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Bürokratie ohne Empathie

Die Auswirkungen eines Gesetzes von 1917 im Jahr 1938

„Um seine Zulassungsfähigkeit in die Vereinigten Staaten laut Einwanderungsgesetz festzustellen, muss der Ausländer nachweisen, dass er von keiner der Ausnahmebestimmungen in Abschnitt 3 des Einwanderungsgesetzes vom 5. Februar 1917 betroffen ist, einschließlich derjenigen, die sich auf Personen bezieht, bei denen die Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie der Öffentlichkeit zur Last fallen werden.“

Washington D.C./Virginia Beach, Virginia

Amerika hatte mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, und im Kongress herrschte einen ablehnende Haltung gegenüber Fremden vor. In weiten Teilen der Bevölkerung war der Gedanke, eine größere Anzahl jüdischer Flüchtlinge ins Land zu lassen, nicht populär. Als daher Alice Rice in Virginia Beach versuchte, die Einreise ihrer tschechischen Verwandten zu unterstützen, bekam sie vom amtierenden Leiter der Visumsabteilung des Außenministeriums, Eliot B. Coulter, die gängige Antwort: er betonte, wie wichtig es sei, nachzuweisen, dass eine Belastung der öffentlichen Hand durch die Bewerber unwahrscheinlich sei und wies auf die Bestimmungen des Einwanderungsgesetzes von 1917 hin, das zusätzlich zu wirtschaftlichen Voraussetzungen die Einwanderung von einer Vielzahl von Bedingungen politischer, rassischer, moralischer und gesundheitlicher Natur abhängig machte. Dazu legte es fest, Personen im Alter von über 16 Jahren hätten nur dann ein Anrecht auf Einwanderung, wenn sie des Lesens und Schreibens kundig wären. Trotz des beherzten Einsatzes der Arbeitsministerin Frances Perkins, deren Ministerium zu dieser Zeit für Einwanderungs- und Einbürgerungsangelegenheiten zuständig war, wurde die Einwanderungspolitik der USA nicht angepasst, um der Welle der Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland gerecht zu werden. Interessanter Weise war eine der Rechtfertigungen hierfür, dass die Quote nie ganz gefüllt werde – ohne allerdings zu erwähnen, dass dies auf die Bestimmung zurückzuführen war, laut der nur solche Personen einwandern dürfen, die der Öffentlichkeit nicht zur Last fallen würden; diese machte es den vielen deutschen Juden, die durch die Politik des Regimes in die Armut getrieben worden waren und nicht das Glück hatten, wohlhabende Bürgen in Amerika zu haben, unmöglich, sich erfolgreich um Visen zu bewerben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Familie Klein-Cohn, AR 6217

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Source available in English

Keine Erholung für Juden in deutschen Badeorten

A refugee from Germany intervenes

„Die Verhaeltnisse liegen in diesem Falle besonders unguenstig, um nicht zu sagen, traurig. Ihre Eltern haben seit langer Zeit keine Beschaeftigung mehr, da sie, auf einer Nordsee-Insel lebend, zu den ersten Opfern der Nazibewegung gehoeren.“

Wangerooge

Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert war Feindseligkeit gegenüber Juden in deutschen Badeorten keine Seltenheit. Manche warben mit dem Prädikat „judenfrei“ für sich. In Nord- und Ostsee präsentierten sich ganze Inseln als antisemitisch. Einige hatten kleine jüdische Gemeinden. Auf den Stränden der Nordseeinsel Wangerooge waren bereits 1920 Hakenkreuzfahnen zu sehen, als diese gerade erst zum Symbol der Nazibewegung wurden. Nach dem Machtantritt der Nazis wurde die Situation der Juden auf der Insel noch schwieriger. Am 22. Dezember 1938 wandte sich Fritz Jacoby, selbst Nutznießer der Arbeit des Boston Committee for Refugees und ein Neuankömmling in den Vereinigten Staaten, an Willy Nordwind, den stellvertretenden Vorsitzenden: alle männlichen Verwandten der 24jährigen Wangeroogerin Marga Levy seien seit der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November („Kristallnacht“) inhaftiert und sie habe weder Geld, noch die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Daher bittet der dankbare Herr Jacoby das Kommittee inständig, eine „Hausangestellten-Bürgschaft“ für die junge Frau zu besorgen, die ihr ermöglichen würde, „Tag und Nacht“ zu arbeiten, „um ihre Eltern zu ernähren“.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 15

Stigmatisierende Bürokratie

Die Namensänderung wird offiziell

„Hierdurch teile ich pflichtgemäss mit, dass obengenannte 4 Personen ab 1. Januar 1939 die zusätzlichen Vornamen ,Sara‘ bzw. ,Israel‘ entsprechend der gesetzlichen Vorschrift führen.“

Schwandorf, Bayern

Am 17. August war dem „Gesetz über die Änderung von Familiennamen“ eine Verordnung beigestellt worden, die deutsche Juden zwang, sich durch die Hinzufügung des Namens „Sara“ bzw. „Israel“ zu ihrem Vornamen als Juden kenntlich zu machen. Diese Bestimmung sollte am 1. Januar 1939 in Kraft treten. Die vollzogene Änderung war bis Ende Januar beim zuständigen Standesamt und bei der Ortspolizei zu melden. In diesem Kontext ist diese Mitteilung der Familie Friedmann vom 21. Dezember 1938 an die Ortspolizeibehörde Schwandorf (Bayern) zu verstehen. Gleichzeitig wird mitgeteilt, dass auch die zuständigen Standesämter von der bevorstehenden Namensänderung Amalie, Bruno, Lillian und Georg Friedmanns in Kenntnis gesetzt worden seien.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung George und Lilian Friedman, AR 7223

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Auswanderung als Voraussetzung für die Entlassung

