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Erpresste Auswanderung

Über Cuba in die Freiheit

„Sobald uns nähere Nachrichten über die Einreiseerlaubnis für Cuba vorliegen, werden wir Sie benachrichtigen.“

Schwandorf, Bayern

Die massenhafte Festnahme jüdischer Männer während der Novemberpogrome – etwa 30.000 wurden in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau inhaftiert – erfüllte ihren Zweck: sie diente der Erpressung zur Aufgabe des verbleibenden jüdischen Vermögens und zur Auswanderung. Unter den 10911 Juden, die allein in Dachau festgehalten worden waren, befanden sich Georg Friedmannn, Inhaber eines Modehauses in Schwandorf (Bayern), und sein Sohn Bruno. Lillian Friedmann verlor keine Zeit: schon im November, während Ehemann und Sonn noch inhaftiert waren, führte sie ein Beratungsgespräch im Reisebüro der Hamburg-Amerika-Linie in München, dem ein intensiver Briefwechsel folgte. Dank einer wohlhabenden Verwandten in New York (die in diesem Kontext erstmals von ihnen erfuhr), waren sie im Besitz einer Bürgschaft. Der Plan war, über Kuba nach New York zu reisen. Am 29. Dezember stellte die Hamburg-Amerika-Linie Frau Friedmann eine Quittung für die Überfahrt von Hamburg nach Havanna für ihren Sohn Bruno und ihre Schwiegermutter Amanda Friedmann aus.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung George und Lilian Friedman, AR 7223

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Geraubte Kunst

Nazis als Kunsträuber

Leipzig

In der Mitte des 16. Jahrhunderts begannen jüdische Pelzhändler, in Leipzig Handel zu treiben. Mehrere Hundert Jahre lang durften sich jüdische Händler nur zur Messezeit in der Stadt aufhalten, trugen aber dennoch maßgeblich zum Wohlstand der Stadt bei. Infolge der rechtlichen Gleichstellung der Juden im 19. Jahrhundert begannen jüdische Pelzhändler, sich in Leipzig niederzulassen, besonders auf dem Brühl. Mit der Zeit trugen Juden dazu bei, Leipzig zu einem Zentrum des internationalen Fellhandels zu machen. Nach 1933 flohen viele jüdische Pelzhändler in andere Zentren des Gewerbes im Ausland. Siegmund Fein, geboren in Leipzig im Jahr 1880, lebte 1938 noch immer in Leipzig. Die Qualen des Ehepaars Fein unter den Nazis kulminierte während der Novemberpogrome. Siegmund Fein wurde vom 11. bis zum 30. November im KZ Buchenwald festgehalten und schwer misshandelt. Nach seiner Freilassung wurde ihm angemessene ärztliche Fürsorge verweigert. Am 20. Dezember floh er nach Brüssel. Das hier gezeigte Gemälde Anselm Feuerbachs, „Mädchenkopf“, wie auch andere Kunstwerke aus dem Besitz des Ehepaars Fein, wurde von den Nazis konfisziert.

Auf Güte anderer angewiesen

Düstere Aussichten

„Wie uns bei all dem Bevorstehenden zumute ist, brauche ich Euch nicht zu schildern. Auflösung alles Bestehenden-der Familie, der Wohnung-das Verpflanzen in fremde, unbekannte Verhältnisse-überall auf Güte anderer angewiesen-Eltern und Kinder auseinandergerissen, ohne zu wissen, ob es ein Wiedersehen giebt [sic]-man hat kaum die Kraft, es im voraus auszudenken.“

Berlin/Buenos Aires

Als Ehefrau eines erfolgreichen Architekten hatte Anna Nachtlicht gesellschaftliches Prestige und Jahre des materiellen Wohlstands erlebt. 1932 jedoch zwang die Weltwirtschaftskrise das Ehepaar, seine Kunstsammlung zu versteigern, und 1933 verlor Leo seine Anstellung. Schließlich blieb dem Ehepaar keine andere Wahl als Zimmer zu vermieten. Die erwachsenen Töchter der Nachtlichts, Ursula (geb. 1909) and Ilse (geb. 1912), trugen zum Haushalt bei. Doch die Situation wurde unhaltbar. Wie Anna Nachtlicht am 17. Dezember an ihren Bruder Max in Argentinien schreibt, hatte die Familie „alle Ursache,“ nun auch noch mit dem Verlust der Wohnung in Berlin-Wilmersdorf zu rechnen. Während realistische Hoffnung darauf bestand, dass die Töchter in England Stellen bekommen würden, waren Anna und Leos Bemühungen, im Ausland Zuflucht zu finden, fast vollkommen erfolglos geblieben. Verwandte Leos in Frankreich hatten immerhin zugesagt, das Ehepaar vorübergehend unterzubringen, bis ein drittes Land ihnen ein dauerhaftes Zuhause anböte. Anna Nachtlicht bat offensichtlich nicht gern um Hilfe und beklagte die Abhängigkeit von anderen, doch die ständige Verschlechterung der Lage und dunkle Vorahnungen ließen ihr keine Wahl. Sie hatte gehört, Argentinien sei im Begriff, seine Einwanderungspolitik zu ändern und es möglich zu machen, Geschwister anzufordern. Mit unverhohlener Verzweiflung bittet sie ihren Bruder in Buenos Aires, sofort die Zusammenführung mit ihr zu beantragen und damit ihre Emigration zu ermöglichen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Familie Nachtlicht, AR 25031

Original:

Archivbox 1, Ordner 7

Endlich Zusagen

Ein junger Tagebuchschreiber dokumentiert die Zeit vor der Auswanderung

„Erst hatten wir sehnsüchtig auf eine Antwort gewartet, und jetzt kommen sie alle zusammen.“

