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Keine Erholung für Juden in deutschen Badeorten

A refugee from Germany intervenes

„Die Verhaeltnisse liegen in diesem Falle besonders unguenstig, um nicht zu sagen, traurig. Ihre Eltern haben seit langer Zeit keine Beschaeftigung mehr, da sie, auf einer Nordsee-Insel lebend, zu den ersten Opfern der Nazibewegung gehoeren.“

Wangerooge

Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert war Feindseligkeit gegenüber Juden in deutschen Badeorten keine Seltenheit. Manche warben mit dem Prädikat „judenfrei“ für sich. In Nord- und Ostsee präsentierten sich ganze Inseln als antisemitisch. Einige hatten kleine jüdische Gemeinden. Auf den Stränden der Nordseeinsel Wangerooge waren bereits 1920 Hakenkreuzfahnen zu sehen, als diese gerade erst zum Symbol der Nazibewegung wurden. Nach dem Machtantritt der Nazis wurde die Situation der Juden auf der Insel noch schwieriger. Am 22. Dezember 1938 wandte sich Fritz Jacoby, selbst Nutznießer der Arbeit des Boston Committee for Refugees und ein Neuankömmling in den Vereinigten Staaten, an Willy Nordwind, den stellvertretenden Vorsitzenden: alle männlichen Verwandten der 24jährigen Wangeroogerin Marga Levy seien seit der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November („Kristallnacht“) inhaftiert und sie habe weder Geld, noch die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Daher bittet der dankbare Herr Jacoby das Kommittee inständig, eine „Hausangestellten-Bürgschaft“ für die junge Frau zu besorgen, die ihr ermöglichen würde, „Tag und Nacht“ zu arbeiten, „um ihre Eltern zu ernähren“.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 15

Geld entscheidet über alles oder nichts

Die Rettung hängt vom Geld ab

„Sie werden natürlich einsehen, dass wir Sie nicht finanziell unterstützen können. Mein letzter Brief wird Ihnen vielmehr verdeutlicht haben, wie dringend unser Bedarf an Mitteln für Hilfe vor Ort ist.“

Nairobi/Rongai

Die Antwort des Sekretärs des Kenya Jewish Refugee Committee, Israel Somen, auf Paul Egon Cahns Bitte um Hilfe war einigermaßen reserviert: der junge Mann wollte dringend seine Eltern aus Köln nachholen, aber es fehlten ihm die £100, die zum Erwerb von Einreisegenehmigungen an das britische Kolonialamt in Mombasa zu entrichten waren. Die Finanzlage des Committee war bis aufs äußerste gespannt, so dass Somen dem jungen Mann nur raten konnte, bei der Einwanderungsbehörde in Nairobi einen ordnungsgemäßen Antrag einzureichen. Dieser hätte er zu beweisen, dass er in der Lage sei, für den Unterhalt seiner Eltern aufzukommen und dass er die Gebühr für die Genehmigungen entrichtet habe. Dann sei es immerhin möglich, dass die Behörde seinem Gesuch stattgeben würde, gesetzt den Fall, das Refugee Committee würde eine finanzielle Bürgschaft übernehmen. Auch dies, betonte Somen, sei von Paul Egon Cahns Fähigkeit abhängig, zu beweisen, dass die Eltern weder dem Committee noch der Lokalverwaltung finanziell zur Last fallen würden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Egon Cahn, AR 25431

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Auswanderung als einziger Ausweg

Der Bericht des Joint Distribution Committee nach den Novemberpogromen

„Das Elend der Juden im Reich ist unbeschreiblich. Ihrer Unterhaltsquellen beraubt, aus ihren Wohnungen hinausgeworfen, nicht imstande, in arischen Geschäften einzukaufen, zu Tode verängstigt durch die jüngsten Ausschreitungen, von Festnahme und schwerer Arbeit in Konzentrationslagern bedroht, gibt es für sie keine andere Lösung als die Emigration.“

Berlin

Der Abgesandte des American Joint Distribution Committee, George Rooby, dessen Auftrag es war, nach den Novemberpogromen in Deutschland eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, reiste in mehrere Städte, um Eindrücke aus erster Hand zu sammeln. Die Ergebnisse waren zutiefst verstörend: Berlin, Nürnberg, Fürth, egal, wohin er ging, überall sah er niedergebrannte Synagogen, demolierte und geplünderte jüdische Geschäfte, entweihte Torahrollen und traf zu Tode erschrockene Juden an, deren Führerschaft Handlungsverbot hatte oder in Konzentrationslager gebracht worden war. Nicht-Juden, die halfen, setzten sich der Gefahr der Vergeltung durch die Nazis aus. Die fast vollständige Abwesenheit von Kleinkindern und Babys hatte man Rooby damit erklärt, dass seit dem Machtantritt der Nazis die jüdische Geburtenziffer erheblich zurückgegangen sei. Leiter jüdischer Gemeinden hatten ihm versichert, für unmittelbare Wohlfahrtsarbeit stünden genügend Mittel zur Verfügung. Denjenigen Organisationen hingegen, deren Ziel die Förderung der Auswanderung war, fehlte es erheblich an Geld. Allgemein herrschte die Hoffnung, die Reichsvertretung würde in Kürze ihre Tätigkeit wieder aufnehmen können und das ihre tun, um die Auswanderung zu beschleunigen. Diese, so Roobys Schlussfolgerung, sei die einzige Hoffnung, der Gewalt zu entkommen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung George Rooby, AR 6550