Freiheit nur nach Auswanderung

„Der Polizeipräsident in Wien (Zentralmeldungsamt) bestätigt zum Vorweise bei der Konsularabteilung der amerikanischen Gesandtschaft in Wien, daß über den hiesigen Aufenthalt der Frau Renee Aldor, geborene Fanto, geboren am 30. Dezember 1900 zu Budapest in Ungarn, zuständig nach Wr. Neustadt, im Zentralmeldungsamt nebst früheren nachstehende Meldungen erliegen.“

WIEN

Am 10. November, im Verlauf der Pogrome, die über das ganze Reich hinwegfegten, wurde der Elektroingenieur Ernst Aldor in seiner eigenen Wohnung in Wien für das Vergehen, ein Jude zu sein, festgenommen und ins Konzentrationslager Dachau, 366 Kilometer westlich von seinem Wohnort, deportiert. Am 9. Dezember wurde er entlassen. Während der Haftzeit erhielt seine Frau Renée Einreisegenehmigungen für Bolivien und ein Telegramm von ihrem Cousin Emil Deutsch in Amerika, der bestätigte, eine Bürgschaft sei in Vorbereitung. Australien war eine dritte Option, die das Ehepaar als Zufluchtsort in Erwägung gezogen hatte. In Vorbereitung der Auswanderung ließ sich Renée Aldor, eine gebürtige Ungarin, vom Zentralmeldungsamt des Wiener Polizeipräsidiums dieses Dokument, datiert auf den 20. Dezember 1938, ausstellen, in dem sämtliche ihrer Wohnungen in der Stadt seit 1920 aufgelistet sind.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Renee Aldor, AR 10986

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Geld entscheidet über alles oder nichts

Die Rettung hängt vom Geld ab

„Sie werden natürlich einsehen, dass wir Sie nicht finanziell unterstützen können. Mein letzter Brief wird Ihnen vielmehr verdeutlicht haben, wie dringend unser Bedarf an Mitteln für Hilfe vor Ort ist.“

Nairobi/Rongai

Die Antwort des Sekretärs des Kenya Jewish Refugee Committee, Israel Somen, auf Paul Egon Cahns Bitte um Hilfe war einigermaßen reserviert: der junge Mann wollte dringend seine Eltern aus Köln nachholen, aber es fehlten ihm die £100, die zum Erwerb von Einreisegenehmigungen an das britische Kolonialamt in Mombasa zu entrichten waren. Die Finanzlage des Committee war bis aufs äußerste gespannt, so dass Somen dem jungen Mann nur raten konnte, bei der Einwanderungsbehörde in Nairobi einen ordnungsgemäßen Antrag einzureichen. Dieser hätte er zu beweisen, dass er in der Lage sei, für den Unterhalt seiner Eltern aufzukommen und dass er die Gebühr für die Genehmigungen entrichtet habe. Dann sei es immerhin möglich, dass die Behörde seinem Gesuch stattgeben würde, gesetzt den Fall, das Refugee Committee würde eine finanzielle Bürgschaft übernehmen. Auch dies, betonte Somen, sei von Paul Egon Cahns Fähigkeit abhängig, zu beweisen, dass die Eltern weder dem Committee noch der Lokalverwaltung finanziell zur Last fallen würden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Egon Cahn, AR 25431

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Kunst in Kisten

Die Erbin eines Kunstsammlers trifft Vorbereitungen zur Auswanderung

„Gegen die Ausreise der Spitzer, Hanna, Privatlehrerin habe ich keine Bedenken.“

Wien

Hätte die Geschichte Österreichs einen normalen Verlauf genommen, so wäre die Privatlehrerin Hanna Spitzer wohl in Wien geblieben und als geachtete Bürgerin dort alt geworden. Als Tochter des 1923 verstorbenen Juristen und Kunstförderers Dr. Alfred Spitzer war sie Miterbin einer bedeutenden Kunstsammlung, die Werke solcher Größen wie Kokoschka und Slevogt umfasste. Auch Egon Schiele war darin vertreten – u.a. mit einem Portrait Alfred Spitzers, der sein Rechtsanwalt und Förderer gewesen war und seinen Nachlass verwaltet hatte. Doch die Flut antisemitischer Maßnahmen, die durch den „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland losgetreten worden war, machte das Bleiben unerträglich und gefährlich: Diese Abschrift einer steuerlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung vom 24. November 1938 gibt Zeugnis von Hanna Spitzers Bemühungen, die Papiere zusammenzustellen, die für die Auswanderung benötigt wurden. Den Transport von 11 Kisten Umzugsgut, darunter Bilder, nach Melbourne und eine weitere Sendung an die Adresse ihrer Schwester Edith Naumann in Haifa hatte sie bereits im Januar in die Wege geleitet.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Hanna Spitzer, AR 25537

Original:

Archivbox 2, Ordner 2

Brandstiftung

Nazi-Bürokratie

„Eine Baugenehmigung für die Wiedererrichtung der Synagoge an derselben Stelle ist ausgeschlossen.“

Chemnitz

Während die jüdische Bevölkerung der Stadt versuchte, die brutale Gewalt zu verarbeiten, die sie zwei Tage zuvor erlebt hatte – die prächtige Synagoge war in der Pogromnacht in Brand gesteckt und zerstört und 170 Mitglieder der Gemeinde ins KZ Buchenwald deportiert worden – wurde der Vertreter der Gemeinde, der Kaufmann Josef Kahn, vom Bürgermeister der Stadt kontaktiert: mit unfassbarem Zynismus forderte er, die Ruinen der Synagoge, die in der Nacht vom 9. auf den 10.11. „in Brand geraten“ sei, seien innerhalb von drei Tagen zu entfernen. Falls der Anordnung nicht innerhalb des angegebenen Zeitrahmens Folge geleistet werde, werde das Baupolizeiamt die Räumung auf Kosten des Besitzers veranlassen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Chemnitz, Sammlung der Juedischen Gemeinde. AR 813

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Fluch der Bürokratie

Warten auf ein "Kapitalistenzertifikat"

