für Juden sei in Deutschland kein Platz mehr. Maria Metzger-Hohenberg appellierte an Leo Klaubers „Menschlichkeit“ und seinen „Sinn für Blutsverwandtschaft“ und bat ihn, ihr und ihrer Familie Bürgschaften auszustellen. Dieser Brief aus Wien zeigt nicht nur, welche verzweifelten Maßnahmen manche jüdische Familien ergreifen mussten, um ihre Auswanderung zu ermöglichen. Er zeichnet auch ein lebendiges Bild von der Situation, in der sich viele Juden im Herbst 1938 befanden. Marias Eltern und ihr Bruder hatten ihr Fleisch-Geschäft aufgeben müssen. Der Großhandel ihres Ehemanns, der mehr als 140 Mitarbeiter beschäftigte, wurde „arisiert“. Faktisch bedeutete dies, dass er weit unter Wert verkauft werden musste. Das Schicksal der Metzger-Hohenbergs steht exemplarisch für das unzähliger jüdischer Familien in dieser Zeit.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Laura und Leonard Yaffe Korrespondenze, AR 11921

Original:

Archivbox 2, Ordner 3

Source available in English

„Wir wandern aus.“

Ein neues Jahr, ein neuer Start

HAMBURG

Ob sich die Schwestern Helen und Eva Hesse irgendwann noch an das diesjährige Rosch Haschana erinnern würden können? Für ihre Eltern Wilhelm und Ruth Hesse jedenfalls war das Neujahrsfest 1938 eine Zäsur. Die Familie hatte die Entscheidung gefasst, aus Hamburg auszuwandern. Helen war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt, ihre kleine Schwester Eva gerade einmal zwei. Ihr Vater führte in dieser Zeit ein Tagebuch für seine beiden Töchter. Den Eintrag zu Rosch Haschana 5699 überschrieb er mit großen, gedruckten Lettern: „Wir wandern aus”, das „Motiv” des diesjährigen Neujahrsfestes, wie Wilhelm handschriftlich ergänzte. Seine Töchter sollten bis dahin allerdings möglichst sorgenfrei leben. Dass es ihren Eltern ganz anders ging, wird zum Ende des Tagesbucheintrages klar. Dort schrieb Wilhelm Hesse: „Später werden sie sich mal wundern, was ihre Eltern in diesen Zeiten alles ertragen mussten. Wir wandern aus.”

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Helen und Eva Hesse Familie, AR 25327

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Von jetzt auf gleich: staatenlos

Die Zahl der Ausbürgerungen steigt an

Berlin

Alfred Basch, geboren am 27. September 1915 in Magdeburg, war fortan staatenlos. Mit der Veröffentlichung seines Namens im deutschen Reichsanzeiger wurde Alfred Basch die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Grundlage dafür war das „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit“. Es galt bereits seit fünf Jahren. Doch in den vergangenen Monaten waren die Ausbürgerungszahlen deutlich angestiegen, oftmals traf es Personen und Familien, die nach dem Ersten Weltkrieg dank der vergleichsweise liberalen Einbürgerungspolitik der Weimarer Republik deutsche Staatsbürger geworden waren. Allein im September 1938 waren es 116 Familien, die auf Grundlage dieses Gesetzes vom einen Tag auf den anderen zu Staatenlosen gemacht wurden. Und damit nicht genug: Die Veröffentlichung ihrer vollen Namen, Geburtsorte und -daten machte sie zu einer Zielscheibe für Diskriminierung, die normales Weiterleben, und sei es auch nur vorübergehend, unmöglich machten.

Vom Schwur, niemandem zu schaden

Ein jüdischer Arzt sorgt sich wegen beruflicher Konsequenzen der Nazi-Gesetze

„Mir geht in diesen Wochen oft ein lateinischer Vers des Horaz durch den Kopf, der in deutscher Übertragung etwa so lautet: Und wenn die Welt zusammenstürzt, wird sie einen unerschütterten Mann erschlagen.“

KÖLN

Erstaunlich viele deutsche Ärzte hatten anscheinend nicht nur keine Skrupel, sich durch das Nazi-Regime vereinnahmen zu lassen, sondern unterstützten aktiv dessen rassistische und eugenische Grundsätze, wobei sie bequem außer Acht ließen, dass sie doch vorgeblich dem Hippokratischen Eid mit seiner Forderung, keinen Schaden zuzufügen, verpflichtet waren. Nicht genug damit, dass sie eine Ideologie verbreiteten, die Juden zu einer „Gefahr für die deutsche Rasse“ erklärte, schlossen medizinische Organisationen in Deutschland Juden aus und machten es ihnen zunehmend schwerer, ihren Unterhalt zu verdienen. Unter diesen Umständen überrascht es nicht, dass Dr. Max Schönenberg, ein Kölner Arzt, und seine Frau Erna, eine Musikerin, die Auswanderung ihres Sohnes Leopold 1937 nach Palästina unterstützt hatten, obwohl der Junge zu dem Zeitpunkt erst 15 Jahre alt war. In diesem Brief an seinen Sohn vom 18. September 1938 spricht Dr. Schönenberg verschiedene gewichtige Themen an, darunter die gerade erfolgte Entscheidung des Regimes, jüdischen Ärzten die Approbation zu entziehen und seine Ungewissheit hinsichtlich seiner beruflichen Zukunft (manche jüdischen Ärzte erhielten Erlaubnis, jüdische Patienten zu behandeln).