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Die einzige Hoffnung

Afrika als Zufluchtsort

„Die einzige Hoffnung meiner Eltern, hinauszukommen, bin ich.“

Rongai/Nairobi

1903, infolge des Pogroms von Kischinew, erklärte sich die britische Regierung bereit, im damaligen “Protektorat Ostafrika,” dem heutigen Kenya, die Ansiedlung europäischer Juden zu gestatten. Aufgrund massiver Opposition innerhalb der zionistischen Bewegung kam es nicht zu einer Realisierung des Plans, der unter dem irreführenden Namen „Uganda-Plan“ bekannt ist. 35 Jahre später fand sich Paul Egon Cahn, der zuletzt in Köln gelebt hatte, in Rongai (Kenya) wieder. Nach den Novemberpogromen begann der 20jährige Kfz-Mechaniker, zu versuchen, auch seine Eltern aus Deutschland herauszubringen. Während sich europäische Siedler und Angehörige der lokalen indisch-stämmigen Bevölkerung der Einwanderung jüdischer Flüchtlinge entgegenstellten, erwies sich das “Kenya Jewish Refugee Committee”, das seine Einwanderung ermöglicht hatte, als hilfreich. So wandte sich der junge Mann an den Sekretär des Komitees, Israel Somen, um Hilfe: er brauchte dringendst die £100, die das britische Kolonialamt für zwei Einreisegenehmigungen berechnete.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Egon Cahn, AR 25431

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Hilfe unter Freunden

Ein alter Freund in Not

„Beim hiesigen amerikanischen Konsulat anzukommen ist praktisch unmöglich, da überhaupt keine Auskunft gegeben wird und man dazu nicht erst mehrere Stunden auf einem kalten Hof stehen und warten muss.“

BERLIN/BOSTON

Willy Nordwind, der stellvertretende Vorsitzende des Boston Committee for Refugees, bemühte sich unermüdlich, Juden vor dem Zugriff der Nazis zu retten, indem er ihnen half, in die Vereinigten Staaten einzuwandern. Selbst aus Deutschland eingewandert und mit den Vorschriften bestens vertraut, half er, Bürgschaften zu beschaffen und dafür zu sorgen, dass Neuankömmlinge mit so verschiedenartigen Fachgebieten wie Tabak- und Kleider-Einzelhandel, Ein- und Verkauf von Strickwaren und Fisch-Großhandel in Amerika Anstellung fanden. Die meisten dieser Menschen waren ihm vollkommen fremd, doch manche der Hilfsempfänger waren persönliche Bekannte: Am 28.11. beschwört ihn sein Freund Seppel, eine besondere Lösung für ihn zu finden, um die Angelegenheit zu beschleunigen. Seit der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November war die Anzahl der Visumsanträge scharf gestiegen, und die gewöhnliche Wartezeit auf die Bearbeitung von Bürgschaften war viel zu lang.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 24

Die Grenzen der Gastfreundschaft

Asyl für jüdische Kinder

Die Kinder werden dort untergebracht, bis die Vorbereitungen zu ihrer Unterbringung in Privathäusern und für ihre Schulbildung abgeschlossen sind.

London

Die Nachrichten über die brutalen Gewaltakte, die während der Novemberpogrome an deutschen und österreichischen Juden verübt worden waren, sandten Schockwellen durch jüdische Gemeinden. Mitte November ersuchte eine Gruppe jüdischer Führungspersonen die Regierung, jüdischen Kindern vorübergehendes Asyl zu gewähren, die später in ihre Länder zurückgeschickt werden sollten. Am 25. November berichtete die Jewish Telegraphic Agency von der bevorstehenden Eröffnung eines Lagers für 600 Flüchtlingskinder aus Deutschland an der Ostküste Englands. Die britische Abteilung des World Movement for the Care of German Children sollte Pflegefamilien für 5000 Kinder rekrutieren. Der Plan hatte die Einwilligung der Regierung – vorausgesetzt, die Kinder seien unter 17 und ihr Unterhalt werde nicht der Öffentlichkeit zur Last fallen.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Original:

91.13

Vertrauen auf Fremde setzen

Der Hilfsverein nimmt seine Verantwortung ernst

Ein Mann, der so freundlich ist, Bürgschaften auszustellen, würde diese Menschen sicher nicht ausnutzen..

New York/Boston

Konnte man Willy Nordwind vom Boston Committee for Refugees – einer Organisation, die sich nicht schwerpunktmäßig um unbegleitet einwandernde Kinder kümmerte – das Wohlergehen einer Sechzehnjährigen anvertrauen? Der Hilfsverein der Juden in Deutschland war nicht bereit, Risiken einzugehen: Anstatt Frieda Diamont einfach auf die Reise zu schicken, wandte sich die Organisation an das National Council of Jewish Women in New York, um sich zu vergewissern, ob auf Herrn Nordwinds Integrität Verlass sei. Merle Henoch vom Council gab den Fall an Jewish Family Welfare in Boston weiter, wo auch Nordwind seinen Standort hatte. Für sie stand es außer Zweifel: Ein so großzügiger Helfer wie Willy Nordwind musste ein vertrauenswürdiger Verbündeter sein.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 8

Source available in English

Solidarität

Jüdische und christliche Organisationen unterstützen Flüchtlinge in Brasilien

„Lieber Bernhard und liebe Anni, lasst doch bitte auch gar nicht[s] unversucht. Nur an Euch hängen wir doch unsere einzige Hoffnung zum Leben.“

Gemen/Porto Alegre

Obwohl das Klima unter dem Vargas-Regime in Brasilien zunehmend anti-jüdisch wurde, konnten Flüchtlinge auf die Unterstützung von Verbündeten zählen: bereits 1933 war in Sao Paulo eine Hilfsorganisation für deutsch-jüdische Flüchtlinge ins Leben gerufen worden, und in Porto Alegre, wohin Bernhard und Anni Wolf aus Ostfriesland vor kurzem geflohen waren, hatten Flüchtlinge 1936 einen Kultur- und Wohlfahrtsverein gegründet. Die Haltung der katholischen Kirche war nicht eindeutig; nichtsdestotrotz leistete auch ein katholische Hilfskomitee für Flüchtlinge den neu ins Land Gekommenen bedeutende Hilfe. Nach einem erfolglosen Versuch beim Konsulat in Köln, ihre Einreise nach Brasilien in die Wege zu leiten, setzten Bernhards Bruder Richard und seine Frau Jola nun alle Hoffnung in ihre Verwandten in Brasilien.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Bernhard Wolff Familie, AR 5482

Original:

Archivbox 1, Ordner 9

Mehr Moskitos als in Palästina

Texanische Gastfreundschaft erleichtert Flüchtlingen den Neubeginn

„Das zweite ist die kaum glaubliche Gastfreundschaft, die jedem in diesem Land entgegengebracht wird. Und dabei geschieht nichts mit besonderer Aufmachung, sondern die Leute lassen einen gleich in ihrem Hause mitleben, als ob man zur Familie gehörte. Und der Polizist oder die Verkäuferin - ganz gleich, wer es ist - alle sind gefällig, weil sie gar nicht anders können.“

Houston, Texas

Mit einer dokumentierten Anwesenheit, die bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht, und als zweitgrößte Gemeinde Deutschlands, waren die Frankfurter Juden ein zutiefst etablierter Teil der Gesellschaft. Doch unter den Nazis wurden sie, wie alle deutschen Juden, wie Fremde in ihrer eigenen Stadt und in ihrem eigenen Land behandelt, und viele verließen Deutschland. Die November-Ausgabe des „Jüdischen Gemeindeblatts für Frankfurt am Main“ zeigt die Allgegenwart des Themas „Emigration“: Zahlreiche Inserate boten Dienstleistungen und Ausrüstung speziell für Auswanderer. Der „Hilfsverein der Juden in Deutschland“ bot die letzten Neuigkeiten über die Auflagen zur Einwanderung in verschiedene Länder, aber auch eine Warnung, nicht Betrügern in die Falle zu gehen, die Auswanderungswilligen beträchtliche Summen für nutzlosen Rat abnahmen. Ein Beitrag fällt jedoch aus dem Rahmen. In einem Brief aus Houston, Texas, teilt eine frühere Frankfurterin ihre ersten Eindrücke mit: Die Hitze war eine Herausforderungen, Kartoffeln spielten auf der amerikanischen Speisekarte keine ausreichend große Rolle, Mücken und Mückengitter („more mosquitos than in Palestine“) und Plastikblumen, wie auch Riesenspinnen und fliegende Kakerlaken waren gewöhnungsbedürftig. Aber andererseits gab es auch Einbauschränke und große Betten, und, das Allerbeste, die „kaum glaubliche Gastfreundschaft“ der Einheimischen.

Wovon wird er in Amerika leben?

Ein Flüchtling ohne Englischkenntnisse und mit wenig Fachkönnen braucht Hilfe bei der Arbeitssuche

„Wir brauchen nicht darauf hinzuweisen, dass Herr Raskin bereits über das Alter hinaus ist, in dem hier Geborene Schwierigkeiten bei der Suche nach einer neuen Tätigkeit auf Schwierigkeiten stoßen. Herr Raskin spricht kaum Englisch. Er beherrscht kein Handwerk. Seine Erfahrung als Bonbonverkäufer ist bei Bewerbung um eine Stelle nicht besonders hilfreich.“

New York/Boston

Seit Anfang der 1880er Jahre schloss das Einwanderungsgesetz der Vereinigten Staaten eine Klausel ein, die darauf abzielte, Menschen fernzuhalten, bei denen die Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie der Öffentlichkeit zur Last fallen würden. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise bestätigte Präsident Hoover 1930 die Sperre. Hilfsorganisationen hatten es schwer, den Neuankömmlingen Arbeitsplätze zu verschaffen: am 26. Oktober schildert ein Mitarbeiter des Employment Department of the Greater New York Coordinating Committee for German Refugees Willy Nordwind vom Boston Committee for Refugees die Schwierigkeiten bei der Suche nach Arbeit für einen Mann, der es geschafft hatte, ins Land zu kommen, aber kaum Englisch sprach und außer seiner Tätigkeit als Bonbonverkäufer keine Arbeitserfahrung aufzuweisen hatte. Dennoch verspricht der Mitarbeiter, sich weiterhin um die Belange des Einwanderers zu bemühen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 26

Jahreschronik 1938

Die „Polenaktion“

Eine fotographische Momentaufnahme der Polenaktion.

Ende Oktober weisen die Nationalsozialisten etwa 17.000 polnische Juden aus dem Deutschen Reich aus. Die als „Polenaktion“ bezeichnete Massenabschiebung markiert den bisherigen Höhepunkt der Diskriminierungen der Nazis gegenüber den Juden. Das polnische Parlament hatte im März und Oktober Gesetze erlassen, die die Pässe von im Ausland lebenden jüdischen Polen schwächten. Unter anderem sollten im Ausland ausgestellte Pässe zum 30. Oktober nicht mehr zur Einreise nach Polen befugen, sofern sie nicht einen Prüfvermerk des polnischen Konsulats trugen. Die polnische Regierung wollte so eine Masseneinwanderung von polnischen Juden aus dem Deutschen Reich nach Polen verhindern. Als die Deutsche Botschaft in Warschau davon erfuhr, veranlassten die Nazis die „Polenaktion” binnen weniger Tage.

Zur Jahreschronik 1938

Diskriminierung von Mischehen

Entlassung nach 25 Dienstjahren

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BERLIN

Der schwer kriegsversehrte Berliner Kriminalpolizei-Angestellte Ernst Patzer verlor im März 1938 seine Stellung. Der Grund dafür war das 1937 erlassene Deutsche Beamtengesetz, das „jüdisch Versippten“ die Arbeit im Staatsdienst verbot – und Patzer war seit 1925 mit einer deutschen Jüdin verheiratet. Dieser weitere Schritt des NS-Regimes, Juden und ihre Angehörigen aus allen Bereichen des Lebens zu verdrängen, traf das Ehepaar Patzer sehr hart: Er war Alleinverdiener und verlor nach 25 Dienstjahren nicht nur seine Stellung, sondern auch alle Pensionsansprüche. Dieses Schreiben vom 24. Oktober 1938 zeigt, wie Ernst Patzer Schritt für Schritt von öffentlicher Teilhabe ausgeschlossen wurde. Vergebens schrieb er als ehemaliger Frontsoldat an Hitler und Göring, um eine Weiterbeschäftigung in einer Behörde zu erwirken. Die Ehe blieb bestehen und er fand schließlich Arbeit als Rechnungsprüfer bei der Firma AEG. Den Nationalsozialismus hat das Ehepaar Patzer überlebt.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Sammlung:

Inv.Nr. Do 89/102II

Ein Freudenfest in schweren Zeiten

Eine Hochzeit als Atempause

„Für diesen von Gott geweihten Ehebund erflehen wir Heil, Frieden und Segen.“

BERLIN

In einem Jahr, das durch zahlreiche beunruhigende anti-jüdische Maßnahmen gezeichnet war, muss die Hochzeit von Frieda Ascher und Bernhard Rosenberg am 23. Oktober in Berlin für ihre Freunde und Verwandten eine stark benötigte Atempause bedeutet haben. Der Offiziant bei der Zeremonie war der orthodoxe Rabbiner Dr. Moritz Freier. Rabbiner Freier wurde wiederholt von jungen Juden angesprochen, die infolge des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland keine Stelle finden konnten. Seine Frau, Recha Freier, war bereits im Januar 1933 auf die Idee gekommen, jüdischen Jugendlichen zu helfen, in das palästinensische Mandatsgebiet einzuwandern und sich in Kibbutzim anzusiedeln, ein Projekt, das unter dem Namen „Jugend-Alija“ bekannt ist.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Trauurkunde für Bernhard Rosenberg und Frieda Ascher; 7.5

Looking toward Palestine

The Münzer family hopes for a reunion in Palestine

After Moses Münzer loses his job as a tailor, his wife, Lisa, is forced to work in a soup kitchen. Now the family hopes for a future in Palestine.

WIEN

This photograph, taken in October 1938, shows Moses Münzer, a tailor in Vienna, and his wife Lisa, with their five children, Elfriede, Benno, Nelly, Gertrude and Siegfried. After the “Anschluss,” Moses Münzer, like many Jews, lost his job. Lisa Münzer started working as a cook in the soup kitchen of the Brigittenauer Tempel on Kluckygasse, sometimes assisted by her children. By October 21st, 15-year-old Gertrude was on her way to Palestine on Youth Aliyah, an organization founded by Recha Freier, the wife of an orthodox rabbi in Berlin, before the Nazi rise to power. Its goal was to help Jewish youth escape anti-Semitism in the Reich and settle in Palestine. Gertrude left on her own, but the intention was for the family to reunite in Palestine.

Gemeinsames Sommerlager fördert Integration

Das American Friends Service Committee fördert die Integration jüdischer Flüchtlinge

„Von besonderer pädagogischer Bedeutung war die kooperative Durchführung aller Gemeinschaftsarbeiten. Sämtliche Teilnehmer verrichteten alle Arten praktisch-hauswirtschaftlicher Tätigkeit und wurden im Garten- und Feldbau unterwiesen. Die hierbei erworbene Gewöhnung an körperliche Arbeit war nicht nur pädagogisch wichtig, sie war zugleich eine ausgezeichnete Körperschule und hat, neben intensiv betriebenem Schwimmsport, die gesundheitliche Verfassung der Menschen gestärkt.“

Hyde Park, New York

Zahlreiche jüdische Organisationen, wie die Hebrew Immigrant Aid Society, German Jewish Children’s Aid und das Boston Committee for Refugees widmeten sich der Rettung von Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland. 1938 war es eine nicht-jüdische Organisation, das American Friends Service Committee (Quäker), die sich ein besonders schönes Projekt einfallen ließ: von Mitte Juni bis Anfang September leitete es ein Sommerlager im Hudson-Tal für etwa 70 Personen, überwiegend jüdische Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland und etwa ein Drittel Amerikaner. Indem sie gemeinsam arbeiteten, lernten und sangen, Haushaltspflichten teilten, Vorträge und Gottesdienste besuchten, miteinander Sport trieben und Spiele spielten, wurde das gegenseitige Kennenlernen gefördert. Der Verfasser dieses Artikels ist voller Dankbarkeit für das Projekt, das er als „bemerkenswerten Beitrag zur inneren Integration unserer Menschen“ bezeichnet.

Ein vielseitig begabter Mann

Schauspieler, Regisseur, Bühnenbildner: Die vielen Rollen des Friedel Dzubas

Groß-Breesen, Schlesien

Als im nicht-zionistischen, von der Reichsvertretung der Juden in Deutschland betriebenen Ausbildungsgut Groß-Breesen (Schlesien) Gotthold Ephraim Lessings Trauerspiel „Emilia Galotti“ aufgeführt wurde, spielte der talentierte und energische Friedel Dzubas eine zentrale Rolle bei der Durchführung: Nicht genug damit, dass er die Regie führte, die Kostüme und die Bühnenbilder entwarf und herstellte, er übernahm auch den Part des Vaters der tragischen Heldin, Odoardo. Lessing, der Sohn eines lutherischen Pfarrers und eine zentrale Figur der deutschen Aufklärung, hatte sich schon früh für die Sache der Juden eingesetzt und seinem engen Freund, den Philosophen Moses Mendelssohn, mit dem Schauspiel „Nathan der Weise“ ein Denkmal gesetzt. Seine entschlossene Haltung brachte ihm einen Ehrenplatz in den Herzen und Köpfen sowie auch in den Hausbibliotheken deutscher Juden ein.

QUELLE

Institution:

Dzubas Estate

Original:

Mit freundlicher Genehmigung von Dzubas Estate

Zeit zum Innehalten

Berlin

Schülerinnen und Schüler an jüdischen Schulen sollten diesen hohen Festtag möglichst mit allen Sinnen erfahren, fernab von den Sorgen und Nöten, mit denen sie im Alltag konfrontiert waren.

Berlin

Jom Kippur fiel 1938 auf den 5. Oktober, einen Mittwoch. Die Schulabteilung der „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ hatte in diesem Jahr ein Büchlein mit zahlreichen Anregungen veröffentlicht, wie dieser hohe Festttag in den Schulen begangen werden könne. Es liest sich wie eine didaktische Handreichung, die so auch in früheren oder späteren Jahren hätte geschrieben werden können: auf die schwierigen Umstände, in denen sich die Juden in Deutschland und nicht zuletzt jüdische Schülerinnen und Schüler 1938 befanden, finden sich keinerlei Hinweise. In den vergangenen fünf Jahren hatten die Nazis schrittweise eine “Rassentrennung” in öffentlichen Schulen vollzogen. Der Anteil jüdischer Schüler an öffentlichen Schulen hatte sich bereits bis 1936 nahezu halbiert.