„Zur Zeit gibt es überhaupt keinen Vorzugs-Zertifikatstransfer. Auf dem letzten Vorzugstransfer sind im ganzen 27 Familien nach Palästina hereingekommen. Eine neue Transfertranche soll im Winter aufgelegt werden, aber man wird nicht damit rechnen können, dass Ledige dabei irgendwie berücksichtigt werden können, insbesondere, wenn sie sich schon im Ausland aufhalten.“

Konstanz/Zürich

Nach seinem Studium in Deutschland war Dr. Herbert Mansbach, ein junger Zahnarzt aus Mannheim, in die Schweiz gegangen, um zu promovieren und sich auf Kieferorthopädie zu spezialisieren. Dies, so glaubte er, war eine gesuchte Fähigkeit in Palästina, wohin er auszuwandern hoffte. Die Einwanderung nach Palästina war jedoch durch die Briten erheblichen Einschränkungen unterworfen: Dr. Mansbachs Freund Alfred Rothschild, ein Justizrat im Ruhestand, teilte ihm mit, es seien zur Zeit keine Vorzugs-Einwanderungszertifikate zu haben und das Zulassungsverfahren für ein „Kapitalistenzertifikat“ (eine Art von Zertifikat, dessen Vergabe davon abhängig war, ob der Antragsteller den Besitz von mindestens £1000 nachweisen konnte und keiner Quotierung unterlag) liefe noch. Die Angelegenheit war sehr dringend, denn Mitte Oktober war Dr. Mansbachs Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz abgelaufen. Rothschild rechnete damit, dass falls der Antrag auf ein gewöhnliches Zertifikat erfolgreich sein würde, die Schweizer Behörden seinem Freund gestatten würden, einstweilen im Land zu bleiben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herbert Joseph Mansbach, AR 7073

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Neues Unternehmen, altes Netzwerk

Was bedeutet Auswanderung für einen Unternehmer?

„Erlauben Sie mir im Bezug auf meine Bürgschaft noch auszuführen, dass ich mein jährliches Einkommen nicht angegeben habe, weil die Hochhauser Leather Co Inc. erst vor kurzer Zeit gegründet wurde.“

NEW YORK/WIEN

In Wien war Hans Hochhauser gemeinsam mit seinem Bruder erfolgreicher Inhaber eines Ledermanufaktur- und Exportunternehmens gewesen. Doch bereits einen Tag nach dem „Anschluss“ hatte er alle Zelte abgebrochen und war mit seiner Frau Greta und seiner Tochter Ilse auf abenteuerlichem Wege aus Österreich geflohen: abgewiesen an der tschechischen Grenze, gelangte die Familie mit dem Zug in die Schweiz und von dort mit einem gecharterten Flugzeug nach England, von wo aus sie schließlich ihren Weg in die Vereinigten Staaten fand. In New York angekommen, musste Hans Hochhauser von vorn beginnen: seine neue Firma hieß „Hochhauser Leather Co Inc.“ In einem Schreiben an das amerikanische Generalkonsulat in Wien vom 14. Oktober 1938, mit dem er eine Bürgschaft für seinen Cousin Arthur Plowitz übermittelte, wies er darauf hin, dass er mit seiner neuen Firma zwar noch am Anfang stehe, aber auf große Teile seines alten Handelsnetzwerks zurückgreifen könne.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Hans und Grete Hochhauser, AR 12070

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Vom Arzt zum „Krankenbehandler“

Diskriminierende Vorschriften für jüdische Ärzte

Die NS-Behörden nannten jüdische Ärzte fortan nur noch “Krankenbehandler” und zwangen sie, ihre Praxisschilder klar zu kennzeichnen.

BERLIN

3 ½ cm soll die Dreieckshöhe des Davidssterns betragen, den jüdische „Krankenbehandler“ künftig an ihrem Praxisschild anzubringen haben. Die Vorgaben im Schreiben der Berliner Reichsärztekammer vom 12. Oktober 1938 sind peinlich genau – und sie hören nicht bei Milimeterangaben auf: „Himmelblau“ solle die Hintergrundfarbe des Schildes sein, der Davidstern in der linken oberen Ecke die Farbe „zitronengelb“ haben. Mit dem 30. September war laut Reichsbürgergesetz die Approbation jüdischer Arzte erloschen; wenigen nur wurde erlaubt, als „Behandler“ ausschließlich jüdischer Patienten weiter zu praktizieren. Dass die Gängelung ihren Höhepunkt jedoch noch nicht erreicht hat, deuten die Verfasser dieses Schreibens ebenfalls noch an: um den Forderungen des „Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen“ (Inkrafttreten 1. Januar 1939) Rechnung zu tragen, sei es ratsam, seinen Namen auf dem Praxisschild doch am besten schon jetzt mit „Israel“ oder „Sara“ ergänzen – so könne man spätere Unkosten vermeiden.

 

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Sammlung:

Rundschreiben der Reichsärztekammer über die Bestimmungen für "Jüdische Behandler", Sammlung Familie Hirschberg

Zurückgewiesen

Keine Einreisegenehmigung für Anneliese Riess

GENF/TURIN

Eigentlich war Anneliese Riess Archäologin. Doch nach ihrer Promotion in Rom im November 1936 hatte sie als Ausländerin keine Chance, in ihrem Traumberuf angestellt zu werden. 1937 absolvierte sie daher in Genf einen Kurs als Kinderschwester und kehrte dann nach Rom zurück. Als die faschistische Regierung in Italien im Herbst 1938 ausländische Juden aufforderte, innerhalb eines halben Jahres das Land zu verlassen, erklärte sich die Schwesternschule in Genf bereit, Anneliese bis zur Ankunft ihres Visums für die Vereinigten Staaten als Praktikantin aufzunehmen. Aufgrund der fremdenfeindlichen und antisemitischen Einwanderungspolitik der Schweiz verweigerte man der jungen Frau jedoch die Einreise. In einem Brief der Schule vom 10. Oktober wurde ihr mitgeteilt, Fälle dieser Art seien unter den Schülerinnen derartig häufig, dass sich die Leiterin der Schule, Frl. Borsinger, ihr nicht zu einer Aufenthaltsgenehmigung verhelfen könne. Sie habe aber ein Schreiben an das Konsulat beigelegt, das bestätige, Anneliese Riess werde dringend in der Krankenpflegeschule erwartet – allerdings als Schülerin. Dies, so schrieb man, sei die einzige Möglichkeit für sie, ins Land gelassen zu werden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Annelise Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Antisemitismus auch in Italien

antisemitismus-auch-in-italien

„Die Ehe zwischen ,arischen‘ Italienern und Mitgliedern der hamitischen (nordafrikanischen), semitischen oder anderen ,nicht arischen‘ Rassen war verboten.“

