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Wenigstens die Kinder

England erklärt sich zur Aufnahme von 10000 jüdischen Kindern bereit

„Der Regierungsentscheid wurde von Kolonialsekretär Malcolm MacDonald bekanntgegeben, der erklärte, jede Änderung der Einwanderungsrate nach Palästina würde die bevorstehenden britisch-arabisch-jüdischen Verhandlungen ,im Voraus beeinflussen‘“.

London

Selbst die völlige Schutzlosigkeit der deutschen Juden angesichts der Gewaltakte der Novemberpogrome führte nicht zu einer nennenswerten Anpassung der internationalen Flüchtlingspolitik. Die Jewish Agency for Palestine hatte daher von den Briten gefordert, 10,000 jüdischen Kindern aus Deutschland die sofortige Einreise nach Palästina zu gestatten. Wie die Jewish Telegraphic Agency am 14. Dezember berichtete, sah die britische Regierung als Mandatsmacht durch einen solchen Schritt ihren diplomatischen Balanceakt gegenüber den beteiligten Gruppen gefährdet und wies den Antrag ab. Sie erklärte sich jedoch bereit, die Kinder vorübergehend in England aufzunehmen.Viele jüdische Eltern waren zu der schmerzhaften Entscheidung bereit, ihre Sprößlinge allein ins Ausland zu schicken, um wenigstens ihnen die ständigen Anfeindungen und die physische Gefahr zu ersparen. Schon vor dem Vorstoß der Jewish Agency, im November, hatte die Regierung grünes Licht für die Einreise 5000 unbegleiteter Kinder unter 17 gegeben. Die erste Gruppe, 196 Kinder aus einem in der Pogromnacht zerstörten Waisenhaus in Berlin, war Anfang Dezember in Harwich an Land gegangen.

Widersprüchliche Botschaften

Die Nazi-Presseagentur verbreitet Fehlinformation

„Eine Untersuchung ergab, dass die Verlautbarung, die ankündigte, nach dem 1. Januar würden bestimmte Straßen, Hotels und Restaurants Juden wieder zugänglich sein und empört jede Andeutung zurückwies, das Reich beabsichtige die Einrichtung eines Ghettos, nur für den ausländischen Gebrauch veröffentlicht wurde.“

Berlin

Inzwischen war die Verbannung der Juden aus dem öffentlichen Raum weit fortgeschritten. Bereits 1933 waren jüdische Kulturschaffende aus dem staatlichen Kulturbetrieb entlassen worden. Seit dem 12.11. 1938 waren Juden auch als Publikum für „Darbietungen der deutschen Kultur“ nicht mehr zugelassen, wurden sie aus Konzertsälen, Opernhäusern, Kinos, Bibliotheken und Museen verbannt. Immer mehr Restaurants und Geschäfte verwehrten Juden den Zutritt. Am 12. Dezember 1938 wies die Jewish Telegraphic Agency auf eine auffallende Diskrepanz hin: Während das Deutsche Nachrichtenbüro, die zentrale, den Weisungen des Propagandaministeriums folgende Presseagentur des Reichs, im Ausland verbreitete habe, es sei ab dem 1. Januar 1939 mit der Lockerung gewisser anti-semitischer Maßnahmen zu rechnen, sei den Juden im Reich eher das Gegenteil kommuniziert worden. Aus einer Tatsache werde jedoch kein Hehl gemacht: das Ziel sei, sämtliche Juden zur Auswanderung zu veranlassen, „auch im Interesse der Juden selbst“, wie es das DNB formulierte.

Jahreschronik 1938

Aktion „Arbeitsscheu Reich”

Plakat des Reichsarbeitsdiensts, 1938.

Heinrich Himmler kündigt einen „einmaligen, umfassenden und überraschenden Zugriff“ auf die „Arbeitsscheuen” an. Arbeitsscheu waren demnach alle Männer im arbeitsfähigen Alter, die zweimal einen ihnen angebotenen Arbeitsplatz abgelehnt oder nach kurzer Zeit aufgegeben hatten. Mit der Durchführung dieser Aktion wird die Gestapo beauftragt, die die nötigen Informationen im Zusammenwirken mit den Arbeitsämtern besorgt. Vom 21. bis 30. April werden reichsweit zwischen 1500 und 2000 Männer als arbeitsscheu identifiziert und im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert. Ein Haftprüfungstermin ist erst binnen des zweiten Haftjahres vorgesehen.

Zur Jahreschronik 1938

Von der Wut zum Handeln

Der „Aufbau“ ruft zum Handeln auf

„Hass kann man nur überwinden, wenn man selbst sich über ihn hinaus zu positiver Leistung erhebt.“

New York

In Reaktion auf die Novemberpogrome, den bisher massivsten Ausbruch anti-jüdischer Gewalt in Deutschland, begnügt sich das Dezember-Editorial des Aufbau nicht mit Äußerungen des Schmerzes und der Trauer, sondern ruft kraftvoll dazu auf, der Brutalität der Nazis durch positives Handeln entgegenzutreten. „Die Antwort auf Barbarei ist schon immer Aufklärung gewesen“ – mit diesen Worten zitierte es den US-Erziehungsbeauftragten J.W. Studebaker, der überzeugter Demokrat war und die entscheidende Rolle öffentlicher Diskussion und politischer Bildung für das Funktionieren der Demokratie erfasste. Das Editorial versicherte der deutschen Judenheit, ganz Amerika sei vereint im Bemühen, „der Barbarei in Mitteleuropa Einhalt zu tun.“ Es befürwortete uneingeschränkt die Position der Regierung und benannte Bildung und Aufklärung als Mittel, diesen „schwersten aller Angriffe auf die menschliche Kultur“ abzuwehren.