Wien

Immer einmal wieder beschäftigt sich das Tagebuch des Wiener Jungen Harry Kranner-Fiss mit Themen, die einem Zwölfjährigen angemessen sind: Unfugtreiben in der Schule, Begeisterung über neue Kleider, ein „Erwachsenenhaarschnitt“, Spiele mit Freunden. Aber meist reflektieren Harrys eloquente Einträge das ausgeprägte Bewusstsein um die bedrohte Situation der Juden in Österreich 1938: sie befassen sich mit der Deportation eines Onkels ins Konzentrationslager Dachau, berichten von einer Tante, die aus ihrer Wohnung ausgesperrt und deren Wohnungsschlüssel konfisziert wurde, mit den Angst- und Sorgentränen seiner Mutter, mit Ausgangssperren, öffentlicher Demütigung und Gewalt. Kein Wunder, dass sein Stiefvater unablässig darum bemüht war, einen Weg zu finden, das Land zu verlassen. Verheißungsvolle Antworten ließen lange auf sich warten, doch am 7. Dezember, Tage nachdem die Familie das Versprechen einer Bürgschaft zur Einreise in die Vereinigten Staaten bekommen hatte, hielt Harry aufgeregt fest, auch aus Australien sei eine positive Antwort eingegangen. Laut einem früheren Tagebucheintrag hatte sein Stiefvater Anfang November bei der britischen Kommission für Australien, die sich gerade in Wien aufhielt, vorgesprochen, war aber auf eine Wartezeit von acht bis neun Monaten vorbereitet worden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, ordner 12

Undankbares Vaterland

Ein ehemaliger Frontsoldat verliert sein Geschäft

Hamburg

Alle sechs Söhne des Hamburger Fabrikanten S. Anker gehörten zu den 85.000 jüdischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg für Deutschland in die Schlacht zogen. Unter den 12,000 jüdischen Gefallenen waren 457 Hamburger, darunter Heinrich und Richard Anker. Otto Anker, geb. 1883, überlebte schwer verwundet. Nachdem 1933 die Nazis an die Macht gewählt worden waren, verließen seine Söhne das Land und versuchten, auch ihre Eltern dazu zu bewegen. Doch als Träger des Eisernen Kreuzes und mit einer Nichtjüdin verheiratet, fühlte sich Otto Anker sicher. Die Dankbarkeit des Vaterlands hielt sich jedoch in Grenzen: 1938 wurde Ankers Betrieb „arisiert“. Dieser am 6. Dezember abgestempelte Ausweis Otto Ankers ist mit einem nicht zu übersehenden „J“ versehen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Familie Anker, AR 5424

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Auswanderung als einziger Ausweg

Der Bericht des Joint Distribution Committee nach den Novemberpogromen

„Das Elend der Juden im Reich ist unbeschreiblich. Ihrer Unterhaltsquellen beraubt, aus ihren Wohnungen hinausgeworfen, nicht imstande, in arischen Geschäften einzukaufen, zu Tode verängstigt durch die jüngsten Ausschreitungen, von Festnahme und schwerer Arbeit in Konzentrationslagern bedroht, gibt es für sie keine andere Lösung als die Emigration.“

Berlin

Der Abgesandte des American Joint Distribution Committee, George Rooby, dessen Auftrag es war, nach den Novemberpogromen in Deutschland eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, reiste in mehrere Städte, um Eindrücke aus erster Hand zu sammeln. Die Ergebnisse waren zutiefst verstörend: Berlin, Nürnberg, Fürth, egal, wohin er ging, überall sah er niedergebrannte Synagogen, demolierte und geplünderte jüdische Geschäfte, entweihte Torahrollen und traf zu Tode erschrockene Juden an, deren Führerschaft Handlungsverbot hatte oder in Konzentrationslager gebracht worden war. Nicht-Juden, die halfen, setzten sich der Gefahr der Vergeltung durch die Nazis aus. Die fast vollständige Abwesenheit von Kleinkindern und Babys hatte man Rooby damit erklärt, dass seit dem Machtantritt der Nazis die jüdische Geburtenziffer erheblich zurückgegangen sei. Leiter jüdischer Gemeinden hatten ihm versichert, für unmittelbare Wohlfahrtsarbeit stünden genügend Mittel zur Verfügung. Denjenigen Organisationen hingegen, deren Ziel die Förderung der Auswanderung war, fehlte es erheblich an Geld. Allgemein herrschte die Hoffnung, die Reichsvertretung würde in Kürze ihre Tätigkeit wieder aufnehmen können und das ihre tun, um die Auswanderung zu beschleunigen. Diese, so Roobys Schlussfolgerung, sei die einzige Hoffnung, der Gewalt zu entkommen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung George Rooby, AR 6550

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Quälende Ungewissheit

Die Sorge um Angehörige in Deutschland

„Das Gefühl der Ungewissheit über Euer persönliches Wohl ist so gross und die Hilflosigkeit bei allem Einsatz so trostlos, dass ich wirklich nicht weiss, was ich schreiben soll.“

Cleveland, Ohio/Stolzenau

Nicht wenige Juden in Deutschland reagierten mit Verzweiflung, existentieller Angst und sogar mit Selbstmord auf die Ereignisse der Novemberpogrome. Aber auch für diejenigen, die es geschafft hatten, sich ins Ausland abzusetzen, war die Situation hochgradig bedrückend: von weitem mussten sie mitansehen, wie ihre Gotteshäuser in Flammen aufgingen, wie Juden zu Tausenden festgenommen und in Konzentrationslager gesperrt wurden, wie jüdischer Besitz gestohlen oder zerstört wurde. Am schlimmsten war jedoch die Ungewissheit um das Befinden geliebter Angehöriger und die Qual, ihnen nicht oder zu langsam helfen zu können. Einer der vielen Emigranten, die diese Gefühle artikulierten, war Erich Lippmann: in diesem Brief aus Ohio an seine Mutter und Großmutter in Niedersachsen beschreibt er das Gefühl der Hilflosigkeit, erwähnt aber auch Bemühungen, von offizieller Seite Unterstützung zu bekommen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Martha Lipman, AR 6355

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Die Zukunft von Menschheit und Kultur

Ein Aufruf zum Handeln in schlechten Zeiten

„Wenn jemals tapfere Herzen, klare Hirne und starke Fäuste nötig waren, dann heute, wo nicht weniger als die Zukunft von Menschheit und Kultur auf dem Spiele steht!“

New York

Niemand, der die November-Ausgabe des Aufbau las, konnte die fettgedruckte Botschaft auf der Titelseite verpassen: Unter der Überschrift „Die grosse Prüfung“ wird mit starken Worten das totale Versagen der „Staatsoberhäupter der sogenannten Demokratien“ angeprangert, die die Tschechoslowakei an Nazi-Deutschland geopfert haben. Jüdische Flüchtlinge sitzen in Böhmen im Niemandsland fest, in Deutschland verpassen die Nazis den Juden den „wirtschaftlichen Todesstreich,“ die Briten gefährden das zionistische Unternehmen und „wenig mehr als eine blasse Erinnerung“ ist von der Konferenz von Evian verblieben, die im Juli einberufen wurde, um das Problem der Neuansiedlung jüdischer Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland in Griff zu bekommen. Dies ist wahrlich „ein Zeitalter der vollkommenen Sündhaftigkeit.“ Werden die Bedrohten sich endlich aufraffen?