Rom

Der faschistische Großrat Italiens – ein zentrales Organ des Mussolini-Regimes – veröffentlichte Anfang Oktober eine „Erklärung über die Rasse“, die an vielen Stellen an die Nürnberger Gesetze erinnert. Durch und durch antisemitisch, legte die Schrift zahlreiche Regelungen zur Ehe, zur italienischen Staatsbürgerschaft und zur Tätigkeit von Juden im italienischen Staatsdienst fest. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 9. Oktober, nur wenige Tage nach seiner Veröffentlichung, über das faschistische Regelwerk. Fortan sollten „Mischehen“ zwischen „arischen“ Italienern und „Mitgliedern der hamitischen (nordafrikanischen), semitischen oder anderen „nicht arischen“ Rassen“ verboten sein. Eine weitere Regel traf besonders auch diejenigen Juden hart, die aus Österreich und Deutschland nach Italien emigriert waren: Alle Juden, die sich nach 1919 in Italien niedergelassen hatten, sollten die italienische Staatsbürgerschaft verlieren und ausgewiesen werden.

 

 

11 Kisten Besitz

Der Hausrat wird verschifft

Amtl. Hausbeschaugebühr und SS. Überwachungskommission drei 1/2 Tage: RM 75

WIEN

Ihren Visums-Antrag hatten der Zahnarzt Max Isidor Mahl und seine Frau Etta, eine Textilarbeiterin, schon vor einigen Monaten beim amerikanischen Konsulat in Wien eingereicht. Seitdem warteten Sie. Etta war gebürtige Polin, Max Isidor gebürtiger Ukrainer, und die amerikanischen Einwanderungsquoten für diese beiden Länder waren bereits gefüllt. Doch die Zeit drängte: diese Rechnung zeigt, dass die Mahls bereits in Oktober ihren kompletten Haushalt in die Vereinigten Staaten verschiffen ließen und damit in Sicherheit bringen wollten. Der Transport von Wien nach Hamburg und dann mit einem Frachter nach New York war eine teure Angelegenheit: Fast 800 Reichsmark kostete es das Ehepaar Mahl, die 11 Kisten mit ihrem Hausrat außer Landes bringen zu lassen.

 

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Lucie Blau Familie, AR 25419

Original:

Archivbox 1, Ordner 15

Au revoir Paris?

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

„Es ist mir unerhört wichtig, dass er mir die Erlaubnis gibt noch zehn Kameraden nach Mexiko hereinzubringen.“

Paris/Mexiko

Der Brief, den Joseph Roth an seinen Vetter Michael Grübel in Mexiko schickt, ist kurz. Zwar in vertrautem Ton, ansonsten aber auf die wichtigsten organisatorischen Angelegenheiten beschränkt, dankt Roth ihm für die Vermittlung eines Kontaktes zu einem Herrn Dor. Com. Silvio Pizzarello de Helmsburg. Dieser soll Roth dabei helfen, „zehn Kameraden nach Mexiko hereinzubringen.“ Wen genau Roth hier im Blick hat, bleibt offen. Außerdem bittet Roth seinen Vetter, sich auch um eine Einreisebewilligung für ihn selbst zu bemühen. 1933 war der berühmte Schriftsteller und Journalist nach Paris emigiert. Von dort aus hatte er seither zahlreiche Novellen und Essays veröffentlicht und für die Emigrantenpresse in verschiedenen Ländern geschrieben. Nun aber schien auch Roth mit dem Gedanken zu spielen, Europa zu verlassen.

 

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

Original:

Archivbox 2, Ordner 4

Paragraphen, Paragraphen

Vorherige mündliche und schriftliche Anfragen und Gesuche sind zwecklos.

Vorherige mündliche und schriftliche Anfragen und Gesuche sind zwecklos.

WIEN

Das Leben vieler Juden in Österreich war innerhalb eines halben Jahres aus den Angeln gehoben worden. Berufsverbote, Arisierung, Enteignungen oder der Entzug der Staatsbürgerschaft. Nach dem „Anschluss“ fanden sich viele österreichische Juden in unsicheren und chaotischen Zuständen wieder. Umso zynischer mag es vielen von ihnen erschienen sein, mit einer komplizierten, teils pedantischen Visums-Bürokratie konfrontiert zu werden. Ein Schreiben vom 27. September 1938 des amerikanischen Generalkonsulates an Tony (Antonie) und Kurt Frenkl verdeutlicht dies: Ihr Visums-Antrag könne frühestens in Monaten entgegengenommen werden. Die Quoten für mitteleuropäische Einwanderer seien erschöpft. Um auf eine Warteliste für Visen gesetzt zu werden, mussten die Antragsteller einen Vormerkbogen ausfüllen. Und um „Verzögerungen zu vermeiden“, solle jeweils pro Person eine Bürgschaft eingereicht werden. Tony und Kurt mussten also weiter warten – und sich auf die nächsten bürokratischen Hürden gefasst machen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Tony Frenkl, AR 11032

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Jahreschronik 1938

Berufsverbot für jüdische Rechtsanwälte

Diese antisemitische Karikatur zeigt einen jüdischen Anwalt der deutsche Bauern um Geld und Güter betrügt. Elvira Bauer, Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud auf seinem Eid (Nuremberg: Stürmer Verlag, 1936). Leo Baeck Institute.

