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Wir sehen uns in Genf

Mit neuen Rassengesetzen ist Rom keine Option mehr für Anneliese

„Bitte schreib mir nur nach Genf, wann wir uns sehen können. Ich freue mich schon sehr auf unser Wiedersehen.“

Biel/Villars-sur-Ollon

Bis 1933 spielte ihre jüdische Identität kaum eine Rolle im Leben von Anneliese Riess, einer vollkommen säkularen Studentin der klassischen Archäologie. Sobald jedoch die Nazis an die Macht kamen, war ihr klar, dass sie als Jüdin in Deutschland keine Zukunft hatte. Sie entschloss sich, nach Italien auszuwandern, wo sie promovierte (Rom, 1936). Da die Chancen, in Italien in ihrem Bereich Arbeit zu finden, äußerst gering waren, belegte die junge Frau 1937 einen anspruchsvollen Kurs für Kinderpflegerinnen in Genf. Nach einer Operation im Juni 1938 verbrachte sie mehrere Monate in Villars-sur-Ollon. Im Juli wurde in Italien das Generaldirektorium für Demographie und Rasse eingerichtet, das damit beauftragt war, die Rassengesetze des Landes zu formulieren. Somit fiel Rom als möglicher Zufluchtsort weg. Im selben Monat war der Vater in Amerika angekommen und bemühte sich nun, auch ihr die Einwanderung zu ermöglichen. Diese Postkarte, datiert vom 7. August und an Anneliese in Villars adressiert, war erfrischend frei von jedem Bezug auf die prekären Entwicklungen in Europa und verschaffte ihr die willkommene Aussicht auf ein Wiedersehen mit einem Freund inmitten aller Unsicherheit.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Anneliese Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, Ordner 9

Wartenummer

Helina Mayer ist auf Platz 9443 der Warteliste für einen Termin im US-amerikanischen Konsulat

„Sie sind unter der Nummer 9443 in der Warteliste der Visumantragsteller [sic] eingetragen und sollten jede Adresseänderung [sic] prompt mitteilen.“

Stuttgart

Juden waren bei Weitem nicht die einzigen „Unerwünschten“, die mit dem US-Einwanderungsgesetz von 1924 aus dem Land ferngehalten werden sollten. Zum Zeitpunkt der Einführung des Gesetzes waren bereits seit einem halben Jahrhundert Bemühungen im Gang, gewisse Nationalitäten auszuschließen, besonders Chinesen, Japaner und andere Asiaten. Anfang der zwanziger Jahre wurde ein Quotensystem eingeführt, das Einwanderer aus Nordeuropa begünstigte. Trotz der schweren Flüchtlingskrise, die durch die Verfolgung der Juden durch Nazi-Deutschland ausgelöst wurde, erfuhr das System in den dreißiger Jahren keine Anpassung an die dramatischen Umstände. Selbst für Angehörige der bevorzugten Ursprungsländer war die Erfüllung aller bürokratischen Voraussetzungen höchst beschwerlich, und das Warten konnte demoralisierend sein. Wie durch diese vom Generalkonsulat der Vereinigten Staaten in Stuttgart an Helina Mayer aus Mainz ausgestellte Karte dokumentiert, konnten die Antragsteller erwarten, gemäß ihrer Wartenummer zu einer Untersuchung vorgeladen zu werden, gesetzt den Fall, sie hatten „zufriedenstellende Beweise“ vorgelegt, dass ihr Lebensunterhalt in den Vereinigten Staaten gesichert sei.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Joan Salomon Familie, AR 25380

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Faschismus in Amerika?

Jüdische Einwanderer warnen vor der Zerbrechlichkeit der Demokratie

„Aus dem hier Dargelegten ergibt sich für uns jüdische Einwanderer, die wir den Faschismus am eigenen Leib erfahren haben, dass wir alle Kräfte anspannen müssen, um den Fortbestand der USA als eines demokratischen Staatswesens zu sichern. Auch hier sind einflussreiche Gruppen am Werk, die Errungenschaften der Demokratie zu untergraben.“

NEW YORK

In der August-Ausgabe des Aufbau bekam eine Gruppe nicht näher identifizierter junger Einwanderer Gelegenheit, zum Schutz und zur Aktivierung der Demokratie in den Vereinigten Staaten aufzurufen: Laut ihrer Auffassung waren es durch ungezügelte Aufrüstung entstandene Wirtschaftskrisen in den faschistisch regierten Ländern Europas, die diesen in ihren eigenen Augen die Legitimation zur Konfiszierung jüdischen Vermögens verschafften. Während die Gruppe die Großzügigkeit der Administration und ihre Bereitschaft zu sozialen Reformen zum Nutzen der vor dem Faschismus Geflohenen lobte, warnte sie vor den reaktionären Kräften, die diese Politik angriffen und ihren Versuchen, die Demokratie in den Vereinigten Staaten zu untergraben. Die Redaktionsleitung achtete darauf, sich von der Position der Gruppe hinsichtlich der Rolle der Wirtschaft in der Geschichte zu distanzieren, erklärte aber dennoch, ihr gern den Raum zu geben, vor der aus Einwanderern bestehenden Leserschaft der Zeitung ihre Bedenken auszubreiten.

