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Die reine Wahrheit

Berufsverbot für Rechtsanwälte

„[...] ich muss immer wieder sagen, so sehr Ihr uns fehlt und so gross die Sehnsucht ist, so sind wir doch glücklich und zufrieden, dass es Euch so gut geht.“

Hamburg/Broadstairs, Kent

Julie Jonas in Hamburg und ihre Töchter Elisabeth und Margarethe hatten einander geschworen, wahrheitsgemäß über ihr seelisches Wohlbefinden Bericht zu erstatten. Fast täglich wurden Postkarten ausgetauscht. Seit wenigen Wochen waren beide Mädchen in England. Ihr Vater, der Rechtsanwalt Julius Jonas, hatte verschiedene NS-Gesetze, deren Ziel die Verdrängung von Juden und Regimegegnern aus juristischen Berufen war, überdauert. Doch mit Inkraften der „Fünften Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ am 30. November 1938 wurde er aus der Anwaltschaft ausgeschlossen. Der 15. Dezember war sein Geburtstag. Schon am Vortag hatte Julie Jonas den Kindern geschrieben, ihre Nerven seien „recht dünn“ geworden und es sei ihnen gar nicht nach Geburtstag zumute. Trotzdem bemühte sie sich tapfer, ihre Freude über das gute Befinden der Mädchen zu zeigen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Samlung Elizabeth Melamid, AR 25691

Original:

Archivbox1, Ordner 1

Undankbares Vaterland

Ein ehemaliger Frontsoldat verliert sein Geschäft

Hamburg

Alle sechs Söhne des Hamburger Fabrikanten S. Anker gehörten zu den 85.000 jüdischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg für Deutschland in die Schlacht zogen. Unter den 12,000 jüdischen Gefallenen waren 457 Hamburger, darunter Heinrich und Richard Anker. Otto Anker, geb. 1883, überlebte schwer verwundet. Nachdem 1933 die Nazis an die Macht gewählt worden waren, verließen seine Söhne das Land und versuchten, auch ihre Eltern dazu zu bewegen. Doch als Träger des Eisernen Kreuzes und mit einer Nichtjüdin verheiratet, fühlte sich Otto Anker sicher. Die Dankbarkeit des Vaterlands hielt sich jedoch in Grenzen: 1938 wurde Ankers Betrieb „arisiert“. Dieser am 6. Dezember abgestempelte Ausweis Otto Ankers ist mit einem nicht zu übersehenden „J“ versehen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Familie Anker, AR 5424

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

„Wir wandern aus.“

Ein neues Jahr, ein neuer Start

HAMBURG

Ob sich die Schwestern Helen und Eva Hesse irgendwann noch an das diesjährige Rosch Haschana erinnern würden können? Für ihre Eltern Wilhelm und Ruth Hesse jedenfalls war das Neujahrsfest 1938 eine Zäsur. Die Familie hatte die Entscheidung gefasst, aus Hamburg auszuwandern. Helen war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt, ihre kleine Schwester Eva gerade einmal zwei. Ihr Vater führte in dieser Zeit ein Tagebuch für seine beiden Töchter. Den Eintrag zu Rosch Haschana 5699 überschrieb er mit großen, gedruckten Lettern: „Wir wandern aus”, das „Motiv” des diesjährigen Neujahrsfestes, wie Wilhelm handschriftlich ergänzte. Seine Töchter sollten bis dahin allerdings möglichst sorgenfrei leben. Dass es ihren Eltern ganz anders ging, wird zum Ende des Tagesbucheintrages klar. Dort schrieb Wilhelm Hesse: „Später werden sie sich mal wundern, was ihre Eltern in diesen Zeiten alles ertragen mussten. Wir wandern aus.”