Die berufliche und finanzielle Situation für jüdische Anwälte und Juden, die in anderen rechtlichen Berufen tätig waren, verschlechtert sich zusehends. Viele von ihnen sind gezwungen, ihre Anwaltskanzleien zu schliessen, da sich ihre Klienten abwenden oder, wenn sie jüdisch sind, fliehen. Zu Beginn des Jahres 1938 arbeiteten noch rund 1750 „nichtarische“ Rechtsgelehrte in Deutschland. Am 27. September verhängen die Nazis ein Berufsverbot für alle noch praktizierenden jüdischen Anwälte. Das Verbot tritt am 30. November in Kraft, in Österreich am 31. Dezember. Von nun an sind nur noch einige wenige jüdische Rechtsanwälte aktiv. Als sogenannte Konsulenten konnten sie – ausschliesslich jüdische – Klienten beraten und vertreten.

Zur Jahreschronik 1938

Frau Martha Braun, einstweilen

Martha Braun, nicht Martha “Sara” Braun

Wien

Der Pass Martha Brauns, einer Wiener Hausfrau, wurde am 16. September ausgestellt, wärend des kurzen Zeitfensters zwischen dem Erlass der Zweiten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen (17. August 1938) und deren Inkrafttreten (Januar 1939). Laut dieser Verordnung hatten Juden ihrem Vornamen den Zweitnamen „Sara“ bzw. „Israel“ hinzuzufügen. Da das Datum der Ausstellung in den September fiel, kam Frau Braun ohne den stigmatisierenden Zusatz davon – einstweilen.

QUELLE

Institution:

The United States Holocaust Memorial Museum

Sammlung:

Reisepass von Martha Braun

Dringend gesucht: Bürgen

Bürgschaften von mindestens zwei Verwandten, dazu Dokumente von Banken, Polizeibehörden...Kurt hat mit den hohen Einwanderungs-Hürden zu kämpfen

„Es versteht sich, dass wir an alle nur irgendwie Bekannten in aller Welt schrieben und schreiben, ohne jedoch bisher etwas Positives erreicht zu haben.“

Genua/East Springfield, Pennsylvania

Keinen langen Brief, nur eine eng beschriebene Postkarte erhielt Ludwig Guckenheimer von seinem alten Freund Kurt – doch diese paar Zeilen zeichnen eine lebendige Momentaufnahme der Situation, in der sich sein Freund gerade befand. Abgeschickt hatte Kurt die Karte am 14. September in Genua. Von hier aus versuchte er bereits seit einiger Zeit, seine Emigration vorzubereiten. Kurt wusste,„dass es anfängt zu eilen.“ Bislang scheiterte es für ihn einerseits am fehlenden Geld, vor allem aber an fehlenden Bürgen. Viele Länder hatten die finanziellen und bürokratischen Hürden zur Immigration in den lezten Jahren enorm erhöht. Die Vereinigten Staaten etwa erwarteten neben zahlreichen offiziellen Bescheinigungen Bürgschaften mindestens zweier enger Angehöriger. Kurt aber ließ sich nicht entmutigen. Bemühungen seines Schwagers in Dallas stimmten ihn hoffnungsvoll.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gertrude Guckenheimer, AR 10042

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Nicht wegen Bettelns vorgemerkt

Ein polizeiliches Führungszeugnis im Jahr 1938

„…hiermit bestätigt, dass gegen ihn während der letzten fünf Jahre keinerlei bedenkliche, die Reise behindernden Tatsachen inbesondere auch nicht wegen Bettelns vorgemerkt sind.“

Wien

Es mag auf den ersten Blick abstrus erscheinen: Einem Versicherungsangestellten, dem Wiener Franz Resler, wird im polizeilichen Führungszeugnis bestätigt, er sei in der Vergangenheit inbesondere „nicht wegen Bettelns“ aufgefallen. Auf den zweiten Blick aber ist es genau die Betonung des Bettelns, die auf all die existenziellen Krisen verweist, in denen sich viele österreichische Juden 1938 zunehmend befanden. Mit dem „Anschluss“ hatten die Nazis den wirtschaftlichen Druck auf die in Österreich lebenden Juden enorm erhöht. „Arisierungen“ von Unternehmen und Berufsverbote entzogen zahlreichen Personen die Lebensgrundlage. Franz Resler und seine Frau Anna planten deswegen ihre Ausreise nach Argentinien, dort lebte Franz Reslers Schwester Fanny bereits seit den 1920er Jahren.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Polizeiliches Führungszeugnis für Franz Resler, zum Zweck der Ausreise nach Argentinien; Arch. Inv. Nr. 5769/3

Und wieder einmal: warten

Die Einreise-Quoten sind strikt

„Es wird Ihnen mitgeteilt, dass die Quote jetzt erschöpft ist.“

Berlin/Breslau

Zeitpunkt: ungewiss. Das amerikanische Generalkonsulat Breslau nannte Carl Proskauer und seiner Familie noch nicht einmal ein Datum in weiter Ferne, an dem sie sich erneut um US-Visa hätten bewerben können. Die Quote sei ausgeschöpft. Gemeint war die amerikanische Quote, die festlegte, wie viele Personen pro Geburtsland (nicht Land der Staatsbürgerschaft!) jährlich in die USA einwandern durften. Und mit dem Jahr 1938 war die Anzahl von Visums-Bewerbungen aus Deutschland rasant gestiegen. Für individuelle Schicksale wie das von Curt Proskauer und seiner Familie bedeutet das im Einzelfall: ein weiteres Mal quälende Wartezeiten und aufreibender Papierkram. Denn viele der Dokumente, die der Breslauer Zahnarzt und Medizin-Historiker Curt Proskauer bereits im amerikanischen Generalkonsulat eingereicht hatte, verloren nach einer gewissen Zeit auch wieder ihre Gültigkeit. Ob sich Curt Proskauer bis dahin erneut um ein Visum bewerben wird können: ungewiss!