QUELLE

Institution:

NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Original:

Best. 46

Zum Nazi erzogen

Erika Manns Buch über das NS-Bildungsystem

NEW YORK

Erika Mann eröffnet ihr Buch mit einer fesselnden Beschreibung. Sie erzählt von einem Treffen mit einer Frau M. aus München. Zu dieser Zeit lebte Erika mit ihren Eltern Thomas und Katia Mann bereits im Exil. Frau M. möchte ebenfalls mit ihrer Familie emigrieren. Dieser Wunsch allerdings trifft auf Erika Manns Unverständnis, immerhin hätten Frau M. und ihre Familie als wohlhabende „Arier“ nichts zu befürchten. Dann aber spricht Frau M. einen entscheidenden Satz aus: „Ich möchte, dass mein Sohn ein anständiger Mensch wird, ein Mann und kein Nazi“ [„I want the boy to become a decent human being—a man and not a Nazi“]. Der Satz wird zum Ausgangspunkt von Erika Manns Studie über das nationalsozialitische Bildungs- und Indoktrinationssystem. Ihr viel beachtetes Buch erschien 1938 unter dem Titel „School for Barbarians. Education under the Nazis“ in den Vereinigten Staaten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Original:

Erika Mann, School for Barbarians; Education under the Nazis,New York: Modern Age Books, 1938 ; LA 721.8 M312

Dringend gesucht: Bürgen

Bürgschaften von mindestens zwei Verwandten, dazu Dokumente von Banken, Polizeibehörden...Kurt hat mit den hohen Einwanderungs-Hürden zu kämpfen

„Es versteht sich, dass wir an alle nur irgendwie Bekannten in aller Welt schrieben und schreiben, ohne jedoch bisher etwas Positives erreicht zu haben.“

Genua/East Springfield, Pennsylvania

Keinen langen Brief, nur eine eng beschriebene Postkarte erhielt Ludwig Guckenheimer von seinem alten Freund Kurt – doch diese paar Zeilen zeichnen eine lebendige Momentaufnahme der Situation, in der sich sein Freund gerade befand. Abgeschickt hatte Kurt die Karte am 14. September in Genua. Von hier aus versuchte er bereits seit einiger Zeit, seine Emigration vorzubereiten. Kurt wusste,„dass es anfängt zu eilen.“ Bislang scheiterte es für ihn einerseits am fehlenden Geld, vor allem aber an fehlenden Bürgen. Viele Länder hatten die finanziellen und bürokratischen Hürden zur Immigration in den lezten Jahren enorm erhöht. Die Vereinigten Staaten etwa erwarteten neben zahlreichen offiziellen Bescheinigungen Bürgschaften mindestens zweier enger Angehöriger. Kurt aber ließ sich nicht entmutigen. Bemühungen seines Schwagers in Dallas stimmten ihn hoffnungsvoll.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gertrude Guckenheimer, AR 10042

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Nicht wegen Bettelns vorgemerkt

Ein polizeiliches Führungszeugnis im Jahr 1938

„…hiermit bestätigt, dass gegen ihn während der letzten fünf Jahre keinerlei bedenkliche, die Reise behindernden Tatsachen inbesondere auch nicht wegen Bettelns vorgemerkt sind.“

Wien

Es mag auf den ersten Blick abstrus erscheinen: Einem Versicherungsangestellten, dem Wiener Franz Resler, wird im polizeilichen Führungszeugnis bestätigt, er sei in der Vergangenheit inbesondere „nicht wegen Bettelns“ aufgefallen. Auf den zweiten Blick aber ist es genau die Betonung des Bettelns, die auf all die existenziellen Krisen verweist, in denen sich viele österreichische Juden 1938 zunehmend befanden. Mit dem „Anschluss“ hatten die Nazis den wirtschaftlichen Druck auf die in Österreich lebenden Juden enorm erhöht. „Arisierungen“ von Unternehmen und Berufsverbote entzogen zahlreichen Personen die Lebensgrundlage. Franz Resler und seine Frau Anna planten deswegen ihre Ausreise nach Argentinien, dort lebte Franz Reslers Schwester Fanny bereits seit den 1920er Jahren.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Polizeiliches Führungszeugnis für Franz Resler, zum Zweck der Ausreise nach Argentinien; Arch. Inv. Nr. 5769/3