Kunst in Kisten

Die Erbin eines Kunstsammlers trifft Vorbereitungen zur Auswanderung

„Gegen die Ausreise der Spitzer, Hanna, Privatlehrerin habe ich keine Bedenken.“

Wien

Hätte die Geschichte Österreichs einen normalen Verlauf genommen, so wäre die Privatlehrerin Hanna Spitzer wohl in Wien geblieben und als geachtete Bürgerin dort alt geworden. Als Tochter des 1923 verstorbenen Juristen und Kunstförderers Dr. Alfred Spitzer war sie Miterbin einer bedeutenden Kunstsammlung, die Werke solcher Größen wie Kokoschka und Slevogt umfasste. Auch Egon Schiele war darin vertreten – u.a. mit einem Portrait Alfred Spitzers, der sein Rechtsanwalt und Förderer gewesen war und seinen Nachlass verwaltet hatte. Doch die Flut antisemitischer Maßnahmen, die durch den „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland losgetreten worden war, machte das Bleiben unerträglich und gefährlich: Diese Abschrift einer steuerlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung vom 24. November 1938 gibt Zeugnis von Hanna Spitzers Bemühungen, die Papiere zusammenzustellen, die für die Auswanderung benötigt wurden. Den Transport von 11 Kisten Umzugsgut, darunter Bilder, nach Melbourne und eine weitere Sendung an die Adresse ihrer Schwester Edith Naumann in Haifa hatte sie bereits im Januar in die Wege geleitet.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Hanna Spitzer, AR 25537

Original:

Archivbox 2, Ordner 2

Für ewige Zeiten

Das Ende einer schönen Illusion

Dresden

Unter den 1400 während der Novemberpogrome zerstörten Synagogen war auch die nach ihrem Architekten benannte Semper-Synagoge in Dresden. Äußerlich neo-romanisch, war das Gebäude im Innern im maurischen Stil gehalten – einer Bauart, die von zahlreichen anderen Architekten jüdischer Sakralbauten imitiert wurde. Als das Gebäude von SA und SS niedergebrannt wurde, waren seit seiner feierlichen Eröffnung im Jahr 1840 98 Jahre vergangen. Rabbi Zacharias Frankel hatte es “für ewige Zeiten” dem Dienst Gottes geweiht und war der Anerkennung voll, “welche Achtung vor religiöser Freiheit dieses Volk beseelt”.

Wo ist Paul Weiner?

Verstörende Nachrichten von den Verwandten

„Paul, der Ärmste, ist schon eine Woche im Konzentrationslager, wo, weiß Berta auch nicht, die Wohnung ist bis auf das Schlafzimmer total demoliert [...].“

Basel/New York

Willi Jonas und seine Frau Hilde führten ein Schuhgeschäft im ruhigen Basel. Voller Sorge um die Verwandten in Deutschland, schickte Willi Jonas seinen Schweizer Chauffeur, um die Lage zu erkunden. In einem Brief vom 18. November 1938 berichtet das Ehepaar ausgewanderten Freunden in Amerika von den Erlebnissen ihrer Angehörigen während und nach der Pogromnacht: Louis Jonas, ein Viehhändler in Waldbreitbach bei Neuwied, ist ohne materielle Verluste davongekommen. Nachdem er aber vier Tage im Gefängnis verbringen musste und nur deshalb freigelassen wurde, weil er über fünfzig ist, will er nichts mehr, als Deutschland zu verlassen. Die Nachrichten aus Worms sind noch beunruhigender: Paul Weiner ist in ein Konzentrationslager gebracht worden, und niemand hat es für nötig befunden, seine Frau Berta (geb. Jonas) wissen zu lassen, in welches. Die Wohnung des Paares wurde fast vollständig zerstört, ein Teil des Besitzes gestohlen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Betty und Morris Moser, AR 25497

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Source available in English

Zerstörte Pracht

Ein Gotteshaus geht in Flammen auf

Wiesbaden

Am 13. August 1869 war die Synagoge am Michelsberg in Wiesbaden feierlich ihrer Bestimmung zugeführt worden. Der Bau sollte den gewachsenen räumlichen Bedürfnissen der Gemeinde Rechnung tragen, gab aber auch Zeugnis von ihrem gemehrten Wohlstand und bürgerlichen Selbstbewusstsein. Im Beisein der Vertreter anderer Religionsgemeinschaften hatte Rabbiner Süskind das liberale Gotteshaus als „Pflanzstätte vaterländischer Tugenden“ bezeichnet, das nicht nur im Kreise der eigenen Glaubensbrüder, sondern „auch im weiteren Kreise der Menschheit“ seine einigende Kraft bewähren solle. — Von dem prächtigen Gebäude im maurisch-byzantinischen Stil war nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November nur die Außenwand stehengeblieben – im Innern war es völlig ausgebrannt.