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Helen und Eva Hesse Familie, AR 25327

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Fluchtplanung mit touristischem Abstecher

Ein Reisebüro aus New York hilft Ursula Meseritz bei ihrer Reise in die USA

„Im Anschluss an ihren heutigen Besuch in unserem Bureau gestatten wir uns, Ihnen nachstehend Reiseplan und Abrechnung zu übersenden.“

New York

Als einziges Mitglied ihrer Familie hatte die 18jährige Ursula Meseritz Deutschland im Juli verlassen und sich auf der R.N.S. „Britannic“ von Le Havre aus nach New York eingeschifft. Adolf Floersheim, ein ehemaliger Nachbar, der seit 1937 in den Vereinigten Staaten ansässig war, hatte die Bürgschaft übernommen. Ihre Eltern, Olga und Fritz Meseritz, die die Ausreise in die Wege geleitet hatten, blieben in Hamburg zurück. Ein offenbar von deutsch-jüdischen Einwanderern geführtes Reisebüro, Plaut Travel auf der Madison Avenue in New York, hatte die Route für Ursulas Weiterreise an die Westküste – mit einem touristischen Abstecher in die Hauptstadt – ausgearbeitet und am 8. August an sie abgeschickt.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Ursula Meseritz Elgart Familie, AR 25544

Original:

Archivbox 1, Ordner 14

Keine Kraft zum Schreiben

Aus Kummer fällt es einem Vater schwer, seine Tagebucheinträge weiter zu führen

“Helen ist ein großes Mädchen geworden. Es wäre in den letzten Monaten mehr denn je zum Schreiben gewesen, aber die Zeiten sind so ernst, dass die Kraft und Muße zum Schreiben fehlt.”

Hamburg

Ruth und Wilhelm Hesse, in Hamburg ansässig, hatten zwei kleine Töchter, Helen (geb. 1933) und Eva (geb. 1936). Wilhelm führte Tagebücher für beide Mädchen. Zwischen den Einträgen vom 3. Mai und vom 2. August ist eine große Lücke. Eine kurze Notiz zu Helens Geburtstag am 30. Juni scheint später hinzugefügt worden zu sein. Wie Wilhelm schreibt, machte der Ernst der Zeit das Schreiben schwer. Die fünfjährige Helen, die sich seit Mitte Mai in einem Kinderheim in Wohldorf-Duvenstedt aufhielt, beklagte sich schon, sie bekäme keine Post von ihren Eltern. Während Wilhelm im Allgemeinen mit der Entwicklung seiner Tochter zufrieden ist, vergisst er nicht zu erwähnen, dass Helen und drei ihrer kleinen Freunde eine Tracht Prügel bekommen hätten, weil sie 20 unreife Pfirsiche von einem Baum gepflückt und sie angebissen hatten. Vielleicht verschaffte die selige Unwissenheit der Kinder dessen, was sich um sie herum zusammenbraute, und ihr unschuldiges Vergehen dem jungen Vater ein minimales Gefühl der Normalität.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Helen und Eva Hesse Familie, AR 25327

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Das Israelitische Krankenhaus in Hamburg

Trotz Untergrabung durch die Nazis läuft der Krankenhaus betrieb

„Zur freundlichen Erinnerung an gemeinsame Jahre im I.K.“

Hamburg

Auf diesem Bild ist die Fassade des Israelitischen Krankenhauses in Hamburg zu sehen. Das Foto gehört zu einem Album, dem eine Inschrift vom 29. Mai 1938 vorangestellt ist. Das Krankenhaus wurde von dem Kaufmann und Bankier Salomon Heine, auch bekannt als der „Rothschild von Hamburg“, im Andenken an seine Frau Betty gestiftet und 1843 in Betrieb genommen. Der Dichter Heinrich Heine, ein Neffe und Protégé Salomons, ehrte den Anlass mit seinem Gedicht „Das neue israelitische Hospital zu Hamburg“, in dem er es „Ein Hospital für arme, kranke Juden, Für Menschenkinder, welche dreifach elend, Behaftet mit den bösen drei Gebresten, Mit Armuth, Körperschmerz und Judenthume!“ nannte. Obwohl die Nazis die Finanzen des Hospitals seit 1933 untergruben, hatte es diesen Maßnahmen standgehalten und konnte im Mai 1938 noch immer seine Patienten versorgen.