 

 

Jahreschronik 1938

Ausweise von Juden für ungültig erklärt

Der Pass einer jüdischen Frau, mit dem verpflichtendem „J“ für „Jüdin“ versehen. Sammlung Siegmund Feist, Leo Baeck Institute

Das Reichinnenministerium erklärt alle Ausweise von Juden für ungültig. Erst der rote Aufdruck des Buchstabens „J“ mache die Pässe wieder gültig. Die Aktion ist ein weiterer Schritt im Bestreben der Nazis, die Juden dauerhaft vom Rest der Bevölkerung zu trennen.

Zur Jahreschronik 1938

Geschlossene Türen

Kanadas restriktive Einwanderungspolitik

Hilfe für die Opfer "politischer Verfolgung und grundloser Aggression" wird ein wichtiger Bestandteil der "Friedens-Aktionswoche" sein [...]

Ottawa

Ein wichtiges Ziel der von der Canadian League of Nations Society geplanten „Nationalen Friedens-Aktionswoche“ war, die kanadische Öffentlichkeit auf das Leiden verfolgter Juden aufmerksam machen. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 3. Oktober 1938 von dem Vorhaben, ein nationales Komittee aus jüdischen und anderen kanadischen Führungspersönlichkeiten zu gründen, das die Öffentlichkeit für die jüdische Flüchtilingskrise sensibilisieren und angemessene Maßnahmen von der Regierung verlangen sollte. Spätestens seit den Jahren der Weltwirtschaftskrise nämlich verfolgte Kanada eine restriktive Abschottungspolitik gegenüber Einwanderern, eine eigentliche Flüchtlingspolitik hatte das Land nicht. Allein dies machte es jüdischen Flüchtlingen schwer, nach Kanada einzuwandern. Hinzu kam ein weit verbreiteter Antisemitismus in der Bevölkerung.

 

Umwälzungen erreichen Wohnung und Arbeitsplatz

Suche nach Wohnung und Arbeit

„Jetzt stell dir vor, zu all diesem Elend noch die Aussicht auf meine ,großen Ferien,‘ für mich als Muttels Ernährerin. Da kam gestern ein Lichtblick, ich habe vom Landesverband in Berlin die Erlaubnis engl. Unterrichts-Kurse in der Provinz abzuhalten.“

BRESLAU/BERLIN

Im August 1938 begann Irma Umlaufs Leben, aus den Fugen zu geraten: man benachrichtigte sie, dass die in jüdischen Händen befindliche Firma in Breslau, für die sie arbeitete, liquidiert und sie in die Arbeitslosigkeit entlassen werden sollte, und ihr Vermieter kündigte ihr. Obwohl es im Oktober 1938 kein Gesetz gab, laut dem Nichtjuden keine jüdischen Mieter haben durften, waren manche eifrig dabei, sich ihrer zu entledigen. In Irma Umlaufs Fall war das Problem, dass ihre jüdischen Mitbewohner die Miete nicht länger aufbringen konnten und auszogen. Der nichtjüdische Vermieter fürchtete sich nun laut Irma, neue jüdische Mieter anzunehmen, und da Juden und Nichtjuden nicht länger gemeinsamen Wohnraum teilen durften, hatte sie keine Wahl als auszuziehen. Unter den anderen Themen, die sie in diesem Brief an ihre Freundin Hilde Liepelt in Berlin anschneidet, ist ihre berufliche Situation: glücklicherweise hat ihr der Landesverband in Berlin Erlaubnis erteilt, in den jüdischen Gemeinden Münsterberg und Fraustadt, beide nicht zu weit von Breslau entfernt, Sprachunterricht zu erteilen, wodurch sie eine neue Existenzgrundlage erhält und weiter für den Unterhalt ihrer Mutter sorgen kann. Ein Zubrot verdient sie sich als Sängerin.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Brief von Irma Umlauf, Breslau, an ihre Freundin Hilde Liepelt in Berlin; 7.379, Bl. 14

Netzwerke

Kurt Grossmann und die Flüchtlingshilfe

„Wenn in den nächsten Tagen Ihnen ein Gesuch von Frau Erna Winter (und Kind), die bisher von der Demokratischen Flüchtlingsfürsorge in Prag unterstützt wurde, vorgelegt werden sollte, so bitte ich Sie, dieses Gesuch mit Wohlwollen zu behandeln.“

PARIS

Die jüdischen Flüchtlingsorganisation waren weit vernetzt. Zu verdanken war das auch einzelnen Personen wie Kurt Grossmann, die stetig neue Kontakte knüpften und die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene ausbauten. Kurt Grossmann, Journalist und von 1926 bis 1933 Generalsekretär der Deutschen Liga für Menschenrechte, war bereits 1933 vor einer Verhaftung aus Berlin nach Prag geflohen. Dort hatte er die Demokratische Flüchtlingsfürsorge mit aufgebaut und diese maßgeblich geprägt. Grossmann wusste sein Netzwerk für die steigende Zahl jüdischer Flüchtlinge, die Prag erreichten, zu nutzen. Noch aus Paris, wo er seit 1938 lebte, warb er bei den lokalen Hilfsorganisationen um Unterstützung. In einem Brief Grossmanns vom 19. September 1938 etwa bittet er M. Gaston Kahn vom Pariser Comité d’Assistance aux Réfugiés juifs mit Nachdruck, Erna Winter und ihrem Kind zu helfen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt Grossmann, AR 25032

Original:

Archivbox 1, Ordner 8

Neuankömmlinge

Das Boston Committee for Refugees tut, was es kann

„ISAAC BIRNBAUM, Alter 53, Tabak- und Kleiderhändler, spricht überhaupt kein Englisch.“