Und wieder einmal: warten

Die Einreise-Quoten sind strikt

„Es wird Ihnen mitgeteilt, dass die Quote jetzt erschöpft ist.“

Berlin/Breslau

Zeitpunkt: ungewiss. Das amerikanische Generalkonsulat Breslau nannte Carl Proskauer und seiner Familie noch nicht einmal ein Datum in weiter Ferne, an dem sie sich erneut um US-Visa hätten bewerben können. Die Quote sei ausgeschöpft. Gemeint war die amerikanische Quote, die festlegte, wie viele Personen pro Geburtsland (nicht Land der Staatsbürgerschaft!) jährlich in die USA einwandern durften. Und mit dem Jahr 1938 war die Anzahl von Visums-Bewerbungen aus Deutschland rasant gestiegen. Für individuelle Schicksale wie das von Curt Proskauer und seiner Familie bedeutet das im Einzelfall: ein weiteres Mal quälende Wartezeiten und aufreibender Papierkram. Denn viele der Dokumente, die der Breslauer Zahnarzt und Medizin-Historiker Curt Proskauer bereits im amerikanischen Generalkonsulat eingereicht hatte, verloren nach einer gewissen Zeit auch wieder ihre Gültigkeit. Ob sich Curt Proskauer bis dahin erneut um ein Visum bewerben wird können: ungewiss!

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Proksauer, AR 25641

Original:

Archivbox 2, Ordner 30

Ein neuer Versuch

Eine Bürgschaft aus den USA brachte Hoffnung

„Leo Abraham, Elsa Marx Abraham und ihre beiden Kinder sollen zu keiner Zeit eine Belastung für die Vereinigten Staaten werden.“

Scranton, Pennsylvania

Eigentlich hätten Leo Abraham, seine Frau Elsa und die beiden Kinder Bertel und Hannelore schon längst in Palästina sein sollen. Denn um Auswanderungs-Unterlagen hatte sich der Familienvater aus dem rheinland-pfälzischen Altenkirchen bereits kurz nach der Machtübernahme der Nazis gekümmert. Ein Autounfall aber hatte Leo Abraham so schwer verletzt, dass eine Ausreise lange unmöglich erschien. Die Visa für Palästina verfielen. Nun startete Familie Abraham einen zweiten Versuch. Leo Abrahams Cousin David Landau war US-Bürger und stellte den Abrahams im September 1938 eine Bürgschaft aus. Als Jurist mit eigener Anwaltskanzlei in Scranton/Pennsylvania verfügte Landau über ein gutes Einkommen. Eine wichtige Voraussetzung, denn Landau musste versichern, für sämtliche finanziellen Bedürfnisse der Familie Abraham selbst aufzukommen.

Ein letztes Klassenfoto

Gisela und ihre Familie standen kurz vor der Emigration

DRESDEN

Gisela Kleinermann (obere Reihe, r.) war erst vor Kurzem 10 Jahre alt geworden. Den Arm um ihre Mitschülerin gelegt, blickt sie mit einem leichten Lächeln in die Kamera. Zu diesem Zeitpunkt mag sie bereits gewusst haben, dass sie nicht mehr lange Teil dieser Klasse der Jüdischen Schule in Dresden sein würde: Bereits im Spätsommer 1938 bereitete ihre Mutter Erna die Emigration der Familie Kleinermann in die Vereinigten Staaten vor. Schrittweise hatten die Nazis in den vergangenen Jahren eine „Rassentrennung“ in öffentlichen Schulen forciert. In vielen jüdischen Großgemeinden – so auch in Dresden – waren daraufhin neue jüdische Schulen gegründet worden.

„Illegale“ Einwanderin

Gisella Jellinek wird in Palästina zu Nadja

„Ich gratuliere Dir nachträglich zu Deinem 18. Geburtstage und wünsche Dir, das, was Du Dir wünschst, ein recht langes Leben, Gesundheit, Heldentum, Mut, gute Chawera zu sein und dass Dein Ideal in Erfüllung geht und nicht vergessen (...) recht viel Arbeit.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Unter abenteuerlichen Umständen war Gisella Jellinek im Juni 1938 nach Palästina gelangt. Als Teil einer Gruppe von mehreren hundert Jugendlichen war sie in das Mandatsgebiet eingeschmuggelt worden. Um zu verhindern, von den britischen Mandatsbehörden als illegale Einwanderin aufgespürt zu werden, musste sie sich vom Augenblick des Landgangs in Palästina an die Hebräischkenntnisse zunutze machen, die sie im zionistischen landwirtschaftlichen Ausbildungslager in Österreich erworben hatte. Etwa zwei Monate nach ihrer Ankunft in Palästina wurde Gisella, die sich jetzt Nadja nannte, 18 Jahre alt. In diesem nachträglichen Geburtstagsbrief wünscht ihr ihre Schwester Berta „Heldentum, Mut und eine gute Chawerah (Kibbutz-Mitglied) zu sein“.