Für und wider Abtreibung

Ärztegruppe des German Jewish Club lädt zu Vortrag ein

New York

Am 9. Mai lud die Ärztegruppe des German Jewish Club (ein informeller Zusammenschluss von Ärzten) in New York zu einem Vortrag zum Thema Abtreibung ein. Während der Weimarer Republik waren wiederholte Versuche gemacht worden, den Anti-Abtreibungsparagraphen (§218) abzuschaffen oder wenigstens abzuschwächen. Seine Gegner wiesen darauf hin, dass er die Arbeiterklasse unverhältnismäßig benachteilige, da Armut das Hauptmotiv für Abtreibungen darstelle. Ein Abgeordneter, der einen Zusammenschluss dreier Rechtsaußen-Parteien vertrat, darunter die NSDAP, schlug 1926 vor, Abtreibung nur bei Juden zu legalisieren. Unter dem Naziregime, das die Erzeugung „rassisch wertvollen“ Nachwuchses propagierte, war Abtreibung illegal – es sei denn, sie verhinderte die Geburt von Kindern, die als „unerwünscht“ betrachtet wurden. In den Vereinigten Staaten hatte die Wirtschaftskrise zu einer verstärkten Nachfrage nach Abtreibungen geführt, und bereits zu Beginn der dreißiger Jahre waren Hunderte von Abtreibungskliniken aus dem Boden geschossen. Armut und mangelnde Erreichbarkeit qualifizierter Ärzte führten of zu Verletzung oder Tod schwangerer Frauen durch selbst-induzierte Abgänge. Der Vortragende, Dr. Walter M. Fürst, war ein Neuankömmling aus Hamburg.

Segregation der Jüngsten

Hamburger Jurist berichtet von Entwicklungsschritten seiner kleinen Tochter

„Die Zeiten sind sehr ernst geworden. Wir sind bedrückt und verzagt, und deshalb ist auch wenig Muße und Lust vorhanden, so ausführlich wie bisher zu schreiben und zu photographieren“.

Hamburg

Obwohl er erklärt, aufgrund der ernsten Lage bedrückt und daher kaum in der Stimmung zu sein, so regelmäßig wie zuvor zu schreiben und zu fotografieren, beschreibt Wilhelm Hesse, ein Hamburger Jurist, in einem Tagebucheintrag vom 3. Mai in einigem Detail die Entwicklung seiner Tochter Helen: Er berichtet von ihrer Fähigkeit, logisch zu denken und einem dermaßen starken Drang zu lernen, dass die Eltern das Gefühl haben, sie zurückhalten zu müssen. Auch erzählt Hesse mit Befriedigung von Helens Fortschritten im Kindergarten, versäumt aber nicht zu erwähnen, dass sie lernen müsse, sich besser mit ihrer kleinen Schwester Evchen zu vertragen. Seit dem Erlass der Nürnberger Gesetze 1935 – Helen war zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre alt – durften jüdische Kinder nicht länger nicht-jüdische Kindergärten besuchen, und jüdischen Kindergärtnerinnen war es verboten, nicht-jüdische Kinder zu betreuen. Familie Hesse war religiös und hätte sich wohl auch unter normalen Umständen für eine jüdische Einrichtung entschieden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Helen und Eva Hesse Familie, AR 25327

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Fachkräfte wandern aus

Das Ärztepaar Brinitzer geht nach Indien

Bangalore

Jenny Brinitzer wurde 1884 in Riga, Lettland geboren. Nach Studien in Bern, Berlin und Kiel gelang es ihr, sich als erste Ärztin in Hamburg Altona niederzulassen. Dort praktizierte die Mutter dreier Kinder 20 Jahre lang in einer Gemeinschaftspraxis mit ihrem Mann, dem Dermatologen Dr. Eugen Brinitzer. 1933 machten Juden etwa ein Viertel der Hamburger Ärzteschaft aus. Jüdische Kassenärzte und Ärzte im öffentlichen Dienst wurden gleich in den ersten beiden Jahren des Naziregimes entlassen. Ab 1935 war eine Liste von etwas 150 jüdischen Ärzten in Hamburg im Umlauf, die im Zusammenhang mit den Bemühungen der Nationalsozialisten entstanden war, „arische“ Patienten von jüdischen Ärzten zu trennen. Im April 1938 verließen Dr. Jenny Brinitzer und ihr Mann Deutschland und wanderten nach Bangalore, Indien aus.