Die Zukunft von Menschheit und Kultur

Ein Aufruf zum Handeln in schlechten Zeiten

„Wenn jemals tapfere Herzen, klare Hirne und starke Fäuste nötig waren, dann heute, wo nicht weniger als die Zukunft von Menschheit und Kultur auf dem Spiele steht!“

New York

Niemand, der die November-Ausgabe des Aufbau las, konnte die fettgedruckte Botschaft auf der Titelseite verpassen: Unter der Überschrift „Die grosse Prüfung“ wird mit starken Worten das totale Versagen der „Staatsoberhäupter der sogenannten Demokratien“ angeprangert, die die Tschechoslowakei an Nazi-Deutschland geopfert haben. Jüdische Flüchtlinge sitzen in Böhmen im Niemandsland fest, in Deutschland verpassen die Nazis den Juden den „wirtschaftlichen Todesstreich,“ die Briten gefährden das zionistische Unternehmen und „wenig mehr als eine blasse Erinnerung“ ist von der Konferenz von Evian verblieben, die im Juli einberufen wurde, um das Problem der Neuansiedlung jüdischer Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland in Griff zu bekommen. Dies ist wahrlich „ein Zeitalter der vollkommenen Sündhaftigkeit.“ Werden die Bedrohten sich endlich aufraffen?

Die Grenzen der Gastfreundschaft

Asyl für jüdische Kinder

Die Kinder werden dort untergebracht, bis die Vorbereitungen zu ihrer Unterbringung in Privathäusern und für ihre Schulbildung abgeschlossen sind.

London

Die Nachrichten über die brutalen Gewaltakte, die während der Novemberpogrome an deutschen und österreichischen Juden verübt worden waren, sandten Schockwellen durch jüdische Gemeinden. Mitte November ersuchte eine Gruppe jüdischer Führungspersonen die Regierung, jüdischen Kindern vorübergehendes Asyl zu gewähren, die später in ihre Länder zurückgeschickt werden sollten. Am 25. November berichtete die Jewish Telegraphic Agency von der bevorstehenden Eröffnung eines Lagers für 600 Flüchtlingskinder aus Deutschland an der Ostküste Englands. Die britische Abteilung des World Movement for the Care of German Children sollte Pflegefamilien für 5000 Kinder rekrutieren. Der Plan hatte die Einwilligung der Regierung – vorausgesetzt, die Kinder seien unter 17 und ihr Unterhalt werde nicht der Öffentlichkeit zur Last fallen.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Original:

91.13

No reprieve

The wave of violence continues

A new wave of arrests, accompanied by violence, has netted hundreds of Jewish victims in the last 48 hours in Frankfurt-am-Main and other provincial centers.

Berlin

Whoever had hoped that peace and quiet would return after the pogroms on and through the night of November 9th to 10th (later known as „Kristallnacht“ or „Night of Broken Glass“) had been mistaken. In its November 17th dispatch, the Jewish Telegraphic Agency gives account of a new wave of arrests and violence. The initial round of violence had been orchestrated to look like a spontaneous outburst of popular rage after the assassination of an employee at the German Embassy in Paris, Ernst vom Rath, at the hand of a 17-year-old Jew. The pogrom was followed by a series of legislative measures eliminating Jews from commercial life in Germany and forcing them to “restore the streetscape” after the arson attacks on synagogues and the destruction of Jewish businesses. Apparently, the diplomat’s funeral in Düsseldorf was now serving as a subterfuge for renewed violence. The US consulate in Berlin was flooded by Jews seeking asylum for fear of additional assaults—in vain, as the article states.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

“Hundreds Seized in New Wave of Arrests, Violence; 3,000 Jews Seek U.S. Protection”

Original:

Box 1, folder 9

Source available in English

Solidarität

Die öffentliche Meinung in Großbritannien ist einstimmig

„Die erste Lehre, die wir aus den Verfolgungen ziehen sollten", sagte Sir Archibald, „ist die dringende Notwendigkeit einer großzügigen Erfüllung britischer Verpflichtungen gegenüber den Juden in aller Welt und dem Völkerbund gemäß dem Palästina-Mandat.“

London

Nach Ansicht der Jewish Telegraphic Agency waren alle Teile der Öffentlichkeit in England vereint in ihrem Entsetzen über den Ausbruch anti-jüdischer Gewalt in Deutschland: Indem sie „Empörung und Ekel“ zum Ausdruck brachten und die jüngste anti-jüdische Gewalt in Deutschland als „Rückfall in die Barbarei“ und als „unmenschliche Raserei“ bezeichneten, verurteilten sie die von den Nazis inszenierten Pogrome. Manche, wie die Sunday Times und Sir Archibald Sinclair, der Führer der Liberalen Partei, nahmen die Geschehnisse zum Anlass, die Notwendigkeit einer nationalen Heimstätte für die Juden zu bekräftigen.

Mehr Moskitos als in Palästina

Texanische Gastfreundschaft erleichtert Flüchtlingen den Neubeginn

„Das zweite ist die kaum glaubliche Gastfreundschaft, die jedem in diesem Land entgegengebracht wird. Und dabei geschieht nichts mit besonderer Aufmachung, sondern die Leute lassen einen gleich in ihrem Hause mitleben, als ob man zur Familie gehörte. Und der Polizist oder die Verkäuferin - ganz gleich, wer es ist - alle sind gefällig, weil sie gar nicht anders können.“