Kontakte sind Geld wert

Agnes Graetz nutzt ihr Netzwerk, um ihrer Tochter die Auswanderung in die USA zu ermoeglichen

„Ich bitte Sie, mir, wenn irgend möglich in Kürze zu schreiben, ob Sie eine Möglichkeit sehen, die nicht - wie das jetzt üblich zu sein scheint - unwahrscheinlich hohe Garantien und Rechtsanwaltskosten erfordert.“

Luzern

Eine Krankheit auf Reisen zwang Wilhelm Graetz 1938, seinen Aufenthalt in der Schweiz auszudehnen. Angesichts der sich zuspitzenden Situation entschloss er sich, sein Zuhause in Berlin aufzugeben. Das vormals gut situierte Ehepaar konnte seinen vier erwachsenen Kindern finanziell nicht unter die Arme greifen, hatte aber den Vorteil weit verzweigter Kontakte: Wilhelm Graetz war Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gewesen und kannte als Leiter des deutschen „ORT“ vielerorts potentielle Helfer. Im August führte ihn eine Reise nach Ungarn. Am 27. nutzte seine Frau Agnes die Zeit, bei dem bekannten Territorialisten und „ORT“-Führer David Lvovicz um Hilfe für eine ihrer drei Töchter zu bitten, die dringend eine Bürgschaft brauchte, um nach Amerika auswandern zu können.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung William Graetz, AR 4121

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Sommerfrische und eine unklare Zukunft

Der Onkel von Liesl Teutsch schreibt seiner Nichte eine Ansichtskarte

„Viele Grüße vom reichlich verregneten Urlaub, bei dem auch sonst weder die richtige Erholung noch die dazu gehörige Stimmung aufkommen will.“

FILZMOOS/WIEN

Bereits Jahrzehnte vor dem Anschluss war Antisemitismus an österreichischen Urlaubsorten nicht ungewöhnlich. Das Phänomen hatte sogar einen Namen: “Sommerfrischen-Antisemitismus”. Dennoch blieben die Ferienanlagen unter österreichischen Juden sehr beliebt. Aber als Liesl Teutschs Onkel im August 1938 seinen Urlaub in Filzmoos im Salzburgerland verbrachte, konnte selbst das atemberaubende Panorama seine Gedanken nicht von den beunruhigenden Entwicklungen ablenken. In dieser Postkarte an seine Nichte in Wien macht er deutlich, dass nicht nur das schlechte Wetter ihn um seine Erholung brachte. Er scheint nervös angesichts seiner anstehenden Rückkehr nach Wien, wo ihn eine ungesicherte Zukunft erwartet.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Elisabeth Deutsch Familie, AR 25179

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Neues von den Kleinman(n)s

Kurt in der Schweiz, Schwester und Schwager mögen folgen

„Mein jüdischer Name ist Elke, und da ich Jiddisch spreche und Du Deutsch, sollten wir einander sehr gut verstehen können.“

NEW YORK/BASEL

Der Wiener Kurt Kleinmann und die New Yorkerin Helen Kleinman waren einander nie persönlich begegnet. Nachdem Kurt die kreative Idee hatte, eine Familie ähnlichen Namens in New York zu kontaktieren, in der Hoffnung, die amerikanischen Namensvettern wären vielleicht bereit, ihm bei der Beschaffung einer Bürgschaft behilflich zu sein, entwickelte sich eine zunehmend intensive Korrespondenz zwischen dem jungen Mann und der Tochter der Kleinmans. Helen nahm die Angelegenheit entschlossen in die Hand: Drei Monate nach Kurts erster Kontaktaufnahme mit den Kleinmans, als Helen diesen Brief schrieb, war nicht nur Kurts Auswanderung in Bearbeitung. Sie hatte auch eine Tante aktiviert, für seinen Cousin eine Bürgschaft zu übernehmen, mit dem ihm in der Zwischenzeit die Flucht in die Schweiz gelungen war. Außerdem bestand Hoffnung, dass eine andere Tante dasselbe für Kurts Schwester und Schwager tun würde, die noch in Wien festsaßen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt und Helen Klenmann, AR 10738

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Tagesgeschehen zum 18. Geburtstag

Hugo Jellinek gratuliert seiner Tochter und kommentiert die aktuellen Entwicklungen

„Böhmen ist eine harte Nuss, an der sich diese Räuberbande die Zähne ausbrechen werden [sic] oder sagen wir eine Buchtel, an der diese wahnsinnig gewordenen Teufel ersticken werden. Trotz der vielen hiesigen deutschen Hochverräter ist [sic] Regierung und Volk einig in dem unerschütterlichen Willen, die Freiheit und demokratischen Errungenschaften bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Hugo Jellinek war stolz auf seine Tochter Gisella, die während der Hachschara zu einer glühenden Zionistin geworden und wenige Monate zuvor als Teil einer Gruppe wagemutiger Jugendlicher nach Palästina eingewandert war. Zum 18. Geburtstag schickte er seiner erstgeborenen Tochter nicht nur Glückwunsche, sondern ließ sie auch ausführlich an seinen Gedanken zum Tagesgeschehen teilhaben: Deutsche Manöver entlang der tschechoslowakischen Grenze beunruhigten ihn sehr, doch er war überzeugt, anders als im Fall Österreichs würde die Wehrmacht mit scharfem Widerstand zu rechnen haben. Das Misstrauen und der Mangel an Solidarität wohlhabender Brünner Juden gegenüber jüdischen Flüchtlingen erfüllten ihn mit Bitterkeit. Auch war er sehr besorgt wegen der Räumungsbescheide, die bei österreichischen Juden eingingen. Bei allen Sorgen und Klagen verschaffte eine neue Damenbekanntschaft einen Lichtblick.