Boston

Das Boston Committee for Refugees war die erste der amerikanisch-jüdischen Selbsthilfegruppen, die Juden halfen, Europa zu verlassen und in den Vereinigten Staaten ein neues Leben aufzubauen. 1933 gegründet, bestand es ausschließlich aus Freiwilligen. Unter der Führung Walter H. Bieringers und Willy Nordwinds bemühte sich das Committee in erster Linie darum, angehenden Einwanderern Bürgschaften zu verschaffen und für ihre Beschäftigung nach ihrer Ankunft im Land zu sorgen. Seit der Weltwirtschaftskrise war das Außenministerium angehalten, Menschen fernzuhalten, bei denen „die Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie der Öffentlichkeit zur Last fallen” würden, und es war von größter Wichtigkeit, den Lebensunterhalt der Flüchtlinge sicherzustellen. Die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland (der „Anschluss“) und das monumentale Versagen der Konferenz von Évian verstärkten die Dringlichkeit der Unterstützung der verzweifelten Asylsuchenden. Am 26. August 1938 schickte der amtierende Geschäftsführer der Organisation Bieringer diese Liste von Neuankömmlingen, die der Vermittlung bedurften.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 38

Tagesgeschehen zum 18. Geburtstag

Hugo Jellinek gratuliert seiner Tochter und kommentiert die aktuellen Entwicklungen

„Böhmen ist eine harte Nuss, an der sich diese Räuberbande die Zähne ausbrechen werden [sic] oder sagen wir eine Buchtel, an der diese wahnsinnig gewordenen Teufel ersticken werden. Trotz der vielen hiesigen deutschen Hochverräter ist [sic] Regierung und Volk einig in dem unerschütterlichen Willen, die Freiheit und demokratischen Errungenschaften bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Hugo Jellinek war stolz auf seine Tochter Gisella, die während der Hachschara zu einer glühenden Zionistin geworden und wenige Monate zuvor als Teil einer Gruppe wagemutiger Jugendlicher nach Palästina eingewandert war. Zum 18. Geburtstag schickte er seiner erstgeborenen Tochter nicht nur Glückwunsche, sondern ließ sie auch ausführlich an seinen Gedanken zum Tagesgeschehen teilhaben: Deutsche Manöver entlang der tschechoslowakischen Grenze beunruhigten ihn sehr, doch er war überzeugt, anders als im Fall Österreichs würde die Wehrmacht mit scharfem Widerstand zu rechnen haben. Das Misstrauen und der Mangel an Solidarität wohlhabender Brünner Juden gegenüber jüdischen Flüchtlingen erfüllten ihn mit Bitterkeit. Auch war er sehr besorgt wegen der Räumungsbescheide, die bei österreichischen Juden eingingen. Bei allen Sorgen und Klagen verschaffte eine neue Damenbekanntschaft einen Lichtblick.

Fragebogen

Antisemitismus im sächsischen Merseburg treibt Bernhard Taitza ins Ausland

„Mittel für den Existenzaufbau unter der Voraussetzung, dass die Mitnahme bewilligt wird; Mittel für Reisespesen: ‘Keine. RM 8000.- in Deutschland beschlagnahmt, um deren Freigabe ich mich bemühe. Andernfalls stellen die Verwandten in Amerika genügend Existenzmittel zur Verfügung.’”

Prag

Die unbedeutende Anzahl von Juden im sächsischen Merseburg (50 Personen bei einer Gesamtbevölkerung von 31.576 im Jahr 1933) brachte die Nationalsozialisten vor Ort nicht davon ab, sie in Angst und Schrecken zu versetzen: Bereits 1934 berichtete Bernhard Taitza, ein Kaufmann, von der Qual jüdischer Einwohner, an deren Wohnungen Nazi-Formationen vorbeimarschierten und antisemitische Lieder sangen. Schließlich wurde die Situation so unerträglich, dass er 1938 Deutschland verließ und nach Prag ging. Tage später, am 18. August, reichte er diesen Fragebogen bei der HICEM ein, einer Organisation, die 1927 durch einen Zusammenschluss der Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS), der Jewish Colonization Association und Emigdirect, einer weiteren jüdischen Migrationsorganisation, entstanden war. Glücklicherweise hatte Taitza zwei Kinder in Amerika und war bereits mit einer Bürgschaft ausgestattet, so dass er sich nicht allzu sehr sorgen musste, ob er das Geld, das die Nazis konfisziert hatten, je wiederbekommen würde.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Bernhard Taitza, früher Merseburg, trifft in der CSR ein.

Die Hilfsstelle der Liga für Menschenrechte

„Diese Hunde von Hitler und Göring werden niemals gewinnen“

„Es stirbt halt nicht der jüd. Wohltätigkeitssinn aus und es wird diesen Hunden von Hitler und Göring nicht gelingen, dass die Emigranten in der Gosse krepieren.“

Brünn/Rischon LeZion

Hugo Jellinek war ein vielseitig begabter Mann. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwang ihn, sein Medizinstudium abzubrechen. Als Soldat wurde er in Samarkand schwer verwundet und verliebte sich in die Krankenschwester, die ihn pflegte und später seine Frau und die Mutter seiner drei Töchter wurde. Das Paar siedelte sich in Taschkent (Usbekistan) an. Nach dem Tod seiner noch jungen Frau im Jahr 1926 floh er 1930 aus der Sowjetunion und kehrte schließlich nach Wien zurück. Dort machte er sich die acht Sprachen, die er beherrschte, als Übersetzer zunutze und arbeitete als freiberuflicher Jornalist. Dank einer Warnung bezüglich seiner bevorstehenden Festnahme gelang es ihm im Juni 1938, nach Brünn zu entkommen. Seine älteste Tochter Gisella Nadja brach am selben Tag nach Palästina auf. In diesem schillernden Brief zeigt Hugo väterliche Sorge um Nadjas Wohlbefinden, diskutiert aber auch ausführlich die eigenen Nöte als Flüchtling und vergisst nicht zu berichten, dass der Sohn seines Cousins im Konzentrationslager Dachau interniert sei. Mit Genugtuung erwähnt er die Arbeit der von ihm so genannten „Liga“ (gemeint ist wohl die Hilfsstelle der Liga für Menschenrechte), die sich um die Flüchtlinge kümmerte und damit Hitlers teuflischen Plänen trotzte. Letztendlich jedoch käme es vor allem darauf an, für einen eigenen Staat zu kämpfen.

Doppelte Gefährdung

Als jüdischer Mensch mit Behinderung wurde Ursula Meseritz zum zweifachen Ziel der Nazipolitik.