Houston, Texas

Mit einer dokumentierten Anwesenheit, die bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht, und als zweitgrößte Gemeinde Deutschlands, waren die Frankfurter Juden ein zutiefst etablierter Teil der Gesellschaft. Doch unter den Nazis wurden sie, wie alle deutschen Juden, wie Fremde in ihrer eigenen Stadt und in ihrem eigenen Land behandelt, und viele verließen Deutschland. Die November-Ausgabe des „Jüdischen Gemeindeblatts für Frankfurt am Main“ zeigt die Allgegenwart des Themas „Emigration“: Zahlreiche Inserate boten Dienstleistungen und Ausrüstung speziell für Auswanderer. Der „Hilfsverein der Juden in Deutschland“ bot die letzten Neuigkeiten über die Auflagen zur Einwanderung in verschiedene Länder, aber auch eine Warnung, nicht Betrügern in die Falle zu gehen, die Auswanderungswilligen beträchtliche Summen für nutzlosen Rat abnahmen. Ein Beitrag fällt jedoch aus dem Rahmen. In einem Brief aus Houston, Texas, teilt eine frühere Frankfurterin ihre ersten Eindrücke mit: Die Hitze war eine Herausforderungen, Kartoffeln spielten auf der amerikanischen Speisekarte keine ausreichend große Rolle, Mücken und Mückengitter („more mosquitos than in Palestine“) und Plastikblumen, wie auch Riesenspinnen und fliegende Kakerlaken waren gewöhnungsbedürftig. Aber andererseits gab es auch Einbauschränke und große Betten, und, das Allerbeste, die „kaum glaubliche Gastfreundschaft“ der Einheimischen.

Protest durch den Stimmzettel

Gefährdete Demokratie

„Wir alle, die wir nur etwas vertraut sind mit der amerikanischen Tagespolitik, wissen, dass der von uns allen aufs höchst verehrte Präsident der Vereinigten Staaten nie auch nur daran denken würde, diese Gesetze in rein persönlichem Sinne auszulegen. Was gibt uns aber die Garantie, dass nicht einstmals ein Nachfolger sie so auslegen würde?“

New York

Die Tatsache, dass sie sich den Gefahren des Nazismus entzogen hatten, bedeutete nicht, dass es für die Einwanderer an der Zeit sei, unachtsam zu werden: Das Editorial der November-Ausgabe des Aufbau ermahnte die Neuankömmlinge, sich Kenntnisse über das Funktionieren der amerikanischen Politik anzueignen, um Entwicklungen zu verhindern, die denen glichen, durch die die gegenwärtige Regierung in Deutschland an die Macht gekommen war. Insbesondere warnt der Verfasser vor einer Beschneidung der Rechte mit „verfassungsmäßigen“ Mitteln. Der wirksamste Protest gegen Versuche, die Demokratie zu untergraben, bestehe im „Protest durch den Stimmzettel.“ Nur die Kandidaten, die für den wahren Amerikanismus, wie er ihn sah, stünden – für Frieden und Gerechtigkeit oder, mit anderen Worten, für Demokratie – verdienten, gewählt zu werden.

Juden im Sudetenland Angriffen ausgesetzt

Angriffe auf Juden im Sudetenland nach dem Münchener Abkommen

„Der Plan zur Vertreibung Tausender Juden aus der Tschechoslowakei und die Einschränkung der wirtschaftlichen Tätigkeit der verbleibenden, skizziert durch den Minister ohne Geschäftsbereich Stanislav Bukovsky, wurde als Resolution des Ausschusses der Sokol-Vereine, der repräsentativen Körperschaft der tschechischen Jugendsportorganisation, in vollem Umfang verabschiedet.“

Prag

Bevor die Unterzeichner des Münchener Abkommens am 29. September 1938 verfügten, die Tschechoslowakei habe die überwiegend von Deutschen bewohnten Randgebiete, das Sudetenland, an Deutschland abzutreten, lebten dort zwischen 25,000 und 28,000 Juden. Gleich nach dem Einmarsch der Deutschen Anfang Oktober kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. Tausende wurden in die Flucht getrieben. Von den katastrophalen materiellen Folgen dieser Massenflucht berichtet die Jewish Telegraphic Agency am 25. Oktober: Der Verlust wurde auf mindestens 7 Milliarden Kronen in zurückgelassenen Gehältern und Besitz geschätzt. Um die Lage noch schlimmer zu machen, kam es seit München auch auf der tschechischen Seite zu offenem Antisemitismus – sowohl durch die Bevölkerung als auch von offizieller Seite.

Gemeinsames Sommerlager fördert Integration

Das American Friends Service Committee fördert die Integration jüdischer Flüchtlinge

„Von besonderer pädagogischer Bedeutung war die kooperative Durchführung aller Gemeinschaftsarbeiten. Sämtliche Teilnehmer verrichteten alle Arten praktisch-hauswirtschaftlicher Tätigkeit und wurden im Garten- und Feldbau unterwiesen. Die hierbei erworbene Gewöhnung an körperliche Arbeit war nicht nur pädagogisch wichtig, sie war zugleich eine ausgezeichnete Körperschule und hat, neben intensiv betriebenem Schwimmsport, die gesundheitliche Verfassung der Menschen gestärkt.“

Hyde Park, New York

Zahlreiche jüdische Organisationen, wie die Hebrew Immigrant Aid Society, German Jewish Children’s Aid und das Boston Committee for Refugees widmeten sich der Rettung von Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland. 1938 war es eine nicht-jüdische Organisation, das American Friends Service Committee (Quäker), die sich ein besonders schönes Projekt einfallen ließ: von Mitte Juni bis Anfang September leitete es ein Sommerlager im Hudson-Tal für etwa 70 Personen, überwiegend jüdische Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland und etwa ein Drittel Amerikaner. Indem sie gemeinsam arbeiteten, lernten und sangen, Haushaltspflichten teilten, Vorträge und Gottesdienste besuchten, miteinander Sport trieben und Spiele spielten, wurde das gegenseitige Kennenlernen gefördert. Der Verfasser dieses Artikels ist voller Dankbarkeit für das Projekt, das er als „bemerkenswerten Beitrag zur inneren Integration unserer Menschen“ bezeichnet.