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Proksauer, AR 25641

Original:

Archivbox 2, Ordner 30

auswege-schwinden

Die Härte schweizerischer Flüchtlingspolitik

„Begründung: Widerrechtliche Einreise“

Zürich

Die Begründung war kurz und knapp, „Widerrechtliche Einreise“ stand auf dem Polizeibericht, der Kurt Kelman mit einer einjährigen Einreisesperre in die Schweiz und Liechtenstein belegte. Bei Verstoß drohten dem 19-jährigen Studenten aus Wien bis zu sechs Monate Gefängnis und eine hohe Geldstrafe. Kurt Kelman war zuvor von Österreich in die Schweiz eingereist und schließlich von der Zürcher Polizei verhaftet worden. Schon kurz nach dem „Anschluss“ hatte die Schweiz eine Visumspflicht für Österreicher eingeführt. Und in den vorangegangenen Wochen hatte sie ihre bislang schon restriktive Einwanderungspolitik nochmals verschärft: Grenzkontrollen und vermehrte Zurückweisungen an der Grenze wurden Alltag. Besonders hart traf es österreichische Juden wie den Studenten Kurt Kelman. Denn seit dem „Anschluss“ hatten die Nazis den Druck auf Juden, zu emigrieren, enorm erhöht.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt Kelman, AR 11292

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Kontakte sind Geld wert

Agnes Graetz nutzt ihr Netzwerk, um ihrer Tochter die Auswanderung in die USA zu ermoeglichen

„Ich bitte Sie, mir, wenn irgend möglich in Kürze zu schreiben, ob Sie eine Möglichkeit sehen, die nicht - wie das jetzt üblich zu sein scheint - unwahrscheinlich hohe Garantien und Rechtsanwaltskosten erfordert.“

Luzern

Eine Krankheit auf Reisen zwang Wilhelm Graetz 1938, seinen Aufenthalt in der Schweiz auszudehnen. Angesichts der sich zuspitzenden Situation entschloss er sich, sein Zuhause in Berlin aufzugeben. Das vormals gut situierte Ehepaar konnte seinen vier erwachsenen Kindern finanziell nicht unter die Arme greifen, hatte aber den Vorteil weit verzweigter Kontakte: Wilhelm Graetz war Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gewesen und kannte als Leiter des deutschen „ORT“ vielerorts potentielle Helfer. Im August führte ihn eine Reise nach Ungarn. Am 27. nutzte seine Frau Agnes die Zeit, bei dem bekannten Territorialisten und „ORT“-Führer David Lvovicz um Hilfe für eine ihrer drei Töchter zu bitten, die dringend eine Bürgschaft brauchte, um nach Amerika auswandern zu können.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung William Graetz, AR 4121

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Neues von den Kleinman(n)s

Kurt in der Schweiz, Schwester und Schwager mögen folgen

„Mein jüdischer Name ist Elke, und da ich Jiddisch spreche und Du Deutsch, sollten wir einander sehr gut verstehen können.“

NEW YORK/BASEL

Der Wiener Kurt Kleinmann und die New Yorkerin Helen Kleinman waren einander nie persönlich begegnet. Nachdem Kurt die kreative Idee hatte, eine Familie ähnlichen Namens in New York zu kontaktieren, in der Hoffnung, die amerikanischen Namensvettern wären vielleicht bereit, ihm bei der Beschaffung einer Bürgschaft behilflich zu sein, entwickelte sich eine zunehmend intensive Korrespondenz zwischen dem jungen Mann und der Tochter der Kleinmans. Helen nahm die Angelegenheit entschlossen in die Hand: Drei Monate nach Kurts erster Kontaktaufnahme mit den Kleinmans, als Helen diesen Brief schrieb, war nicht nur Kurts Auswanderung in Bearbeitung. Sie hatte auch eine Tante aktiviert, für seinen Cousin eine Bürgschaft zu übernehmen, mit dem ihm in der Zwischenzeit die Flucht in die Schweiz gelungen war. Außerdem bestand Hoffnung, dass eine andere Tante dasselbe für Kurts Schwester und Schwager tun würde, die noch in Wien festsaßen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt und Helen Klenmann, AR 10738

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Zugzwang

Joachim Weinert erlebt Drängen und Warten im Kampf mit der Bürokratie

„Ich behalte mir strafrechtliche Maßnahmen gemäß § 33 Dev.V.O. vor und setze ihnen zur Erledigung eine Frist von 3 Tagen.“

WIEN

Innerhalb der ersten Monate nach der Annexion Österreichs durch die Nazis hatte Dr. Joachim Weichert, ein in der Tschechoslowakei geborener Rechtsanwalt, den größten Teil seiner Klienten verloren. Er hatte keine Wahl, als mit der Zusammenstellung der für die Emigration notwendigen Dokumente zu beginnen. Im Juni wurde die Familie vom Generalkonsulat der Vereinigten Staaten benachrichtigt, gültige Bürgschaften und andere Dokumente für sie seien für sie aus Amerika eingetroffen. Da jedoch die tschechische Quote für den Augenblick erschöpft war, wurden sie auf eine Warteliste gesetzt. Außerdem wurde ihnen Mitteilung gemacht, dass innerhalb der nächsten acht Monate nicht mit dem Erhalt der Visen zu rechnen sei. Am 22. August war es fast zwei Wochen her, dass Dr. Weichert von der Devisenstelle in Wien aufgefordert worden war, innerhalb einer Woche eine detaillierte Liste seines Besitzes aufzustellen. In dieser offiziellen Mitteilung vom 22. August wird ihm ein Ultimatum von drei Tagen gestellt, nach dessen Ablauf er mit strafrechtlichen Massnahmen rechnen müsse.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Weichert Familie, AR 25558

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Tagesgeschehen zum 18. Geburtstag

Hugo Jellinek gratuliert seiner Tochter und kommentiert die aktuellen Entwicklungen