„Die schöne Kehrseite in angeregter Unterhaltung. Hach, diese Sonne!“

Berlin

Als taubstumme Jüdin war Ursula Meseritz in den Augen der Nazis doppelt minderwertig: Seit dem 14. Juli 1933 galt das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das die Zwangssterilisierung von Menschen mit Behinderung sowie von Epileptikern legalisierte. Ursula hatte die einzige jüdische Schule für Gehörlose in Deutschland besucht, die „Israelitische Taubstummenanstalt“ in Berlin-Weißensee. Unter dem Naziregime wurde der Gebrauch von Zeichensprache in staatlichen Schulen verboten, und 1936 wurden jüdische Kinder aus Schulen ausgeschlossen, die gehörlose Kinder förderten. Laut einem „Fragebogen für Auswanderer“, den sie im April 1938 eringereicht hatte, war Ursula Laborantin für medizinische Diagnostik und hoffte, in Amerika in diesem Beruf tätig zu werden. Die Aufschriften auf diesen Fotos, datiert auf den 17. Juli 1938, zeigen, dass der Neunzehnjährigen ihr Sinn für Humor trotz der schwierigen Zeiten nicht abhanden gegangen war. Offenbar zeigen die Bilder Ursula mit ihrer Schwester und ihren Eltern, wie sie ein letztes Mal feiern vor der Abreise Ursulas in die USA.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Ursula Meseritz Elgart Familie Sammlung, AR 25544

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Richtungswechsel

Der „Hilfsverein der Juden in Deutschland“ unterstützt jüdische Aus- anstatt Einwanderer

Berlin

Der 1901 in Berlin gegründete „Hilfsverein der deutschen Juden“ unterstützte vor allem jüdische Einwanderer nach Deutschland. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kümmerte sich der nun zwangsweise umbenannte „Hilfsverein der Juden in Deutschland“ umgekehrt um die Vorbereitung und Umsetzung der Emigration aus Deutschland. Dazu bot er Hilfe bei Behördenfragen, Passangelegenheiten oder beruflicher Umschulung an und gewährte auch finanzielle Unterstützung. Ein wichtiges Organ für seine Arbeit war das Periodikum „Jüdische Auswanderung“, das über allgemeine Lebens- und Arbeitsbedingungen, aber auch über spezifische Fragen jüdischer Kultur in verschiedenen Ländern informierte. Im Juli-Heft von 1938 wurden die USA, Kuba und die Philippinen vorgestellt.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Informationsheft „Jüdische Auswanderung“. Korrespondenzblatt für Auswanderungs- und Siedlungsfragen ; Inv. Nr: Do2 91/194

Radio, Grammophon, Zeitungen, Belletristik

Die Kunst des Fremdsprachenlernens

„Für den Anfänger ist der "native instructor" nur dann der förderlichste, wenn er hinreichende Kenntnisse der Muttersprache des Schülers hat, um die diesem entgegenstehenden Schwierigkeiten zu erkennen und genügend didaktische Schulung, um mit den geeigneten Mitteln ihrer Herr zu werden.“

NEW YORK

In seinem Artikel „Zehn Gebote für Sprachbeflissene“, der in der Juli-Ausgabe des „Aufbau“ veröffentlicht wurde, empfiehlt Dr. Eugene I. Stern, sich des gesamten Instrumentariums zu bedienen, das dem modernen Englisch-Schüler zur Verfügung steht: Radio, Grammophon, Zeitungen, Belletristik. Die Genauigkeit, mit der er beschreibt, was er für die vielversprechendste Methode des Sprachstudiums hält, entspricht jedem Stereotyp, das mit deutschen Juden in Verbindung gebracht wird. Dr. Stern verspricht keine Patentlösungen, und seine Einschätzung der Aussichten des Sprachschülers ist nicht besonders optimistisch: Gleich eingangs erklärt er, das Meistern einer Fremdsprache sei ein nicht zu erreichendes Ziel. Nichtsdestotrotz erlernten jüngere deutsch-jüdische Einwanderer die Sprache in der Regel innerhalb weniger Jahre, im Gegensatz zu ihren Landsleuten in Palästina, die sich die neue Sprache notorisch langsam und zögerlich aneigneten. Verschiedene Institutionen in Amerika waren ihnen bei ihren Bemühungen behilflich, so z.B. der National Refugee Service und das Adult Education Council, YMCA und YWCA, die den Neuankömmlingen kostenlosen Englischunterricht anboten.

Ein 5. Geburtstag

Die kleine Helen wird ein Jahr älter

Hamburg

Wilhelm Hesse war ein liebevoller, zutiefst engagierter Vater: Seit der Geburt seiner Töchter Helen (1933) and Eva (1936) dokumentierte er die Entwicklung der Mädchen genauestens in Tagebüchern, die er für sie führte. Zusätzlich zu kleinen Texten und Gedichten, die er selbst schrieb, fügte er zahlreiche Fotos und Bezüge auf jüdische Feiertage ein. Gelegentlich wird der oft humorvolle, manchmal sogar kindliche Ton durch Material unterbrochen, das eine Ahnung von der Stimmung unter den Juden im Land vermittelt, wie z.B. ein Aufruf Leo Baecks zu jüdischer Einheit und Solidarität im Namen der Reichsvertretung der Deutschen Juden. Aber Helen und ihre Schwester Eva hatten das Glück, noch zu klein zu sein, um zu verstehen, was sich um sie herum zusammenbraute. Der 30. Juni war Helens 5. Geburtstag.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Helen und Eva Hesse Familie, AR 25327

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Post aus Shanghai

Ein deutsch-jüdischer Auswanderer berichtet

„Es gibt nicht einen einzigen Juden hier, der sich nicht ernähren kann.“

Schanghai/Berlin

Zu einer Zeit, als mehr und mehr Juden den dringenden Wunsch verspürten, das Land zu verlassen, muss dieser Brief eines deutsch-jüdischen Auswanderers in Shanghai, gerichtet an die „Herren vom Hilfsverein“, zukünftige Auswanderer mit neuer Hoffnung erfüllt haben: Der Schreiber dankt dem Hilfsverein überschwänglich für die Beratung und berichtet begeistert von der Vielzahl beruflicher Optionen, die Einwanderern an seinem neuen Standort zur Verfügung stehen: „Voraussetzung ist natürlich, dass man irgend etwas können muss und intensiv arbeiten kann.“ Seiner Einschätzung nach waren Musiker, Ärzte und Kaufleute stark gefragt und die Situation für Sekretärinnen und Stenotypistinnen besonders vielversprechend – unter der Bedingung, dass sie über perfekte Englischkenntnisse verfügten, was unter deutschen Juden in keiner Weise selbstverständlich war. Die Neuankömmlinge waren nicht die einzigen Juden im Land: Etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es eine sephardische Gemeinde, und seit Anfang des 20. Jahrhunderts, dann verstärkt durch den Zusammenbruch des Zarenreichs, hatten sich aschkenasische Juden in der Stadt angesiedelt.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin

Original:

Vol 28, Nr. 25, S. 5.