Schwindende Fluchtwege

Geschlossene Grenzen, Ausweisungen

„Premierminister Jan Syrovy hat den Antrag zurückgewiesen, den Regierungsentscheid, Flüchtlinge aus Österreich zu deportieren, zu lockern.“

Prag

Seit dem „Anschluss“ hatte die Tschechoslowakei ihre Politik gegenüber Flüchtlingen aus Österreich, insbesondere gegenüber jüdischen, enorm verschärft. Die offiziellen Grenzübergänge waren österreichischen Juden verschlossen – viele waren gezwungen, ihren Weg in die Tschechoslowakei auf gefährlichen Pfaden über die Grüne Grenze zu bestreiten. Auch internationale diplomatische Interventionen, wie die der Liga der Menschenrechte, über die die Jewish Telegraphic Agency am 13. Oktober 1938 berichtete, konnten die Tschechoslowakei nicht von ihrem restriktiven Kurs abbringen. Sir Neill Malcolm, der Flüchtlingskommissar der Liga, hatte den tschechoslowakischen Premierminister dazu aufgerufen, die Praxis der Abschiebung österreichischer Flüchtlinge zu überdenken. Ohne Erfolg.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

„Czechs Refuse to Relax Policy on Refugees“

Source available in English

Driven to suicide

Suicide of a democratically-minded editor-in-chief

.

PRAGUE

Since 1876, the Prager Tagblatt was known as a bastion of liberal- democratic positions. Over time, it acquired a staff of first-rate writers, including greats such as Franz Kafka, Max Brod, Kurt Tucholsky, Egon Erwin Kisch and Alfred Döblin – to name but a few. The paper was valued for its excellent reporting, its outstanding feuilleton and its unique style: even the political reporting was not devoid of humor. As a liberal-democratic paper with a predominantly Jewish staff, the Tagblatt had unequivocally positioned itself against the Nazi regime. Several of the roughly 20,000 political adversaries of the Nazis who had escaped to Czechoslovakia joined the ranks of the publication’s contributors. After the entry of the German Army to the Sudetenland in early October of 1938, the situation of German-speaking democrats came to a head in Czechoslovakia, too: according to this report from the Jewish Telegraphic Agency, dated October 11, the editor-in-chief of the Prager Tagblatt, Rudolf Thomas, and his wife committed suicide out of despair over the situation.

 

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

"Praha Jewish Editor Dies After Suicide Pact with Wife"

Original:

Box 3, folder 35

Antisemitismus auch in Italien

antisemitismus-auch-in-italien

„Die Ehe zwischen ,arischen‘ Italienern und Mitgliedern der hamitischen (nordafrikanischen), semitischen oder anderen ,nicht arischen‘ Rassen war verboten.“

Rom

Der faschistische Großrat Italiens – ein zentrales Organ des Mussolini-Regimes – veröffentlichte Anfang Oktober eine „Erklärung über die Rasse“, die an vielen Stellen an die Nürnberger Gesetze erinnert. Durch und durch antisemitisch, legte die Schrift zahlreiche Regelungen zur Ehe, zur italienischen Staatsbürgerschaft und zur Tätigkeit von Juden im italienischen Staatsdienst fest. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 9. Oktober, nur wenige Tage nach seiner Veröffentlichung, über das faschistische Regelwerk. Fortan sollten „Mischehen“ zwischen „arischen“ Italienern und „Mitgliedern der hamitischen (nordafrikanischen), semitischen oder anderen „nicht arischen“ Rassen“ verboten sein. Eine weitere Regel traf besonders auch diejenigen Juden hart, die aus Österreich und Deutschland nach Italien emigriert waren: Alle Juden, die sich nach 1919 in Italien niedergelassen hatten, sollten die italienische Staatsbürgerschaft verlieren und ausgewiesen werden.

 

 

“America First!”

Nach vorne schauen und nicht zurück

Aber Freiheit und Recht werden uns nicht geschenkt, wir haben auch hier für sie zu arbeiten und zu kämpfen!

New York

Das Editorial der Oktober-Ausgabe des Aufbau verfolgt ein klares Ziel: die Leserinnen und Leser daran zu erinnern, dass sie „nunmehr Amerikaner sind mit allen Rechten, aber auch mit allen Pflichten.“ Bindungen vornehmlich familiärer und kultureller Art werden anerkannt, gleichzeitig aber betont, wie wichtig es sei, den Blick in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit zu richten. „America First!“ lautete das Motto, das als Aufruf zur Integration der jüdischen Emigranten in die amerikanische Gesellschaft verstanden werden kann. Der Autor des Editorials liefert seinen Lesern dafür auch Argumente: Europa könne ihnen fundamentale Werte wie Freiheit und Recht nicht mehr garantieren. In den Vereinigten Staaten mit ihrer „Bill of Rights“ hingegen lohne es sich, für diese Werte einzustehen und zu kämpfen. Der Jewish Club als Herausgeber des Aufbau positionierte sich somit klar innerhalb der amerikanischen Gesellschaft – und erwartete diese Haltung auch von seinen Lesern und Mitgliedern.

Geschlossene Türen

Kanadas restriktive Einwanderungspolitik

Hilfe für die Opfer "politischer Verfolgung und grundloser Aggression" wird ein wichtiger Bestandteil der "Friedens-Aktionswoche" sein [...]