Nach Haifa? Nicht jetzt.

Onkel Alfred rät Neffen ab von Besuch

„Der Zeitpunkt, zu dem wir hierherkommen sollen, wird nach meiner Auffassung von weit höherer Seite bestimmt, das Schicksal wird uns zeigen, wenn wir hierherkommen sollen. Ich habe noch niemals so viele unglückliche Menschen in einem Land konzentriert gesehen, wie hier.“

Haifa/Meran

Nach sechs Jahren in Palästina war Alfred Hirschs Urteil eindeutig: Angesichts der politischen, klimatischen und wirtschaftlichen Struktur des Landes könnten selbst ausgesprochen intelligente, ausdauernde Menschen nicht viel erreichen. Bei seinem Versuch, seinem Neffen Ulli das Kommen auszureden, nahm er kein Blatt vor den Mund. Im sehr säkularen Haifa ansässig, war Alfred Hirsch überzeugt, für einen jungen orthodoxen Juden wie Ulli wäre das Leben in Palästina zum gegenwärtigen historischen Zeitpunkt eine große Enttäuschung. Zwischen der Atmosphäre, die durch das kollektive Elend einer großen Anzahl entwurzelter, bedrückter Menschen erzeugt wurde und den politischen Unruhen, die ernsthafte wirtschaftliche Probleme hervorriefen, erschien Onkel Alfred der Zeitpunkt nicht richtig. (Mit politischer Unruhe gemeint sind der Arabische Aufstand in Reaktion auf den massiven Zustrom europäischer Juden und die Aussicht auf die Errichtung einer Nationalen Heimstätte für die Juden, wie durch die Balfour-Erklärung 1917 vereinbart.)

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Julius und Elisabeth Hirsch, AR 25585

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Fragebogen

Antisemitismus im sächsischen Merseburg treibt Bernhard Taitza ins Ausland

„Mittel für den Existenzaufbau unter der Voraussetzung, dass die Mitnahme bewilligt wird; Mittel für Reisespesen: ‘Keine. RM 8000.- in Deutschland beschlagnahmt, um deren Freigabe ich mich bemühe. Andernfalls stellen die Verwandten in Amerika genügend Existenzmittel zur Verfügung.’”

Prag

Die unbedeutende Anzahl von Juden im sächsischen Merseburg (50 Personen bei einer Gesamtbevölkerung von 31.576 im Jahr 1933) brachte die Nationalsozialisten vor Ort nicht davon ab, sie in Angst und Schrecken zu versetzen: Bereits 1934 berichtete Bernhard Taitza, ein Kaufmann, von der Qual jüdischer Einwohner, an deren Wohnungen Nazi-Formationen vorbeimarschierten und antisemitische Lieder sangen. Schließlich wurde die Situation so unerträglich, dass er 1938 Deutschland verließ und nach Prag ging. Tage später, am 18. August, reichte er diesen Fragebogen bei der HICEM ein, einer Organisation, die 1927 durch einen Zusammenschluss der Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS), der Jewish Colonization Association und Emigdirect, einer weiteren jüdischen Migrationsorganisation, entstanden war. Glücklicherweise hatte Taitza zwei Kinder in Amerika und war bereits mit einer Bürgschaft ausgestattet, so dass er sich nicht allzu sehr sorgen musste, ob er das Geld, das die Nazis konfisziert hatten, je wiederbekommen würde.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Bernhard Taitza, früher Merseburg, trifft in der CSR ein.

Ferienidylle

Ein sonniger Brief an den Vater

„Uns geht es gut. Die Sonne scheint seit zwei Tagen, so dass wir schwimmen gehen konnten, aber für morgen sagt das Radio Regen an.“

Nespeky/Prag

Hitlers Pläne für die Tschechoslowakei hätten eindeutiger nicht sein können: Am 30. Mai 1938 hatte er in einer Weisung an die Wehrmacht mitgeteilt, es sei sein „unabänderlicher Beschluss“, die Tschechoslowakei „in absehbarer Zeit“ zu zerschlagen. Schon Monate zuvor hatte er den Führer der seit Jahren teilweise von Nazideutschland finanzierten Sudetendeutschen Partei, Konrad Henlein, dazu angestachelt, durch nicht erfüllbare Forderungen für die deutsche Minderheit eine Konfrontation heraufzubeschwören. Unter dem Einfluss der Ereignisse in Deutschland hatte der Antisemitismus im Land zugenommen, hatte aber bisher nur in den überwiegend von Deutschen bewohnten Grenzgebieten Nord- und Westböhmens zu Boykotten und tätlichen Übergriffen geführt. Während sich im Hintergrund eine Krise zusammenbraute, war der Psychiater und Schriftsteller Josef Weiner mit seiner Frau Hanka und den zwei kleinen Töchtern im zentralböhmischen Städtchen Nespeky in Urlaub. Hankas Briefchen (in tschechischer Sprache) an ihren Vater, den renommierten Prager Rechtsanwalt Oskar Taussig, atmet reine Ferienidylle und verschont den rekonvaleszenten Empfänger vor allem Unerfreulichen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Winn Familie, AR 25493