Jüdische Schulen

Ungewollter Schutzraum jüdischer Identität

„Bialik teilt in seinem Aufsatz ,Halacha und Aggada’ eine Deutung mit, die er von Achad Haam gehört hat: ,...Wer auf den Geist achtet, wird auch aus ihr [dieser Mischna] zwischen den Zeilen das Rauschen des Herzens und die zitternde Sorge um das künftige Schicksal eines Volkes heraushören, das 'auf dem Wege geht,‘ und nichts mehr von seinem Besitz in der Hand hat als ein Buch, und dessen ganzer innerer Zusammenhang mit irgendeinem seiner Aufenthaltsländer nur auf seinem Geiste beruht.‘ “

Berlin

Für viele jüdische Kinder wurde der Schulbesuch unter den Nazis zur Hölle: Schon der Schulweg konnte zu einem Spießrutenlauf unter anti-jüdischen Kränkungen werden. Ausgrenzung durch Mitschüler und Lehrer war die Regel. Um den Kindern diese Qual zu ersparen, schickten Eltern, die es sich leisten konnten, ihre Kinder auf jüdische Schulen. Bis 1933 hatten die überwiegend assimilierten deutschen Juden wenig Interesse an eigenen Schulen, aber das feindselige Klima unter dem Naziregime ließ mehr und mehr Einrichtungen dieser Art entstehen. Dr. Elieser L. Ehrmann, ein Pädagoge und Mitarbeiter in der Schulabteilung der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, hatte seit 1936 Arbeitspläne für Lehrkräfte an jüdischen Schulen ausgearbeitet, die die Kenntnis der jüdischen Feiertage und des sie begleitenden Brauchtums vertiefen und damit eine positive jüdische Identität vermitteln sollten. Der hier gezeigte Auszug stammt aus Ehrmanns „Arbeitsplan für Omerzeit und Schawuot“, herausgegeben 1938 von der Reichsvertretung der Juden in Deutschland. In diesem Jahr fiel der erste Tag des Schawuot-Festes auf den 5. Juni.

Professionelle Unterstützung im Adoptionsverfahren

Das Zentralbüro für jüdische Pflegestellen und Adoption macht sich für die Schwächsten stark

„Eine an unserer Arbeit interessierte hiesige Familie (…) hat sich liebenswürdigerweise angeboten, Sie und das von Ihnen ausgewählte Kind für einige Zeit in ihrem Hause als Gast aufzunehmen, damit Sie Gelegenheit haben, in der freundlichen Atmosphäre eines Privathauses das Kind an sich zu gewöhnen, was sicherlich einfacher sein wird, als wenn Sie mit dem Kinde von Anfang an in einem Hotel wohnen müssen.“

WUPPERTAL-ELBERFELD/NEW YORK

Die Zentrale für jüdische Pflegestellen und Adoptionsvermittlung nahm ihr Mandat, Mütter und Kinder zu schützen, sehr ernst: Als Frances und Bernard Rosenbaum aus New York sich für ein Kind zur Adoption entschieden hatten, bekamen sie Hilfe. Die Agentur bot ihnen Unterkunft bei einer Privatfamilie an, damit die Beziehung nicht in einem Hotel beginnen müsse und es für das Kind leichter wäre, sich an seine Adoptivmutter zu gewöhnen. Das Zentralbüro für jüdische Pflegestellen und Adoption war Teil des Jüdischen Frauenbundes, der 1904 von Bertha Pappenheim gegründet worden war, um karitative Tätigkeit zu fördern und gleichzeitig jüdische Identität zu bejahen. Eine Folge dieser Initiative war die Entwicklung einer professionellen Sozialarbeit.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Frederick Rosenbaum, AR 6707

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Seelenverfassung

Keine Begeisterung, aber Wille zum Erfolg

„Ich glaube, wenn Du Dich für Palästina entscheiden solltest, dass Du dazu zwar keine Begeisterung brauchst. Die Mehrheit wandert heute ein ohne jede Begeisterung, aber Du brauchst den festen Willen hier trotz aller Schwierigkeiten, geringem Einkommen und schwerer Arbeit bei klimatischen Schwierigkeiten Dich durchzusetzen.“

TEL AVIV/ZÜRICH

Herbert Mansbach, ein deutscher Student der Zahnmedizin, der vorübergehend in der Schweiz ansässig war, hatte Glück: Ein Freund von ihm war bei der Krankenkasse (Kupat Cholim) des Allgemeinen Verbands der Arbeiter in Eretz Israel (Histadrut) angestellt und konnte ihm wertvolle Informationen zur Aufnahme in einem Kibbutz und zum Auffinden eines Arbeitsplatzes in Palästina geben: Die Hauptvoraussetzungen für eine Kibbuzmitgliedschaft waren die Zugehörigkeit zur HeChaluz-Pionier-Jugendbewegung und einige Hebräischkenntnisse. Um allerdings eine Anstellung als Zahnarzt in Tel Aviv zu bekommen, war perfektes Hebräisch unabdingbar. Herberts Freund zeichnete ein ernüchterndes Bild von der Seelenverfassung der Neueinwanderer: Die Mehrheit, schreibt er, käme ohne Begeisterung – Entschlossenheit zum Erfolg sei wichtiger.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herbert Joseph Mansbach, AR 7073

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

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