Ausdruckstanz

Jüdischer Kulturbund präsentiert Elsa Caro

Hamburg

Die Veranstaltung des Jüdischen Kulturbunds am 6. April war dem Tanz gewidmet: Elsa Caro, auch unter ihrem Künstlernamen Juana Manorska bekannt, benutzte anspruchsvolle Werke, die ursprünglich nicht als Tanzmusik gedacht waren, als Inspiration für ihre Darbietungen. Bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts war manchen das festgelegte, formelhafte Bewegungsrepertoire des klassischen Balletts einschränkend und überholt erschienen. Deutsche Tänzerinnen, unter ihnen die „Halbjüdin“ Gret Palucca, waren an der Spitze derer, die mit neuen Formen experimentierten, eine Bewegung, die den „Ausdruckstanz“ hervorbrachte, der auch als „expressionistischer Tanz“ oder „moderner Tanz“ bezeichnet wird. Auch Elsa Caro gehörte ihr an.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Jüdische Gemeinde Hamburg, AR 193

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Elternfreuden

Familienleben im Schatten des Naziregimes

„Helen wächst schnell, sieht gesund und frisch aus u. ist ein hübsches Mädchen. Sie ist geistig rege u. fängt schon an zu rechnen, schreiben u. lesen.“

Hamburg

Wilhelm Hesse war der Sohn eines orthodoxen Geschäftsmanns. Er lebte in Hamburg mit seiner Frau Ruth und seinen beiden kleinen Töchtern Helen und Eva, deren erste Lebensjahre er in eigens für die Kinder angelegten Tagebüchern festhielt. Zwischen den Einträgen finden sich Hinweise auf jüdische Feiertage und Fotografien der Kinder. Im hier abgebildeten Eintrag dokumentiert er stolz und detailliert die Fortschritte seiner Tochter Helen, die zum Zeitpunkt des Eintrags noch nicht fünf Jahre alt ist. Der promovierte Jurist Hesse war bereits im April 1933 aus dem Dienst entlassen worden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Helen und Eva Hesse Familie, AR 25327

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Liebeskummer

Ein Freund spendet Trost angesichts der drohenden Trennung von der Geliebten

„Ich sage es ist gut, wenn man sich lange nicht sieht, erst dann kann man erkennen, wie sehr oder wie wenig Menschen sich geändert haben.“

Hamburg/Meran

1938 war Familie Hirsch aus Hamburg bereits nach Italien ausgewandert. Angesichts der instabilen Situation in Europa hatten mehrere Familienmitglieder begonnen, nach Möglichkeiten der Emigration in die Vereinigten Staaten oder nach Südamerika Ausschau zu halten. Julius Hirsch hatte Elisabeth Schiff 1935 bei einem Besuch in Belgien kennengelernt und sich in sie verliebt. Familie Schiff hatte keine Pläne, Europa zu verlassen, und als Visen für El Salvador für Julius und andere Familienangehörige beschafft worden waren, muss ihn der Gedanke der Trennung von seiner Geliebten geschmerzt haben: In diesem Brief versichert ihm ein Freund aus Hamburg, eine vorübergehende Trennung sei keine schlimme Sache. Die Vereinigten Staaten verweigerten ihm das notwendige Transit-Visum, und Julius musste in Italien zurückbleiben. Schließlich kam er in England wieder mit seiner Elisabeth zusammen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Julius und Elisabeth Hirsch, AR 25585

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Wo Kraft und Freude fliessen

„Eine Stätte der Sammlung, der Erhebung und damit auch der Lebensbejahung und -freudigkeit“: Das neue jüdische Gemeinschaftshaus in Hamburg

„Wir sind verantwortlich für die Geister und Gemüter der Menschen, die nicht zertreten werden dürfen in den Nöten und Sorgen des Alltags, die nicht zermalmt werden dürfen von dem Kleinkrieg des Lebens, die nicht verloren gehen dürfen in trüber Luft und in unruhigem Treiben.“

Hamburg

In seiner Eröffnungsrede bei der Einweihungszeremonie für das neue jüdische Gemeinschaftszentrum in Hamburg beschreibt Max M. Warburg, Sohn einer berühmten Bankiersfamilie, die Herausforderungen, vor denen die Gemeinschaft steht und formuliert die Aufgabe des Gebäudes und seiner Leitung. Warburg, der das Theater nicht nur als Quelle von „Erhebung und Freude“ sondern auch von „moralischer Kraft“ versteht, erklärt, das Gemeinschaftshaus solle in erster Linie den Aufführungen der Musiker und Schauspieler des Jüdischen Kulturbunds eine Heimstätte bieten.

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