Original:

Archivbox 1, ordner 5

Selbst ist die Frau

Eine unabhängige Unternehmerin muss um Hilfe bitten

„Ich glaube, ich schreibe an die Kinder von Emanuel und Victoria Magen, und ich flehe Euch an, uns zu helfen, nach Amerika zu kommen.“ ”

Berlin

Die Berlinerin Gusty Bendheim hatte den amerikanischen Zweig ihrer Familie nie kennengelernt. 42 Jahre alt und geschieden, hatte sie keine andere Wahl, als sich an ihre Verwandten in Übersee zu wenden. Sie bat die quasi Fremden um Hilfe, ihr und ihren Kindern Ralph (13) und Margot (17) die Auswanderung zu ermöglichen. Gusty war ein unternehmerischer Typ: Zum Zeitpunkt ihrer Heirat mit Arthur Bendheim, einem Kaufmann aus Frankfurt am Main, hatte sie bereits das dritte Knopfgeschäft gegründet. Nach der Hochzeit übernahm Arthur die Geschäftsleitung, und Gusty wurde zur Hausfrau. Trotz der zunehmend besorgniserregenden anti-jüdischen Maßnahmen des Naziregimes war Arthur nicht gewillt, das Land zu verlassen. Nach der Scheidung des Paares 1937 nahm Gusty die Dinge selbst in die Hand: In diesem Brief vom 14. August 1938 an ihre unbekannten Verwandten ergänzt sie ihre Bitte um Hilfe durch die Versicherung, ihr geschiedener Mann sei bereit, die Reisekosten für sie und die Kinder in die Vereinigten Staaten zu übernehmen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Margot Friedlander, AR 11397

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Einzelhachscharah in England

Die 17-jährige Marianne leidet allein in der Fremde

„Jetzt zu dem Punkt, der Dir momentan am wichtigsten ist. Papi hat Dir ja schon seine Ansicht geschrieben, es ist uns sehr darum zu tun, dass Du in England bleibst und so leid Du uns tust, dass Du Dich doch irgendwie durchfressen musst.“

Teplitz

Im Juli 1938 reiste die 17jährige Marianne Pollak ganz allein von Teplitz (Tschechoslowakei) nach England. Nicht an das dortige Klima gewöhnt, holte sich das junge Mädchen Rheuma und war rundherum in elender Verfassung. Alle paar Tage erhielt sie von ihrer Mutter fürsorgliche, liebevolle Briefe. Während Mariannes unglückliche Situation sie eindeutig bedrückte, führten ihr Frau Pollak und ihr Mann vor Augen, wie wichtig es sei, dass sie in England bleibe. Anscheinend war Marianne auf Einzelhachscharah, d.h., sie eignete sich Fähigkeiten an, die sie auf das Pionierleben in Palästina vorbereiten sollten. In Osteuropa hatte die Pionierbewegung „HeChaluz“ bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts zukünftigen Siedlern Schulungskurse angeboten. Eine deutsche Zweigstelle wurde 1923 eröffnet, aber die Bewegung gewann in Westeuropa erst während der Weltwirtschaftskrise an Boden und erlangte ihre größte Reichweite während der Jahre der Verfolgung durch die Nazis. Anstatt sich auf Lehrhöfen kollektiv vorbereiten zu lassen, konnten die jungen Leute ihre Ausbildung auch individuell bekommen, was bei Marianne der Fall gewesen zu sein scheint.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung John Peters Pinkus, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 22

Alfred Döblin im Exil

Als französischer Staatsbürger feiert der Schriftsteller seinen 60. Geburtstag

Paris

Knapp einen Monat nach dem Zusammenbruch der Weimarer Republik, einer „Demokratie ohne Gebrauchsanweisung“, wie er sie in „Der deutsche Maskenball“ nannte, und einen Tag nach dem Reichstagsbrand hatte der Schriftsteller und Sozialdemokrat Alfred Döblin Deutschland verlassen. Nach kurzem Intermezzo in der Schweiz war er im September 1933 mit seiner Frau und seinen drei Söhnen nach Paris gezogen. Gelegentliche Publikationen im deutschsprachigen Exil-Verlag Querido (Amsterdam) warfen minimalen finanziellen Gewinn ab, und Döblins mangelnde Französischkenntnisse standen seinem beruflichen Fußfassen erheblich im Wege. Seit 1936 waren die Döblins französische Staatsbürger. Der 10. August 1938 war der 60. Geburtstag des Autors.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Porträt von Alfred Döblin