Ottawa

Ein wichtiges Ziel der von der Canadian League of Nations Society geplanten „Nationalen Friedens-Aktionswoche“ war, die kanadische Öffentlichkeit auf das Leiden verfolgter Juden aufmerksam machen. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 3. Oktober 1938 von dem Vorhaben, ein nationales Komittee aus jüdischen und anderen kanadischen Führungspersönlichkeiten zu gründen, das die Öffentlichkeit für die jüdische Flüchtilingskrise sensibilisieren und angemessene Maßnahmen von der Regierung verlangen sollte. Spätestens seit den Jahren der Weltwirtschaftskrise nämlich verfolgte Kanada eine restriktive Abschottungspolitik gegenüber Einwanderern, eine eigentliche Flüchtlingspolitik hatte das Land nicht. Allein dies machte es jüdischen Flüchtlingen schwer, nach Kanada einzuwandern. Hinzu kam ein weit verbreiteter Antisemitismus in der Bevölkerung.

 

Massenflucht

Über 20.000 Juden verlassen das Sudetenland

„Nur ungefähr 2.000 Juden von eigentlich einmal 22.000 sind in den Gebieten der Sudetendeutschen geblieben, die auch von der tschechischen Bevölkerung verlassen worden sind.“

München

Als am 29. September das sogenannte “Münchener Abkommen“ zwischen Hitler, dem britischen Premier Chamberlain, dem französischen Premier Daladier und dem italienischen Diktator Mussolini beschlossen wurde, waren über 20.000 Juden bereits aus dem Sudetenland geflohen. Das berichtete die Jewish Telegraphic Agency am Tag des Abkommens. Nach einem monatelangen Propagandafeldzug der Nazis und lauten Drohungen, die deutsche Wehrmacht werde in die Tschechoslowakei einziehen, musste vielen Juden schon vor Wochen klar geworden sein, dass sie keine Zukunft im Sudetenland haben würden. Mit dem Abkommen wurden die tschechischen Gebiete, in denen die deutsche Minderheit der Sudetendeutschen lebte, ans Deutsche Reich abgetreten. Die Tschechoslowakei saß in München nicht mit am Verhandlungstisch.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

“20,000 Jews Evacuate Sudeten Area”

Jahreschronik 1938

Das Münchner Abkommen

Viele jüdische Anwälte hatten Deutschland und Österreich bereits verlassen. Unter ihnen war Joachim Weichert aus Wien, der dort jahrzehntelang als Anwalt tätig gewesen war. Sammlung Familie Weichert, Leo Baeck Institute.

Germany, the United Kingdom, France, and Italy sign the Munich Agreement. In the absence of Czechoslovakia, which, like the Soviet Union, was not invited to the conference, the participating nations resolve that Czechoslovakia must cede the “Sudetenland” to the German Reich. The agreement calls for the evacuation of the narrow band of territory along Czechoslovakia’s northern, western, and southern borders within ten days. Two days after the agreement is signed, the Wehrmacht enters the Sudetenland. By allowing the conflict over the autonomy of ethnic Germans in Czechoslovakian borderlands to escalate into an international crisis, Hitler has succeeded in first isolating and then breaking up Czechoslovakia.

Zur Jahreschronik 1938

Verlassene Synagogen

Gleiwitzer Gemeinden spüren Folgen der Auswanderung

„Viele kleinere, zu unserem Verband gehörende Gemeinden sind völlig verwaist. Wie müssen uns mit ihrer Auflösung befassen. Ehrwürdige Gotteshäuser müssen ihrer Bestimmung entzogen und verkauft werden.“ [aus der Neujahresansprache des Synagogengemeindeverbandes für Oberschlesien]

GLIWICE

Zu Rosch Haschana wünschte sich Arthur Kochmann für den Synagogenverband für Oberschlesien zweierlei: Dass sich im neuen Jahr die Wünsche eines jeden Gemeindemitglieds erfüllen mögen, aber auch, dass die Juden in Oberschlesien „die innere Geschlossenheit jederzeit erhalten.“ Zwei Wünsche, die sich im Herbst 1938 leider oftmals widersprechen mussten. Die Zahl der Auswanderer aus Gleiwitz war in den vergangenen Monaten extrem gestiegen. Arthur Kochmann verweist auf die dramatischen Folgen für viele kleinere Synagogen in und um Gleiwitz: Viele müssten geschlossen und verkauft werden. Lange noch hatte ein Minderheitenschutz aus dem Jahr 1922 viele Juden in Gleiwitz vor offiziellen antisemitischen Gesetzen der Nazis geschützt, mit seinem Auslaufen 1937 aber war es mit der Gnadenfrist vorbei.

QUELLE

Institution:

The United States Holocaust Memorial Museum

Original:

Auf Deine Hilfe hoffe ich, Gott, in: Jüdisches Gemeindeblatt, vol. 3, no. 18, p. 1. Courtesy of USHMM

Schlechte Aussichten

Flüchtlinge in der Tschechoslowakei

„Keiner der Flüchtlinge darf natürlich arbeiten. Unter ihnen sind Geschäftsleute, Fachkräfte und Handwerker, von denen viele früher wohlhabend waren. Ohne materielle Rücklagen, oft abgeschnitten von Familie und Freunden, die sie zurücklassen mussten, vor sich eine unsichere Zukunft, wird diese Flüchtlingkolonie bald zu einem psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Problem.“

Brünn

Die Jewish Telegraphic Agency beschrieb die Situation österreichischer Flüchtlinge in der Tschechoslowakei mit Weitsicht: Ändere sich nichts an ihren prekären Umständen (Arbeitsverbot, Mittellosigkeit, fehlende Bleibe-Perspektiven…), würde die Situation schon bald „zum psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Problem“ werden. Die JTA ging davon aus, dass sich Mitte September 1938 mehr als 1.000 Flüchtlinge in der Tschechoslowakei aufhielten, die meisten von ihnen in Brünn, knapp 50 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Nun sah eine Polizeimaßnahme vor, für Personen, die bereits länger als zwei Monate in der Tschechoslowakei waren, eine Kaution von 2.000 tschechischen Kronen (70 Dollar) zu verlangen – sonst drohte ihnen eine Abschiebung. Wer das Geld auslegen sollte, war vollkommen unklar. Weder die jüdische Gemeinde Brünns noch die Liga der Menschenrechte hatten die Mittel dazu.