Keine Spur von Onkel Arthur

Konzentrationslager als Kollektivstrafe

„Vorläufig wurden nur 2 Verordnungen verlautbart: die 1., dass bis Januar alle jüdischen Betriebe aufgelöst sein müssen. Die 2. war, dass den Juden einen Betrag von 1 Milliarde Reichsmark auferlegt wird. Brrrrrr!“

Wien

Harry Kranner war 12 Jahre alt, als die Nazis eine Welle anti-jüdischer Gewalt inszenierten, wie es sie in diesem Umfang und in solcher Intensität noch nie gegeben hatte – angeblich ein „spontaner Ausbruch des Volkszorns“ als Reaktion auf die Ermordung eines Angestellten der deutschen Botschaft in Paris durch einen jungen Juden. Harrys Tagebucheinträge zeigen jedoch, dass er sich des Geschehens um ihn herum sehr wohl bewusst war. Am frühen Morgen des 10. November, als die grausamen Ereignisse der Nacht von Deutschland nach Österreich hinüberzuschwappen begannen, waren zwei Gestapobeamte in die Wohnung der Familie in Wien gekommen – angeblich auf der Suche nach Waffen. Harry verstand, welches Glück er gehabt hatte, mit dem Schrecken davonzukommen: er hatte von Juden gehört, die in ihre Wohnungen ein- oder aus ihnen ausgesperrt worden waren. Aber eine große Sorge blieb: am 12. November gab es noch immer keine Spur von seinem Onkel Arthur, der mit Tausenden von anderen Juden festgenommen worden war. Aufgrund eines Radioberichts, dass alle Festgenommenen vom Westbahnhof aus in die Konzentrationslager Dachau und Mauthausen deportiert werden sollten, eilten Harrys Vater und Tante dorthin, doch ohne Erfolg. Inzwischen hieß es, man werde den Juden ein erhebliches Bußgeld auferlegen – für die Gewalt, der sie selbst zum Opfer gefallen waren.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Jahreschronik 1938

Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben

Ein in der Progromnacht zerstörtes Geschäft in Magdeburg im November 1938.

Die nationalsozialistische Regierung Deutschlands erlässt die “Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben”. Von nun an ist es Juden verboten, in Einzelhandel und Handelsagenturen zu arbeiten und ein Handwerk auszuüben. Darüber hinaus dürfen Juden keine Güter und Dienstleistungen mehr anbieten. Kurze Zeit später, am 3. Dezember 1938, werden Juden zum Verkauf ihrer Immobilien gezwungen und ihnen die Verfügung über ihre Ersparnisse entzogen.

Zur Jahreschronik 1938

Brandstiftung

Nazi-Bürokratie

„Eine Baugenehmigung für die Wiedererrichtung der Synagoge an derselben Stelle ist ausgeschlossen.“

Chemnitz

Während die jüdische Bevölkerung der Stadt versuchte, die brutale Gewalt zu verarbeiten, die sie zwei Tage zuvor erlebt hatte – die prächtige Synagoge war in der Pogromnacht in Brand gesteckt und zerstört und 170 Mitglieder der Gemeinde ins KZ Buchenwald deportiert worden – wurde der Vertreter der Gemeinde, der Kaufmann Josef Kahn, vom Bürgermeister der Stadt kontaktiert: mit unfassbarem Zynismus forderte er, die Ruinen der Synagoge, die in der Nacht vom 9. auf den 10.11. „in Brand geraten“ sei, seien innerhalb von drei Tagen zu entfernen. Falls der Anordnung nicht innerhalb des angegebenen Zeitrahmens Folge geleistet werde, werde das Baupolizeiamt die Räumung auf Kosten des Besitzers veranlassen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Chemnitz, Sammlung der Juedischen Gemeinde. AR 813

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Glück im Unglück

Totale Zerstörung und ein bisschen Glück

„Es ist bei uns nicht ein Stück ganz geblieben. Alles Geschirr kaputt, alles Essbare auf den Boden geschmissen, Mehl, Zucker etc., alles zerstreut, zum Teil noch zertrampelt, wie Kuchen etc., man kann sich das nicht vorstellen.“

Ludwigshafen/New York

Richard Neubauer hatte Glück: Als während der Novemberpogrome, in der Nacht vom 9. auf den 10. November, Nazi-Schläger den Besitz seiner Verwandten in Deutschland zerstörten, war er bereits in New York, in Sicherheit. In diesem Brief beschreibt ihm sein Bruder Fritz in lebendigen Einzelheiten die schreckliche Zerstörung, die über die Juden und ihren Besitz gekommen war und den Schrecken, den das brutale Vorgehen der Nazis hervorgerufen hatte. Die Brüder hatten von ihrem Onkel die Druckerei Neubauer in Ludwigshafen geerbt, die infolge der Zerstörung der freien Presse durch die Gleichschaltung unter den Nazis sämtliche Geschäfte eingebüßt hatte. Dank einer Reihe glücklicher Zufälle waren Fritz, seine Frau Ruth und ihre beiden Kinder im Besitz von Fahrkarten, mit denen sie legal in die Schweiz einreisen konnten. Ruth hatte sie aus den Trümmern ihrer Wohnungseinrichtung gerettet.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Otto Neubauer, AR 25339

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Jahreschronik 1938

Die Novemberpogrome

Die in Brand gesetzte Synagoge in Bamberg in der Nacht vom 9. auf den 10. November.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November kommt es in Deutschland, Österreich und dem Sudentenland zu gewaltsamen Übergriffen auf die dort leben den Juden. Die Pogrome sind staatlich sanktioniert. Mehr als 90 Juden werden in dieser Nacht getötet. 267 Synagogen werden in Brand gesteckt oder auf andere Weise zerstört, Geschäften, die von Juden geführt werden, werden die Fenster eingeworfen, Gemeindezentren und Privathäuser werden geplündert und zerstört. Nationalsozialistische Randalierer schänden jüdische Friedhöfe, Krankenhäuser und Schulen. Polizei und Feuerwehr schauen tatenlos zu. Die „Kristallnacht“ stellt einen doppelten Wendepunkt dar im ohnehin schon schicksalsträchtigen Jahr 1938: Die antijüdischen Diskriminierungen der Nazis kennen keine Grenzen mehr. Für viele Juden sind die November-Pogrome das letzte Warnsignal, die Flucht zu ergreifen.