Original:

F 2087A

Wir sehen uns in Genf

Mit neuen Rassengesetzen ist Rom keine Option mehr für Anneliese

„Bitte schreib mir nur nach Genf, wann wir uns sehen können. Ich freue mich schon sehr auf unser Wiedersehen.“

Biel/Villars-sur-Ollon

Bis 1933 spielte ihre jüdische Identität kaum eine Rolle im Leben von Anneliese Riess, einer vollkommen säkularen Studentin der klassischen Archäologie. Sobald jedoch die Nazis an die Macht kamen, war ihr klar, dass sie als Jüdin in Deutschland keine Zukunft hatte. Sie entschloss sich, nach Italien auszuwandern, wo sie promovierte (Rom, 1936). Da die Chancen, in Italien in ihrem Bereich Arbeit zu finden, äußerst gering waren, belegte die junge Frau 1937 einen anspruchsvollen Kurs für Kinderpflegerinnen in Genf. Nach einer Operation im Juni 1938 verbrachte sie mehrere Monate in Villars-sur-Ollon. Im Juli wurde in Italien das Generaldirektorium für Demographie und Rasse eingerichtet, das damit beauftragt war, die Rassengesetze des Landes zu formulieren. Somit fiel Rom als möglicher Zufluchtsort weg. Im selben Monat war der Vater in Amerika angekommen und bemühte sich nun, auch ihr die Einwanderung zu ermöglichen. Diese Postkarte, datiert vom 7. August und an Anneliese in Villars adressiert, war erfrischend frei von jedem Bezug auf die prekären Entwicklungen in Europa und verschaffte ihr die willkommene Aussicht auf ein Wiedersehen mit einem Freund inmitten aller Unsicherheit.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Anneliese Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, Ordner 9

Grüße und Küsse

Eine liebe Nachricht an Oma in Breslau

„Hoffentlich sind Deine Schmerzen schon besser geworden. Viele herzliche Grüße und Küsse und einen guten שבת [Schabbes], auch an Blumenthals, Dein Enkelkind Michael“

Oldenburg/Breslau

Nach Handschrift und Stil zu urteilen, war Michael Seidemann recht klein, als er seiner Großmutter Louise Seidemann in Breslau diese Postkarte schickte. Interessanterweise war die Adresse, von der aus er schrieb, identisch mit der der Synagoge des Orts, Oldenburg. Obwohl die ersten Zeugnisse jüdischer Präsenz in Oldenburg aus dem 14. Jahrhundert stammen, sollte es bis 1855 dauern, bis die Gemeinde ihre erste zu diesem Zweck erbaute Synagoge eröffnete. Im Zuge der Emanzipation begannen Juden, zum Handel der Stadt beizutragen, indem sie unter anderem Schuhe, Bücher, Fahrräder und Musikinstrumente verkauften, aber auch als Viehhändler und in der Landwirtschaft. Ihr Anteil an der Bevölkerung ging selten über 1% hinaus. Dennoch kam es schon in den zwanziger Jahren zu Angriffen antisemitischer Schläger auf jüdische Geschäfte. 1933 hatte die Stadt 279 jüdische Einwohner aus einer Gesamtbevölkerung von 66.951. Als Michael diese Postkarte schrieb, waren von Dutzenden jüdischer Geschäfte und Betriebe nur zwei übrig geblieben.

Keine Kraft zum Schreiben

Aus Kummer fällt es einem Vater schwer, seine Tagebucheinträge weiter zu führen

“Helen ist ein großes Mädchen geworden. Es wäre in den letzten Monaten mehr denn je zum Schreiben gewesen, aber die Zeiten sind so ernst, dass die Kraft und Muße zum Schreiben fehlt.”

Hamburg

Ruth und Wilhelm Hesse, in Hamburg ansässig, hatten zwei kleine Töchter, Helen (geb. 1933) und Eva (geb. 1936). Wilhelm führte Tagebücher für beide Mädchen. Zwischen den Einträgen vom 3. Mai und vom 2. August ist eine große Lücke. Eine kurze Notiz zu Helens Geburtstag am 30. Juni scheint später hinzugefügt worden zu sein. Wie Wilhelm schreibt, machte der Ernst der Zeit das Schreiben schwer. Die fünfjährige Helen, die sich seit Mitte Mai in einem Kinderheim in Wohldorf-Duvenstedt aufhielt, beklagte sich schon, sie bekäme keine Post von ihren Eltern. Während Wilhelm im Allgemeinen mit der Entwicklung seiner Tochter zufrieden ist, vergisst er nicht zu erwähnen, dass Helen und drei ihrer kleinen Freunde eine Tracht Prügel bekommen hätten, weil sie 20 unreife Pfirsiche von einem Baum gepflückt und sie angebissen hatten. Vielleicht verschaffte die selige Unwissenheit der Kinder dessen, was sich um sie herum zusammenbraute, und ihr unschuldiges Vergehen dem jungen Vater ein minimales Gefühl der Normalität.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Helen und Eva Hesse Familie, AR 25327