Falsche Großzügigkeit

Zwang zur Ausreise aus dem Burgenland

„Zweihundert jüdische Einwohner des Burgenlandes wurden ,eingeladen‘, Österreich unterstützt von einem Auswanderer-Schleuser-Projekt zu verlassen.“

Eisenstadt

„Kostenlos“ – Es mag wie ein generöses Angebot daherkommen, aber hinter dem „kostenlosen“ Angebot steckte eiskalte Kalkulation: Nach dem Willen der Nazis sollten alle noch verbliebenen Juden im österreichischen Burgenland die Region verlassen. Säuberung hieß das im Nazi-Jargon. Das Burgenland war die erste österreichische Region, in der man damit begonnen hatte, die jüdische Bevölkerung nach dem „Anschluss“ systematisch zu enteignen und zu vertreiben. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 12. September, dass von den 3.800 Juden, die zuvor im Burgenland gelebt hatten, 1.900 bereits vertrieben, 1.600 Personen vorübergehend nach Wien geflohen und 300 weitere noch in Ghettos im Burgenland selbst interniert seien. Das „Angebot“ der Schleuser-Gruppe wurde laut JTA finanziell von der Gestapo unterstützt – mit 100.000 Mark aus dem Besitz der zuvor enteigneten Juden in der Region.

Ratloser Völkerbund

550.000 weitere Flüchtlinge erwartet

„Weitere 550.000 Katholiken, Legitimisten und Nicht-Arier‘ werden gezwungen sein, das Großdeutsche Reich zu verlassen.“

Genf

Der Bericht des Völkerbundes war alarmierend. Sir Neill Malcom, der Hohe Kommissar für deutsche Flüchtlinge im Völkerbund, rechnete mit 550.000 weiteren Menschen, die in Kürze das Deutsche Reich würden verlassen müssen. Nicht-staatliche Flüchtlingsorganisationen seien bereits komplett überlastet. Was tun? Die Konferenz von Evian nur knapp zwei Monate zuvor war gescheitert. Große Aufnahmeländer wie etwa die USA hatten ihre Immigrations-Quoten nicht angepasst. Die JTA berichtete am 5. September über Sir Malcoms Vorschläge – und diese fielen angesichts der internationalen Lage karg aus: Länder, die Flüchtlingen bisher keine Arbeitserlaubnis gegeben hatten, wurden ermutigt, stärker zusamenzuarbeiten und den Menschen immerhin zu gestatten, sich eine geringe Summe für einen Neuanfang im Exil zu verdienen.

„Israel“ und „Sarah“

Wenn Namen politisch werden...

„Wäre das Motiv, dem jene Verordnung entsprungen ist, nicht so abgründig gemein – an ihrem Inhalt gibt es nichts zu tadeln: ,Israel‘ bedeutet ,Gottesstreiter‘ und ,Sarah‘ oder ,Sara‘ […] bedeutet ,Fürstin.‘“

NEW YORK

Im August 1938 war eine neue Verordnung erlassen worden: Juden, deren Namen laut Auffassung der Nazis nicht als „typisch jüdisch“ erkennbar waren, sollten zukünftig (spätestens ab dem 1. Januar 1939) einen zweiten Vornamen tragen: „Sara“ für Frauen, „Israel“ für Männer. Die September-Ausgabe des Aufbau brachte die Perfidität dieser Verordnung auf den Punkt: „Wäre das Motiv, dem jene Verordnung entsprungen ist, nicht so abgründig gemein – an ihrem Inhalt gibt es nichts zu tadeln: „Israel” bedeutet ‚Gottesstreiter‘ und „Sarah“ oder „Sara“ […] bedeutet ‚Fürstin‘.” Die Nazis bedienten sich somit nicht nur an Inhalten jüdischer Kultur, sie missbrauchten diese auch, um die Privatsphäre der Juden in Deutschland erneut auf massive Weise einzuschränken.

Ellis Levy, Anwalt der Einwanderer

New Yorker Jurist baut Bildungsbrücke für Flüchtlinge

„Ich glaube nun, dass ihre Zulassung zu den Colleges der Stadt New York nicht nur einen Akt der Güte darstellen, sondern gleichzeitig auch einen Schritt in der gebotenen Richtung bedeuten würde, den Leuten zu helfen, nützliche und gebildete Mitglieder unserer Demokratie zu werden.“

NEW YORK

Ellis Levy, ein jüdischer Jurist, der in New York lebte, beschloss, sich die Sache der Einwanderer zu eigen zu machen, die vor der Verfolgung durch die Nazis flohen. In einem Brief an Bürgermeister LaGuardia, der auszugsweise in der August-Ausgabe des „Aufbau“ veröffentlicht wurde, wies er darauf hin, dass viele der Neuankömmlige vollkommen mittellos ins Land kämen, in vielen Fällen, nachdem sie zum Abbruch ihres Studiums oder ihrer Berufsausbildung gezwungen worden seien. Kurz später sollte vor dem „Ausschuss für Höhere Bildung“ eine Gesetzesvorlage eingebracht werden, in der es um die Möglichkeit der Öffnung städtischer Colleges in New York für Nicht-Staatsbürger ging. Der Jurist bat Bürgermeister LaGuardia, seinen Einfluss auf den Ausschuss geltend zu machen, um eine positive Entscheidung zu bewirken. Dies, so argumentierte er, würde sowohl den Bedürfnissen der Einwanderer als auch dem Interesse der Demokratie in den Vereinigten Staaten entgegenkommen. Tatsächlich wurde beschlossen, mit Wirkung vom 1. September des laufenden Jahres ernsthaften Anwärtern auf US-Staatsbürgerschaft mit angemessener Vorbildung ein solches Studium zu ermöglichen.