Zur Jahreschronik 1938

Abschied im Schatten der Politik

In seinem Tagebuch beschäftigt sich Adolph Markus politischen Veränderungen und mit seinen Vorbereitungen zur Auswanderung

„Chamberlain und Daladier erklärten nach ihrer Rückkehr zu ihren Völkern, dass nun für lange Zeit gesichert ist und das mit Hitler vereinbart wurde, bei jeder eventuell noch kommenden Differenz wieder zu einer Konferenz zusammen zu treten.“

LINZ

Ende Oktober 1938 blickt Adolph Markus auf einen ereignisreichen Monat zurück: Nach der Münchener Konferenz, auf der Repräsentanten aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien beschlossen, die Tschechoslowakei habe ihre Grenzgebiete (Sudetenland) im Austausch für Frieden an Deutschland abzutreten, hatten deutsche Soldaten diese Gebiete besetzt, in der eine beträchtliche deutsche Minderheit von etwa 3 Millionen Menschen lebte. Wie Markus erklärt, hatte die Tschechoslowakei mit dem Sudetenland ihre Abwehrlinie verloren. Laut seinem Tagebucheintrag vom 31. Oktober wich die Erleichterung der Menschen in England und Frankreich über den verhinderten Krieg bald tiefem Misstrauen bezüglich Hitlers wahrer Absichten. Was seine persönlichen Angelegenheiten betrifft, so erwähnt der Verfasser einen Friseur-Lehrgang und Englisch-Unterricht, den er in Wien nimmt, offensichtlich in Vorbereitung auf die Auswanderung. In der Zwischenzeit war in Erwartung dessen, dass in Kürze alle Juden aus seiner Heimatstadt Linz ausgewiesen würden, die Hälfte des Inhalts seiner Wohnung verkauft worden.

Juden im Sudetenland Angriffen ausgesetzt

Angriffe auf Juden im Sudetenland nach dem Münchener Abkommen

„Der Plan zur Vertreibung Tausender Juden aus der Tschechoslowakei und die Einschränkung der wirtschaftlichen Tätigkeit der verbleibenden, skizziert durch den Minister ohne Geschäftsbereich Stanislav Bukovsky, wurde als Resolution des Ausschusses der Sokol-Vereine, der repräsentativen Körperschaft der tschechischen Jugendsportorganisation, in vollem Umfang verabschiedet.“

Prag

Bevor die Unterzeichner des Münchener Abkommens am 29. September 1938 verfügten, die Tschechoslowakei habe die überwiegend von Deutschen bewohnten Randgebiete, das Sudetenland, an Deutschland abzutreten, lebten dort zwischen 25,000 und 28,000 Juden. Gleich nach dem Einmarsch der Deutschen Anfang Oktober kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. Tausende wurden in die Flucht getrieben. Von den katastrophalen materiellen Folgen dieser Massenflucht berichtet die Jewish Telegraphic Agency am 25. Oktober: Der Verlust wurde auf mindestens 7 Milliarden Kronen in zurückgelassenen Gehältern und Besitz geschätzt. Um die Lage noch schlimmer zu machen, kam es seit München auch auf der tschechischen Seite zu offenem Antisemitismus – sowohl durch die Bevölkerung als auch von offizieller Seite.

Das Ende eines Familienbetriebes

Das Ende eines Familienbetriebs nach drei Generationen

„Pucki hat seine Tätigkeit in der Fabrik beendet. Ich folge in den nächsten Tagen nach. Mein Privatleben wird aber durch Kochen und Plätten zu Hause wohl auch ganz ausgefüllt sein.“

Neustadt, Oberschlesien/Brünn

Hans Joseph Pinkus‘ Urgroßvater hatte im 19. Jahrhundert in die Familie Fränkel in Neustadt, Oberschlesien, eingeheiratet. Mit vereinten Kräften betrieben die zwei Familien die Firma „S. Fränkel“, eine erfolgreiche Textilfabrik, die zu einem der größten Leinenproduzenten der Welt wurde. Unter gewöhnliche Umständen wäre Hans Joseph wohl den drei Generationen männlicher Vorfahren gefolgt und hätte die Geschicke der Firma gelenkt, aber er war erst 16 Jahre alt und im Internat, als diese „arisiert“ wurde: am 20. Oktober 1938 ließ ihn seine Stiefmutter Lili wissen, sein Vater stünde kurz davor, seinen Posten zu verlassen und sie würde es ihm in Kürze nachtun. Sie ließ nicht durchblicken, ob „Kochen und Plätten zu Hause“ eine attraktive Alternative für sie darstellte und behielt ihre Gefühle für sich.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung John Peters Pinkus Domuenten, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 16

Entweihung und Zerstörung

Die Mellrichstädter Synagoge wird geschändet

Abgesehen hatte es der Mob auf die jüdischen Gemeindemitglieder. Als diese nicht auftauchten, drangen die Menschen in die Synagoge ein und verwüsteten sie.

Mellrichstadt

In der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober wurde die Synagoge im unterfränkischen Mellrichstadt komplett verwüstet. Eigentlich hatte es die Menschenmenge auf die Gemeindemitglieder abgesehen: sudetendeutsche Flüchtlinge hatten die Menschen aufgehetzt, den Gottesdienstbesuchern auf dem Weg zur Synagoge aufzulauern. Die jüdische Gemeinde aber war rechtzeitig gewarnt und der Gottesdienst abgesagt worden. Nun stand der wütende Mob aus Sudetendeutschen und Mellrichsstädtern vor der Tür der Synagoge. Es flogen Steine, die Tür wurde aufgebrochen und das Inventar zerstört. Auch vor den Torahrollen und anderen Ritualgegenständen machte der Mob keinen Halt. Die Synagoge war nach dieser Nacht nicht mehr nutzbar.

Entfernt verwandt

FREITAG

„Ich appelliere an Ihre Menschlichkeit und Ihren Sinn für Blutsverwandtschaft, wenn ich mir die Freiheit nehme, Sie zu bitten, mir bei meiner Immigration in die Staaten zu helfen und mir die notwendige Bürgschaft auszustellen.“

Wien/New York

Es muss Überwindung gekostet haben: Eva Metzger-Hohenberg schrieb dem entfernten Verwandten, aber ihr eigentlich völlig unbekannten Leo Klauber in Manhattan einen flehenden Brief. Ihre Lage sei prekär, für Juden sei in Deutschland kein Platz mehr. Maria Metzger-Hohenberg appellierte an Leo Klaubers „Menschlichkeit“ und seinen „Sinn für Blutsverwandtschaft“ und bat ihn, ihr und ihrer Familie Bürgschaften auszustellen. Dieser Brief aus Wien zeigt nicht nur, welche verzweifelten Maßnahmen manche jüdische Familien ergreifen mussten, um ihre Auswanderung zu ermöglichen. Er zeichnet auch ein lebendiges Bild von der Situation, in der sich viele Juden im Herbst 1938 befanden. Marias Eltern und ihr Bruder hatten ihr Fleisch-Geschäft aufgeben müssen. Der Großhandel ihres Ehemanns, der mehr als 140 Mitarbeiter beschäftigte, wurde „arisiert“. Faktisch bedeutete dies, dass er weit unter Wert verkauft werden musste. Das Schicksal der Metzger-Hohenbergs steht exemplarisch für das unzähliger jüdischer Familien in dieser Zeit.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Laura und Leonard Yaffe Korrespondenze, AR 11921

Original:

Archivbox 2, Ordner 3

Source available in English

Paragraphen, Paragraphen

Vorherige mündliche und schriftliche Anfragen und Gesuche sind zwecklos.