„Böhmen ist eine harte Nuss, an der sich diese Räuberbande die Zähne ausbrechen werden [sic] oder sagen wir eine Buchtel, an der diese wahnsinnig gewordenen Teufel ersticken werden. Trotz der vielen hiesigen deutschen Hochverräter ist [sic] Regierung und Volk einig in dem unerschütterlichen Willen, die Freiheit und demokratischen Errungenschaften bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Hugo Jellinek war stolz auf seine Tochter Gisella, die während der Hachschara zu einer glühenden Zionistin geworden und wenige Monate zuvor als Teil einer Gruppe wagemutiger Jugendlicher nach Palästina eingewandert war. Zum 18. Geburtstag schickte er seiner erstgeborenen Tochter nicht nur Glückwunsche, sondern ließ sie auch ausführlich an seinen Gedanken zum Tagesgeschehen teilhaben: Deutsche Manöver entlang der tschechoslowakischen Grenze beunruhigten ihn sehr, doch er war überzeugt, anders als im Fall Österreichs würde die Wehrmacht mit scharfem Widerstand zu rechnen haben. Das Misstrauen und der Mangel an Solidarität wohlhabender Brünner Juden gegenüber jüdischen Flüchtlingen erfüllten ihn mit Bitterkeit. Auch war er sehr besorgt wegen der Räumungsbescheide, die bei österreichischen Juden eingingen. Bei allen Sorgen und Klagen verschaffte eine neue Damenbekanntschaft einen Lichtblick.

Kündigung, weil Jude

Wohnprekariat trifft Juden in Wien

„Der Gekündigte ist Jude und kann den anderen Mietbewohnern [sic] ein Zusammenwohnen nicht länger zugemutet werden.“

WIEN

Bis 1938 lebten etwa 60.000 Juden im Wiener Bezirk Leopoldstadt, was ihr den Spitznamen „Mazzesinsel“ einbrachte. Zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Aufstieg des „Austrofaschismus“ 1934 hatte die sozialdemokratische Stadtregierung begonnen, Sozialwohnungen zu schaffen. Zur Zeit des Anschlusses herrschte in der Stadt ein massiver Wohnungsmangel. Die Nazis begannen, Juden aus Sozialwohnungen zu delogieren. Angesichts der Neigung der Polizei, Übergriffe auf jüdischen Besitz zu ignorieren, war es für antisemitische Vermieter leicht, diesem Beispiel zu folgen: Judesein genügte als Kündigungsgrund. Als der Hausbesitzer Ludwig Munz das Kündigungsformular für seine Mieter Georg und Hermine Topra ausfüllte, gab er gleich drei Gründe an: Angeblichen Eigenbedarf, Mietrückstand und Rücksicht auf die Nachbarn, denen ein Zusammenleben mit Juden nicht zugemutet werden könne.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Inv. Nr. 5171/2

Nichts Nachteiliges bekannt

Seelsorgestelle bescheinigt Edmund Wachs' Unbedenklichkeit

„Von der gefertigten Seelsorge wird hiermit bestätigt, dass gegen Herrn Edmund Wachs hieramts nichts Nachteiliges bekannt ist.“

Wien

Dieses Zeugnis, ausgestellt vom Rabbinat der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, war nur eines unter einer Vielzahl von Dokumenten, die Edmund Wachs zusammengestellt hatte, um seine Auswanderung in die Vereinigten Staaten zu ermöglichen. Kurz nach dem „Anschluss“ war Wachs in „Schutzhaft“ genommen worden, ein Mittel, das den Nazis durch die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, auch als „Reichstagsbrandverordnung“ bekannt, in die Hand gegeben worden war: Der Reichstagsbrand am 27. Februar 1933, ein Brandanschlag auf das Parlamentsgebäude in Berlin, hatte als Anlass und Rechtfertigung für das Gesetz gedient. Es wurde bereits am darauffolgenden Tag erlassen und legalisierte die willkürliche Festnahme jeder Person, die der mangelnden Loyalität gegenüber dem Regime verdächtigt wurde. Das Gesetz legte den exakten Tatbestand nicht fest und kam weithin gegen Juden und politische Gegner zur Anwendung.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Edmund und Berta Wachs, AR 25093

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Wartenummer

Helina Mayer ist auf Platz 9443 der Warteliste für einen Termin im US-amerikanischen Konsulat

„Sie sind unter der Nummer 9443 in der Warteliste der Visumantragsteller [sic] eingetragen und sollten jede Adresseänderung [sic] prompt mitteilen.“

Stuttgart

Juden waren bei Weitem nicht die einzigen „Unerwünschten“, die mit dem US-Einwanderungsgesetz von 1924 aus dem Land ferngehalten werden sollten. Zum Zeitpunkt der Einführung des Gesetzes waren bereits seit einem halben Jahrhundert Bemühungen im Gang, gewisse Nationalitäten auszuschließen, besonders Chinesen, Japaner und andere Asiaten. Anfang der zwanziger Jahre wurde ein Quotensystem eingeführt, das Einwanderer aus Nordeuropa begünstigte. Trotz der schweren Flüchtlingskrise, die durch die Verfolgung der Juden durch Nazi-Deutschland ausgelöst wurde, erfuhr das System in den dreißiger Jahren keine Anpassung an die dramatischen Umstände. Selbst für Angehörige der bevorzugten Ursprungsländer war die Erfüllung aller bürokratischen Voraussetzungen höchst beschwerlich, und das Warten konnte demoralisierend sein. Wie durch diese vom Generalkonsulat der Vereinigten Staaten in Stuttgart an Helina Mayer aus Mainz ausgestellte Karte dokumentiert, konnten die Antragsteller erwarten, gemäß ihrer Wartenummer zu einer Untersuchung vorgeladen zu werden, gesetzt den Fall, sie hatten „zufriedenstellende Beweise“ vorgelegt, dass ihr Lebensunterhalt in den Vereinigten Staaten gesichert sei.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Joan Salomon Familie, AR 25380

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Wehrdienst

Seine jüdische Abstammung befreit Bruno Blum vom Wehrdienst

„Es wird bescheinigt, dass Herr Bruno Blum, geboren am 11. Aug. 1907 in Buczacz, laut den hieramts vorgelegten Urkunden Volljude ist.“