Schrittweise Arisierung

Jüdische Ärzte sollen nun die Zulassung verlieren

„Die Anzahl der Juden, die von dieser neuen Verordnung betroffen sind, wird auf zwischen 6000 und 7000 geschätzt.”

Berlin

Der Anteil von Juden unter den deutschen Ärzten war so hoch, dass den Nazis anfänglich ein umfassendes Berufsverbot nicht opportun erschien. Einstweilen begnügten sie sich damit, durch die „Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen“ vom 22. April 1933 „nicht-arischen“ Ärzten die Zulassung zur Arbeit in Zusammenhang mit den gesetzlichen Krankenkassen zu entziehen. Ausnahmen waren möglich, wenn sie bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs praktiziert hatten oder beweisen konnten, dass sie selbst oder ihr Vater Frontkämpfer gewesen seien. Ab 1937 konnten Juden nicht länger den Doktortitel erwerben. In einer Nachricht vom 3. August weist die Jewish Telegraphic Agency auf die Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz hin, die einige Tage zuvor erlassen worden war und laut der jüdische Ärzte mit Gültigkeit vom 30. September ihre Zulassung verlieren würden.

Faschismus in Amerika?

Jüdische Einwanderer warnen vor der Zerbrechlichkeit der Demokratie

„Aus dem hier Dargelegten ergibt sich für uns jüdische Einwanderer, die wir den Faschismus am eigenen Leib erfahren haben, dass wir alle Kräfte anspannen müssen, um den Fortbestand der USA als eines demokratischen Staatswesens zu sichern. Auch hier sind einflussreiche Gruppen am Werk, die Errungenschaften der Demokratie zu untergraben.“

NEW YORK

In der August-Ausgabe des Aufbau bekam eine Gruppe nicht näher identifizierter junger Einwanderer Gelegenheit, zum Schutz und zur Aktivierung der Demokratie in den Vereinigten Staaten aufzurufen: Laut ihrer Auffassung waren es durch ungezügelte Aufrüstung entstandene Wirtschaftskrisen in den faschistisch regierten Ländern Europas, die diesen in ihren eigenen Augen die Legitimation zur Konfiszierung jüdischen Vermögens verschafften. Während die Gruppe die Großzügigkeit der Administration und ihre Bereitschaft zu sozialen Reformen zum Nutzen der vor dem Faschismus Geflohenen lobte, warnte sie vor den reaktionären Kräften, die diese Politik angriffen und ihren Versuchen, die Demokratie in den Vereinigten Staaten zu untergraben. Die Redaktionsleitung achtete darauf, sich von der Position der Gruppe hinsichtlich der Rolle der Wirtschaft in der Geschichte zu distanzieren, erklärte aber dennoch, ihr gern den Raum zu geben, vor der aus Einwanderern bestehenden Leserschaft der Zeitung ihre Bedenken auszubreiten.

Mit einem Anstrich der Legalität

Juden müssen nun Identifizierungskarten bei sich tragen

„Der Besitz der Karte ist Pflicht für jeden Juden und für jeden ,Arier‘ im militärpflichtigen Alter, aber freiwillig für alle anderen Arier.‘“

Berlin

Laut Erlass des Innenministers Frick am 22. Juli 1938 waren in Deutschland Kennkarten zur Verwendung im Inland eingeführt worden. Frick, von Hause aus Jurist, versah konsequent die anti-demokratischen, anti-jüdischen Maßnahmen des Regimes mit dem Anstrich der Legalität. Es kann daher keine große Überraschung gewesen sein, als bereits am 23. Juli geklärt wurde, was am Vortag vage belassen worden war („Der Reichsminister des Innern bestimmt, welche Gruppen von deutschen Staatsangehörigen und in welchem Umfang diese Gruppen dem Kennkartenzwang unterliegen.“): Abgesehen von nicht-jüdischen Männern in militärpflichtigem Alter waren es in erster Linie Juden aller Altersgruppen, die Kennkarten beantragen mussten. Der Zweck der Kennkarten war, Juden klar zu identifizieren und zu stigmatisieren und sie zusätzlich vom Rest der Bevölkerung zu trennen. In einer Mitteilung am 28. Juli berichtet die Jewish Telegraphic Agency über diese neueste juristische Untat.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

“Reich Jews from Age of 3 Months Must Carry Identity Cards”

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Die Abreise eines Gelehrten

Ismar Elbogen, ein großer Geschichtler des deutschen Judentums, verlässt sein Heimatland

„Professor Ismar Elbogen, ein bekannter jüdischer Gelehrter, bricht auf in die Vereinigten Staaten, um sich dort dauerhaft niederzulassen.“

BERLIN

Dank Jahrzehnten wissenschaftlicher Arbeit, besonders seiner grundlegenden Werke „Die Religionsanschauungen der Pharisäer“ (1904) und „Der Jüdische Gottesdienst in seiner Entwicklung“ (1913), war Prof. Ismar Elbogen international gut bekannt als er 1938 nach Jahren des Zögerns beschloss, auszuwandern. Seine Bemühungen als Vorsitzender des Erziehungsausschusses der Reichsvertretung der Juden in Deutschland waren durch das Regime erheblich behindert worden, und sein letztes in Deutschland veröffentlichtes Buch, „Die Geschichte der Juden in Deutschland“ (1935) war durch das Propagandaministerium massiv zensiert worden. In den zwanziger Jahren hatten ihm verschiedene Hochschulen in den Vereinigten Staaten (Jewish Institute of Religion, Hebrew Union College in Cincinnati; einen Ruf an die Columbia University hatte er abgelehnt) Lehraufträge erteilt, so dass er vielfältige Kontakte nach Übersee besaß, als die Zeit kam, Deutschland zu verlassen. In der heutigen Ausgabe informiert die Jewish Telegraphic Agency ihre Lehrer über die bevorstehende Abreise des Gelehrten.