Vorherige mündliche und schriftliche Anfragen und Gesuche sind zwecklos.

WIEN

Das Leben vieler Juden in Österreich war innerhalb eines halben Jahres aus den Angeln gehoben worden. Berufsverbote, Arisierung, Enteignungen oder der Entzug der Staatsbürgerschaft. Nach dem „Anschluss“ fanden sich viele österreichische Juden in unsicheren und chaotischen Zuständen wieder. Umso zynischer mag es vielen von ihnen erschienen sein, mit einer komplizierten, teils pedantischen Visums-Bürokratie konfrontiert zu werden. Ein Schreiben vom 27. September 1938 des amerikanischen Generalkonsulates an Tony (Antonie) und Kurt Frenkl verdeutlicht dies: Ihr Visums-Antrag könne frühestens in Monaten entgegengenommen werden. Die Quoten für mitteleuropäische Einwanderer seien erschöpft. Um auf eine Warteliste für Visen gesetzt zu werden, mussten die Antragsteller einen Vormerkbogen ausfüllen. Und um „Verzögerungen zu vermeiden“, solle jeweils pro Person eine Bürgschaft eingereicht werden. Tony und Kurt mussten also weiter warten – und sich auf die nächsten bürokratischen Hürden gefasst machen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Tony Frenkl, AR 11032

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Jahreschronik 1938

Berufsverbot für jüdische Rechtsanwälte

Diese antisemitische Karikatur zeigt einen jüdischen Anwalt der deutsche Bauern um Geld und Güter betrügt. Elvira Bauer, Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud auf seinem Eid (Nuremberg: Stürmer Verlag, 1936). Leo Baeck Institute.

Die berufliche und finanzielle Situation für jüdische Anwälte und Juden, die in anderen rechtlichen Berufen tätig waren, verschlechtert sich zusehends. Viele von ihnen sind gezwungen, ihre Anwaltskanzleien zu schliessen, da sich ihre Klienten abwenden oder, wenn sie jüdisch sind, fliehen. Zu Beginn des Jahres 1938 arbeiteten noch rund 1750 „nichtarische“ Rechtsgelehrte in Deutschland. Am 27. September verhängen die Nazis ein Berufsverbot für alle noch praktizierenden jüdischen Anwälte. Das Verbot tritt am 30. November in Kraft, in Österreich am 31. Dezember. Von nun an sind nur noch einige wenige jüdische Rechtsanwälte aktiv. Als sogenannte Konsulenten konnten sie – ausschliesslich jüdische – Klienten beraten und vertreten.

Zur Jahreschronik 1938

Verlassene Synagogen

Gleiwitzer Gemeinden spüren Folgen der Auswanderung

„Viele kleinere, zu unserem Verband gehörende Gemeinden sind völlig verwaist. Wie müssen uns mit ihrer Auflösung befassen. Ehrwürdige Gotteshäuser müssen ihrer Bestimmung entzogen und verkauft werden.“ [aus der Neujahresansprache des Synagogengemeindeverbandes für Oberschlesien]

GLIWICE

Zu Rosch Haschana wünschte sich Arthur Kochmann für den Synagogenverband für Oberschlesien zweierlei: Dass sich im neuen Jahr die Wünsche eines jeden Gemeindemitglieds erfüllen mögen, aber auch, dass die Juden in Oberschlesien „die innere Geschlossenheit jederzeit erhalten.“ Zwei Wünsche, die sich im Herbst 1938 leider oftmals widersprechen mussten. Die Zahl der Auswanderer aus Gleiwitz war in den vergangenen Monaten extrem gestiegen. Arthur Kochmann verweist auf die dramatischen Folgen für viele kleinere Synagogen in und um Gleiwitz: Viele müssten geschlossen und verkauft werden. Lange noch hatte ein Minderheitenschutz aus dem Jahr 1922 viele Juden in Gleiwitz vor offiziellen antisemitischen Gesetzen der Nazis geschützt, mit seinem Auslaufen 1937 aber war es mit der Gnadenfrist vorbei.

QUELLE

Institution:

The United States Holocaust Memorial Museum

Original:

Auf Deine Hilfe hoffe ich, Gott, in: Jüdisches Gemeindeblatt, vol. 3, no. 18, p. 1. Courtesy of USHMM

Falsche Großzügigkeit

Zwang zur Ausreise aus dem Burgenland

„Zweihundert jüdische Einwohner des Burgenlandes wurden ,eingeladen‘, Österreich unterstützt von einem Auswanderer-Schleuser-Projekt zu verlassen.“

Eisenstadt

„Kostenlos“ – Es mag wie ein generöses Angebot daherkommen, aber hinter dem „kostenlosen“ Angebot steckte eiskalte Kalkulation: Nach dem Willen der Nazis sollten alle noch verbliebenen Juden im österreichischen Burgenland die Region verlassen. Säuberung hieß das im Nazi-Jargon. Das Burgenland war die erste österreichische Region, in der man damit begonnen hatte, die jüdische Bevölkerung nach dem „Anschluss“ systematisch zu enteignen und zu vertreiben. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 12. September, dass von den 3.800 Juden, die zuvor im Burgenland gelebt hatten, 1.900 bereits vertrieben, 1.600 Personen vorübergehend nach Wien geflohen und 300 weitere noch in Ghettos im Burgenland selbst interniert seien. Das „Angebot“ der Schleuser-Gruppe wurde laut JTA finanziell von der Gestapo unterstützt – mit 100.000 Mark aus dem Besitz der zuvor enteigneten Juden in der Region.