WIEN

Artikel 1 von §15 des Reichswehrgesetzes (verabschiedet am 21. Mai 1935) legte fest: „Arische Abstammung ist eine Voraussetzung für den aktiven Wehrdienst“. Nach der Gesetzesänderung des Jahres 1936 war die Ausdrucksweise noch klarer: „Ein Jude kann nicht aktiven Wehrdienst leisten“. Um Erlaubnis zu bekommen, das Land zu verlassen, mussten männliche Auswanderungsanwärter der örtlichen Militärbehörde ein Dokument vorlegen, das ihre jüdische Abstammung nachwies und damit bewies, dass sie sich durch Auswanderung nicht ihrer Wehrpflicht zu entziehen beabsichtigten. Im Rahmen der Formalitäten, die Bruno Blum zu erledigen hatte, um eine Auswanderungsgenehmigung zu erhalten, bestätigte am 4. August 1938 das Matrikelamt der Israelitischen Kultusgemeinde Wien seine jüdische Abstammung auf beiden Seiten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Blum Familie, AR 25132

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Erfasst, gezählt, registriert

Erhebungen zu jüdischen Einwohnern im Landkreis Dillkreis

Dillenburg

Am 18. Juli verfasste der Landrat des hessischen Dillkreises einen Rundbrief an die Bürgermeister der Städte Herborn, Dillenburg und Haigern sowie die Gendarmerie-Beamten des Landkreises mit der Aufforderung, vierteljährlich eine Aufstellung der in der jeweiligen Gemeinde lebenden jüdischen Bevölkerung anzufertigen. Die Zählung in Herborn ergab, dass in der Stadt am 30. Juni 1938 51 Juden und Jüdinnen lebten und innerhalb der letzten drei Monate nur drei Personen ihre Heimat verlassen hatten. Diese auf lokaler Ebene ansetzende statistische Erfassung und Beobachtung der jüdischen Bevölkerung ergänzte andere, 1938 für das gesamte Reich erlassene, Maßnahmen zur Registrierung, wie etwa die zwangsweise Vermögensanmeldung, die Kennkartenpflicht oder die Änderung der Namen.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Rundbrief des Landrates des Dillkreises zur Erfassung der jüdischen Einwohner mit Antwortvermerk der Stadt Herborn ; Inv. Nr. Do2 88/1738.4

Aus dem „Roten Wien“ vertrieben

Die Nutzung öffentlichen Wohnungsbaus verwehrt, wird auch die Einreise in die Schweiz nicht gestattet

„Indem wir uns auf Ihre Eingabe vom 10. Juni 1938 berufen, müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass Ihrem Gesuche um Bewilligung der Einreise in die Schweiz zur Zeit nicht entsprochen werden kann.“

Bern/Wien

Für einen eingefleischten Sozialdemokraten wie den Journalisten, Übersetzer und Schriftsteller Maurus (Moritz) Mezei, müssen die Veränderungen, die unmittelbar nach der ungehinderten Annexion des Landes durch Nazi-Deutschland in Österreich Platz griffen, doppelt problematisch gewesen sein. Während der Ära des „Roten Wien“, der ersten Zeit demokratischer Regierung der Stadt von 1918 bis 1934, war Familie Mezei in den Karl-Marx-Hof, einen Gemeindebau (Komplex von Sozialwohnungen) gezogen. Von 1938 an waren „nicht-arische“ Familien wie die Mezeis mit der Ausweisung aus dem Komplex bedroht. Während nach dem Regierungswechsel anfänglich der Mieterschutz auch für Juden in Kraft blieb, galt er nicht für Gemeindebauten. Am 10. Juni hatte Mezei die Einwanderung in die Schweiz beantragt, doch die Antwort, geschrieben am 14. Juli, fiel negativ aus: Nur wenn er ein Einreisevisum für ein überseeisches Land beschaffe, würden die Schweizer Einwanderungsbehörden seinen Fall erneut überprüfen und ihm möglicherweise vorläufiges Asyl gewähren.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Brief der Eidgenössischen Fremdenpolizei an Maurus Mezei ; Inv. Nr. 20991/ 26

Papiere in Ordnung?

Die Unbedenklichkeitsbescheinigung eines Zehnjährigen

„Gegen die Ausreise des Hans Weichert, Gymnasiast (10 Jahre) [...] habe ich keine Bedenken.”

Wien

Juden, die sich der Schikane und physischen Gefahr unter den Nazis durch Auswanderung entziehen wollten, mussten eine große Anzahl von Dokumenten beschaffen, um sowohl die Nazi-Behörden als auch die Behörden im Zielland zu befriedigen. Um Erlaubnis zu erhalten, das Land zu verlassen, mussten die Antragsteller nachweisen, dass sie dem Reich keine Steuergelder schuldeten. Zusätzlich zu den Steuern, die allen Staatsangehörigen auferlegt waren, mussten zukünftige Auswanderer die sogenannte „Reichsfluchtsteuer“ zahlen. Das ursprüngliche Ziel dieser während der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre eingeführten Steuer war, ein weiteres Ausbluten der Kassen durch Verlust von Steuereinkünften zu verhindern. Unter den Nazis jedoch war das Hauptziel, Juden zu schikanieren und auszubluten. Die Steuerbehörden der Nazis leisteten gründliche Arbeit: als Familie Weichert aus Wien, bestehend aus dem Rechtsanwalt Joachim Weichert, seiner Frau Käthe und den Kindern Hans und Lilian, sich auf das Weggehen vorbereiteten, würde selbst für den zehnjährigen Sohn eine steuerliche Unbedenklichkeitserklärung ausgestellt. Die Gültigkeitsdauer betrug einen Monat. Alle Dokumente innerhalb der Gültigkeitsdauer bereit zu haben, wenn die eigene Quotennummer an die Reihe kam, war eine weitere Herausforderung, der sich die Auswanderungswilligen stellen mussten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Weichert Familie Sammlung, AR 25558

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

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