Évian enttäuscht

Keine Zugeständnisse seitens der internationalen Gemeinschaft

„Wie immer sind wir Juden lediglich Objekte, nirgends gleichberechtigte Partner. Das festzustellen, ist am 34. Jahrzeittage Theodor Herzls besonders schmerzlich, aber die Tatsache, dass in Évian an 40 jüdische Organisationen als Zaungäste aufmarschiert waren, kennzeichnet zur Genüge, wie wenig auch wir Juden - sogar in den Fragen unserer eigenen Existenz als Volk - Fortschritte gemacht haben.“

Évian-les-Bains

Nach dem „Anschluss“ wurde das Problem der Flüchtlinge aus Deutschland noch dringender. Um das Thema in Angriff zu nehmen, rief US-Präsident Franklin D. Roosevelt zu einer internationalen Konferenz auf, die im Juli 1938 in Évian gehalten werden sollte. Die Konferenz wurde von der jüdischen Öffentlichkeit in Deutschland mit großen Hoffnungen erwartet, doch infolge der Weigerung der internationalen Gemeinschaft, die Einwanderungsquoten den tatsächlichen Bedürfnissen anzupassen, war der Effekt von Évian äußerst begrenzt. Dennoch versuchte das Jüdische Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen, positive Resultate zu präsentieren, indem es beispielsweise auf die Bereitschaft einiger südamerikanischer Länder hinwies, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Ungeachtet des spürbaren Versuchs, die Hoffnung nicht aufzugeben, zeugt der unterschwellige Ton dieses Leitartikels in der Ausgabe des Jüdischen Gemeindeblatts vom 23. Juli nicht von übermäßigem Optimismus.

Verhalten optimistisch

Reichsvertretung der Juden in Deutschland bewertet Évian-Konferenz

„Die Auswanderungspolitik der Reichsvertretung ist korrekt. Darüber hinaus macht die Stellungnahme deutlich, dass die Einrichtung eines internationalen Flüchtlingshilfswerks zu einer Zunahme und Beschleunigung der Auswanderung führen würde.“

Berlin

Laut Bericht der Jewish Telegraphic Agency an diesem Tag des Jahres 1938 veröffentlichte die Reichsvertretung der Juden in Deutschland fünf Tage nach Ende der Konferenz von Évian (6.-15. Juli) ihre erste Stellungnahme zu den Ergebnissen der Zusammenkunft in der Jüdischen Rundschau, dem Organ der zionistischen Bewegung. Die Organisation äußerte sich verhalten optimistisch. Sie prophezeite, das Internationale Flüchtlingskomitee, das während der Konferenz mit dem Ziel gegründet worden war, permanente Neuansiedlung voranzutreiben, werde positive Auswirkungen auf die Auswanderung haben.

Nichts geht mehr

Visa-Stopp am US-amerikanischen Konsulat in Berlin

Berlin

Am 19. Juli berichtet die Jewish Telegraphic Agency, dass das US-amerikanische Generalkonsulat in Berlin einen Annahmestopp für neue Visaanträge verhängt hat. Nach Angaben des Konsulats hatten sich zuletzt etwa 2000 Personen pro Monat für Visa beworben. Aufgrund der wachsenden Nachfrage entschloss sich das Konsulat nun dazu, zunächst die bereits anhängigen Anträge abzuarbeiten. Zwar gibt es eine Warteliste für neue Bewerber, die oft mühsam beschafften Bürgschaften und andere Dokumente, die sie sich bereits besorgt hatten, werden allerdings nicht mehr angenommen. All dies bedeutet, dass Juden, die ihre Ausreise aus Deutschland oder dem annektierten Österreich planen, in 1938 keine Chance mehr haben, sich um ein Visum zu bewerben. Es kann angenommen werden, dass die 60.000 bis 70.000 Bewerbungen, die am 19. Juli im Konsulat darauf warten, bearbeitet und beschieden zu werden, die jährliche Quote der USA von 27.370 Visas für Bewerber aus dem Deutschen Reich bereits bei Weitem überstieg.

Das Loew-Sanatorium

Jüdische Ärzte werden arbeitslos als das bekannte Sanatorium schließt

„Zahlreiche jüdische Ärzte in Wien haben durch die Schließung des berühmten Loew-Sanatoriums ihren Lebensunterhalt verloren.“

Wien

Bis zu seiner zwangsweisen Schließung, von der die Jewish Telegraphic Agency am 7. Juli 1938 berichtete, diente das Loew-Sanatorium als Privatkrankenhaus für Wohlhabende in Wien. Prominente jüdische und nicht-jüdische Patienten kamen hierher, um sich behandeln oder operieren zu lassen. Unter den vielen illustren Patienten der Einrichtung waren der Philosoph Ludwig Wittgenstein, der Komponist Gustav Mahler, der Maler Gustav Klimt und die Gesellschaftsdame und Komponistin Alma Mahler-Werfel. Der Bericht der JTA erwähnt insbesondere die jüdischen Ärzte, die infolge der Schließung des Krankenhauses ihre Anstellung verloren. Laut der von den Nazis aufgestellten Kriterien waren unter Wiens 4900 Ärzten nicht weniger als 3200 Juden und „Judenstämmlinge“, während etwa ein Drittel der Ärzte im ganzen Land jüdischer Abkunft waren.

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