Kündigung, weil Jude

Wohnprekariat trifft Juden in Wien

„Der Gekündigte ist Jude und kann den anderen Mietbewohnern [sic] ein Zusammenwohnen nicht länger zugemutet werden.“

WIEN

Bis 1938 lebten etwa 60.000 Juden im Wiener Bezirk Leopoldstadt, was ihr den Spitznamen „Mazzesinsel“ einbrachte. Zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Aufstieg des „Austrofaschismus“ 1934 hatte die sozialdemokratische Stadtregierung begonnen, Sozialwohnungen zu schaffen. Zur Zeit des Anschlusses herrschte in der Stadt ein massiver Wohnungsmangel. Die Nazis begannen, Juden aus Sozialwohnungen zu delogieren. Angesichts der Neigung der Polizei, Übergriffe auf jüdischen Besitz zu ignorieren, war es für antisemitische Vermieter leicht, diesem Beispiel zu folgen: Judesein genügte als Kündigungsgrund. Als der Hausbesitzer Ludwig Munz das Kündigungsformular für seine Mieter Georg und Hermine Topra ausfüllte, gab er gleich drei Gründe an: Angeblichen Eigenbedarf, Mietrückstand und Rücksicht auf die Nachbarn, denen ein Zusammenleben mit Juden nicht zugemutet werden könne.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Inv. Nr. 5171/2

Faschismus in Amerika?

Jüdische Einwanderer warnen vor der Zerbrechlichkeit der Demokratie

„Aus dem hier Dargelegten ergibt sich für uns jüdische Einwanderer, die wir den Faschismus am eigenen Leib erfahren haben, dass wir alle Kräfte anspannen müssen, um den Fortbestand der USA als eines demokratischen Staatswesens zu sichern. Auch hier sind einflussreiche Gruppen am Werk, die Errungenschaften der Demokratie zu untergraben.“

NEW YORK

In der August-Ausgabe des Aufbau bekam eine Gruppe nicht näher identifizierter junger Einwanderer Gelegenheit, zum Schutz und zur Aktivierung der Demokratie in den Vereinigten Staaten aufzurufen: Laut ihrer Auffassung waren es durch ungezügelte Aufrüstung entstandene Wirtschaftskrisen in den faschistisch regierten Ländern Europas, die diesen in ihren eigenen Augen die Legitimation zur Konfiszierung jüdischen Vermögens verschafften. Während die Gruppe die Großzügigkeit der Administration und ihre Bereitschaft zu sozialen Reformen zum Nutzen der vor dem Faschismus Geflohenen lobte, warnte sie vor den reaktionären Kräften, die diese Politik angriffen und ihren Versuchen, die Demokratie in den Vereinigten Staaten zu untergraben. Die Redaktionsleitung achtete darauf, sich von der Position der Gruppe hinsichtlich der Rolle der Wirtschaft in der Geschichte zu distanzieren, erklärte aber dennoch, ihr gern den Raum zu geben, vor der aus Einwanderern bestehenden Leserschaft der Zeitung ihre Bedenken auszubreiten.

Im Gedenken

Ludwig Schönmanns Goldene Jahre nehmen eine dunkle Wendung

„Trauer-Album dem Andenken meines teueren Vaters Ludwig Schönmann“

Wien

Ludwig Schönmann, der 1865 in Neu-Isenburg in Deutschland geboren wurde, war als junger Mensch nach Österreich gekommen, was ihm die ersten fünf Jahre des Hitlerismus ersparte. Doch von dem Tag an, als die Wehrmacht im März 1938 in Österreich einmarschierte, um das Nachbarland zu annektieren, war der über Siebzigjährige gezwungen, Ähnliches mitzuerleben, wie die Juden in Deutschland – nur in schnellerer Abfolge: Jüdische Geschäfte wurden zerstört und geplündert, ihre Besitzer enteignet, andere Juden öffentlich gedemütigt, Glaubensgenossen aus dem Burgenland vertrieben, wo sich die ersten Juden im 13. Jahrhundert niedergelassen hatten, jüdische Studenten und Dozenten wurden aus der Universität verdrängt, die berüchtigten Nürnberger Gesetze eingeführt, was zu der Entfernung der Juden aus dem öffentlichen Dienst führte, und anderes mehr. Die erste Seite eines Gedenkalbums zu Ludwig Schönmanns Ehren nennt den 24. Juli als seinen Todestag.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Sammlung:

Traueralbum für Ludwig Schönmann

Original:

Archiv. Inv. Nr. 1094

Brot für Fremde

Ein Geschäftsmann vom Rhein sieht die USA als Ort der Großzügigkeit

„Unsere Hauptsorge bleibt der Hausverkauf, das Geschäft können wir zweimal verkaufen, oder auch auflösen. Darüber brauchen wir uns also weniger Gedanken zu machen.“

Neuwied am Rhein/New York

Ohne viel Drama schildert der Kaufmann Isidor Nassauer, wohnhaft in Neuwied am Rhein, der befreundeten Familie Moser, die bereits in Amerika ist, seine Situation: Unaufgefordert hat ihm sein Schwager eine Bürgschaft geschickt, die wegen einer fehlenden Unterschrift nicht verwendbar war und zurückgeschickt werden musste. Während er auf das unterschriebene Dokument wartet, nimmt er Englischstunden. Obwohl er keine Ahnung hat, wovon er in Amerika leben soll, erfüllt ihn die Tatsache, dass dort schon „so viel Brot für Fremde gebacken“ wurde, mit Zuversicht. Ein Grund zur Sorge ist für ihn jedoch der Verkauf des Hauses, während es leicht zu sein scheint, das Geschäft (eine Bürstenfabrik) zu verkaufen oder zu liquidieren. In der Regel waren Juden gezwungen, ihren Besitz weit unter Wert zu verkaufen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Betty and Morris Moser Sammlung, AR 25497

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Papiere in Ordnung?

Die Unbedenklichkeitsbescheinigung eines Zehnjährigen

„Gegen die Ausreise des Hans Weichert, Gymnasiast (10 Jahre) [...] habe ich keine Bedenken.”