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Die Hilfsstelle der Liga für Menschenrechte

„Diese Hunde von Hitler und Göring werden niemals gewinnen“

„Es stirbt halt nicht der jüd. Wohltätigkeitssinn aus und es wird diesen Hunden von Hitler und Göring nicht gelingen, dass die Emigranten in der Gosse krepieren.“

Brünn/Rischon LeZion

Hugo Jellinek war ein vielseitig begabter Mann. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwang ihn, sein Medizinstudium abzubrechen. Als Soldat wurde er in Samarkand schwer verwundet und verliebte sich in die Krankenschwester, die ihn pflegte und später seine Frau und die Mutter seiner drei Töchter wurde. Das Paar siedelte sich in Taschkent (Usbekistan) an. Nach dem Tod seiner noch jungen Frau im Jahr 1926 floh er 1930 aus der Sowjetunion und kehrte schließlich nach Wien zurück. Dort machte er sich die acht Sprachen, die er beherrschte, als Übersetzer zunutze und arbeitete als freiberuflicher Jornalist. Dank einer Warnung bezüglich seiner bevorstehenden Festnahme gelang es ihm im Juni 1938, nach Brünn zu entkommen. Seine älteste Tochter Gisella Nadja brach am selben Tag nach Palästina auf. In diesem schillernden Brief zeigt Hugo väterliche Sorge um Nadjas Wohlbefinden, diskutiert aber auch ausführlich die eigenen Nöte als Flüchtling und vergisst nicht zu berichten, dass der Sohn seines Cousins im Konzentrationslager Dachau interniert sei. Mit Genugtuung erwähnt er die Arbeit der von ihm so genannten „Liga“ (gemeint ist wohl die Hilfsstelle der Liga für Menschenrechte), die sich um die Flüchtlinge kümmerte und damit Hitlers teuflischen Plänen trotzte. Letztendlich jedoch käme es vor allem darauf an, für einen eigenen Staat zu kämpfen.

Brot für Fremde

Ein Geschäftsmann vom Rhein sieht die USA als Ort der Großzügigkeit

„Unsere Hauptsorge bleibt der Hausverkauf, das Geschäft können wir zweimal verkaufen, oder auch auflösen. Darüber brauchen wir uns also weniger Gedanken zu machen.“

Neuwied am Rhein/New York

Ohne viel Drama schildert der Kaufmann Isidor Nassauer, wohnhaft in Neuwied am Rhein, der befreundeten Familie Moser, die bereits in Amerika ist, seine Situation: Unaufgefordert hat ihm sein Schwager eine Bürgschaft geschickt, die wegen einer fehlenden Unterschrift nicht verwendbar war und zurückgeschickt werden musste. Während er auf das unterschriebene Dokument wartet, nimmt er Englischstunden. Obwohl er keine Ahnung hat, wovon er in Amerika leben soll, erfüllt ihn die Tatsache, dass dort schon „so viel Brot für Fremde gebacken“ wurde, mit Zuversicht. Ein Grund zur Sorge ist für ihn jedoch der Verkauf des Hauses, während es leicht zu sein scheint, das Geschäft (eine Bürstenfabrik) zu verkaufen oder zu liquidieren. In der Regel waren Juden gezwungen, ihren Besitz weit unter Wert zu verkaufen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Betty and Morris Moser Sammlung, AR 25497

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Doppelte Gefährdung

Als jüdischer Mensch mit Behinderung wurde Ursula Meseritz zum zweifachen Ziel der Nazipolitik.

„Die schöne Kehrseite in angeregter Unterhaltung. Hach, diese Sonne!“

Berlin

Als taubstumme Jüdin war Ursula Meseritz in den Augen der Nazis doppelt minderwertig: Seit dem 14. Juli 1933 galt das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das die Zwangssterilisierung von Menschen mit Behinderung sowie von Epileptikern legalisierte. Ursula hatte die einzige jüdische Schule für Gehörlose in Deutschland besucht, die „Israelitische Taubstummenanstalt“ in Berlin-Weißensee. Unter dem Naziregime wurde der Gebrauch von Zeichensprache in staatlichen Schulen verboten, und 1936 wurden jüdische Kinder aus Schulen ausgeschlossen, die gehörlose Kinder förderten. Laut einem „Fragebogen für Auswanderer“, den sie im April 1938 eringereicht hatte, war Ursula Laborantin für medizinische Diagnostik und hoffte, in Amerika in diesem Beruf tätig zu werden. Die Aufschriften auf diesen Fotos, datiert auf den 17. Juli 1938, zeigen, dass der Neunzehnjährigen ihr Sinn für Humor trotz der schwierigen Zeiten nicht abhanden gegangen war. Offenbar zeigen die Bilder Ursula mit ihrer Schwester und ihren Eltern, wie sie ein letztes Mal feiern vor der Abreise Ursulas in die USA.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Ursula Meseritz Elgart Familie Sammlung, AR 25544

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

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