Wien

Juden, die sich der Schikane und physischen Gefahr unter den Nazis durch Auswanderung entziehen wollten, mussten eine große Anzahl von Dokumenten beschaffen, um sowohl die Nazi-Behörden als auch die Behörden im Zielland zu befriedigen. Um Erlaubnis zu erhalten, das Land zu verlassen, mussten die Antragsteller nachweisen, dass sie dem Reich keine Steuergelder schuldeten. Zusätzlich zu den Steuern, die allen Staatsangehörigen auferlegt waren, mussten zukünftige Auswanderer die sogenannte „Reichsfluchtsteuer“ zahlen. Das ursprüngliche Ziel dieser während der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre eingeführten Steuer war, ein weiteres Ausbluten der Kassen durch Verlust von Steuereinkünften zu verhindern. Unter den Nazis jedoch war das Hauptziel, Juden zu schikanieren und auszubluten. Die Steuerbehörden der Nazis leisteten gründliche Arbeit: als Familie Weichert aus Wien, bestehend aus dem Rechtsanwalt Joachim Weichert, seiner Frau Käthe und den Kindern Hans und Lilian, sich auf das Weggehen vorbereiteten, würde selbst für den zehnjährigen Sohn eine steuerliche Unbedenklichkeitserklärung ausgestellt. Die Gültigkeitsdauer betrug einen Monat. Alle Dokumente innerhalb der Gültigkeitsdauer bereit zu haben, wenn die eigene Quotennummer an die Reihe kam, war eine weitere Herausforderung, der sich die Auswanderungswilligen stellen mussten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Weichert Familie Sammlung, AR 25558

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Dass einem schwindelig wird

Ständig ändernde Bestimmungen zu Ausreise und Ausfuhr

„Ihr werdet sagen, warum ist das nicht schon geschehen, aber das liegt an der raschen Folge der Vorschriften & da ist so rasch die Auskunft nicht erhältlich.”

FRANKFURT AM MAIN/NEW YORK

Dieser Brief eines Vaters an seine Kinder wird fast ausschließlich dominiert von Sorgen bezüglich des Transfers von Personen und Gegenständen aus dem deutschen Staatsgebiet hinaus. Laut dem Schreiber änderten sich die Bestimmungen mit solcher Geschwindigkeit, dass es schwierig war, den Überblick zu behalten. Letztens war verfügt worden, dass sowohl für Umzugsgut als auch für Reisegepäck detaillierte, genehmigungspflichtige Listen einzureichen seien. Dies konnte recht zeitraubend sein. Der Schreiber des Briefes hatte das Gefühl, die Geschwindigkeit, mit der Antworten gegeben wurden hielte nicht Schritt mit der Geschwindigkeit der Veränderungen, die Erkundigungen erforderlich machten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Gerda Dittmann Sammlung, AR 10484

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Vogelfrei

Juden aus Burgendland vertrieben

„Man lernt hier, was wirklich wichtig ist im Leben. Den Leuten spielt auch Geld keine Rolle mehr, auch das ist unwichtig geworden.“

Eisenstadt

Die jüdische Gemeinde in Eisenstadt im österreichischen Burgenland war nie besonders groß gewesen, aber als älteste Gemeinde in der Gegend reichte sie bis ins 14. Jahrhundert zurück und hatte ein reiches kulturelles Leben. Im Augenblick der Annexion Österreichs an Deutschland am 12. März 1938 wurden Juden vogelfrei: Unter dem zutiefst rassistischen Gauleiter Tobias Portschy war das Burgenland der erste Teil Österreichs, der seine jüdische Bevölkerung vertrieb. Um ihren alten Eltern mit den Vorbereitungen zum Umzug zu helfen, hielt sich Hilde Schlesinger im Juni 1938 in Einsenstadt auf. In ihrem Geburtstagsbrief an ihre Tochter Elisabeth in Amerika bemerkt sie, diese sei „zu einem echten jüdischen Kind geworden, zu einem nicht sesshaften, zum Wandern immer bereiten“, im Gegensatz zu ihrer eigenen emotionalen Verbundenheit zu Eisenstadt, aus dem sie sich nun entwurzeln musste. Frau Schlesinger Schiff hofft, ihre Eltern werden bald die Einreisegenehmigung in die Tschechoslowakei erhalten, aber noch ist die bürokratische Seite nicht geklärt. Es ist offensichtlich, wie unangenehm sie die Erpichtheit der Nichtjuden auf Schnäppchen berührt, die sie als „Leichenraub“ bezeichnet, während Ihre Familie gezwungen ist, einen Großteil ihres Eigentums zu veräußern.

Von jetzt auf gleich

Nazis reißen die Münchner Hauptsynagoge ab

„Der Berichterstatter hat erfahren, dass die Nazis zur Entschädigung für die Synagoge, bei der es sich um wertvollen Grundbesitz handelt, eine geringe Summe zur Verteilung unter bedürftigen Münchner Juden angeboten haben.“

München

Angeblich aus verkehrstechnischen Gründen hatte die Stadt München die Israelitische Kultusgemeinde am 8. Juni davon in Kenntnis gesetzt, dass sie die prachtvolle, zentral gelegene Hauptsynagoge und das Grundstück, auf dem sie stand, für einen Bruchteil des tatsächlichen Werts zu verkaufen habe. Am 9. Juni begann der Abriss des Gebäudes, das kaum mehr als 50 Jahre lang als spirituelles und kulturelles Zentrum der jüdischen Gemeinschaft gedient hatte. Laut diesem Bericht der Jewish Telegraphic Agency vom 10. Juni hatte Kanzler Hitler persönlich den Befehl zur Entfernung des „Schandflecks“ erteilt. Rabbi Baerwald, der geistliche Führer der Gemeinde, hatte nicht mehr als einige Stunden früher Vorwarnung erhalten, um die heiligsten Gegenstände im Besitz der Gemeinde zu retten. Die noch nicht lange erworbene Orgel wurde an eine neu gebaute katholische Kirche weitergegeben. Die Wirkung des Abrisses des Gebäudes, einst ein Symbol von Beständigkeit, Stolz und Zugehörigkeit, auf die kollektive Psyche war verheerend.

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