Évian enttäuscht

Keine Zugeständnisse seitens der internationalen Gemeinschaft

„Wie immer sind wir Juden lediglich Objekte, nirgends gleichberechtigte Partner. Das festzustellen, ist am 34. Jahrzeittage Theodor Herzls besonders schmerzlich, aber die Tatsache, dass in Évian an 40 jüdische Organisationen als Zaungäste aufmarschiert waren, kennzeichnet zur Genüge, wie wenig auch wir Juden - sogar in den Fragen unserer eigenen Existenz als Volk - Fortschritte gemacht haben.“

Évian-les-Bains

Nach dem „Anschluss“ wurde das Problem der Flüchtlinge aus Deutschland noch dringender. Um das Thema in Angriff zu nehmen, rief US-Präsident Franklin D. Roosevelt zu einer internationalen Konferenz auf, die im Juli 1938 in Évian gehalten werden sollte. Die Konferenz wurde von der jüdischen Öffentlichkeit in Deutschland mit großen Hoffnungen erwartet, doch infolge der Weigerung der internationalen Gemeinschaft, die Einwanderungsquoten den tatsächlichen Bedürfnissen anzupassen, war der Effekt von Évian äußerst begrenzt. Dennoch versuchte das Jüdische Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen, positive Resultate zu präsentieren, indem es beispielsweise auf die Bereitschaft einiger südamerikanischer Länder hinwies, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Ungeachtet des spürbaren Versuchs, die Hoffnung nicht aufzugeben, zeugt der unterschwellige Ton dieses Leitartikels in der Ausgabe des Jüdischen Gemeindeblatts vom 23. Juli nicht von übermäßigem Optimismus.

Verhalten optimistisch

Reichsvertretung der Juden in Deutschland bewertet Évian-Konferenz

„Die Auswanderungspolitik der Reichsvertretung ist korrekt. Darüber hinaus macht die Stellungnahme deutlich, dass die Einrichtung eines internationalen Flüchtlingshilfswerks zu einer Zunahme und Beschleunigung der Auswanderung führen würde.“

Berlin

Laut Bericht der Jewish Telegraphic Agency an diesem Tag des Jahres 1938 veröffentlichte die Reichsvertretung der Juden in Deutschland fünf Tage nach Ende der Konferenz von Évian (6.-15. Juli) ihre erste Stellungnahme zu den Ergebnissen der Zusammenkunft in der Jüdischen Rundschau, dem Organ der zionistischen Bewegung. Die Organisation äußerte sich verhalten optimistisch. Sie prophezeite, das Internationale Flüchtlingskomitee, das während der Konferenz mit dem Ziel gegründet worden war, permanente Neuansiedlung voranzutreiben, werde positive Auswirkungen auf die Auswanderung haben.

Aus dem „Roten Wien“ vertrieben

Die Nutzung öffentlichen Wohnungsbaus verwehrt, wird auch die Einreise in die Schweiz nicht gestattet

„Indem wir uns auf Ihre Eingabe vom 10. Juni 1938 berufen, müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass Ihrem Gesuche um Bewilligung der Einreise in die Schweiz zur Zeit nicht entsprochen werden kann.“

Bern/Wien

Für einen eingefleischten Sozialdemokraten wie den Journalisten, Übersetzer und Schriftsteller Maurus (Moritz) Mezei, müssen die Veränderungen, die unmittelbar nach der ungehinderten Annexion des Landes durch Nazi-Deutschland in Österreich Platz griffen, doppelt problematisch gewesen sein. Während der Ära des „Roten Wien“, der ersten Zeit demokratischer Regierung der Stadt von 1918 bis 1934, war Familie Mezei in den Karl-Marx-Hof, einen Gemeindebau (Komplex von Sozialwohnungen) gezogen. Von 1938 an waren „nicht-arische“ Familien wie die Mezeis mit der Ausweisung aus dem Komplex bedroht. Während nach dem Regierungswechsel anfänglich der Mieterschutz auch für Juden in Kraft blieb, galt er nicht für Gemeindebauten. Am 10. Juni hatte Mezei die Einwanderung in die Schweiz beantragt, doch die Antwort, geschrieben am 14. Juli, fiel negativ aus: Nur wenn er ein Einreisevisum für ein überseeisches Land beschaffe, würden die Schweizer Einwanderungsbehörden seinen Fall erneut überprüfen und ihm möglicherweise vorläufiges Asyl gewähren.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Brief der Eidgenössischen Fremdenpolizei an Maurus Mezei ; Inv. Nr. 20991/ 26

Ein 5. Geburtstag

Die kleine Helen wird ein Jahr älter

Hamburg

Wilhelm Hesse war ein liebevoller, zutiefst engagierter Vater: Seit der Geburt seiner Töchter Helen (1933) and Eva (1936) dokumentierte er die Entwicklung der Mädchen genauestens in Tagebüchern, die er für sie führte. Zusätzlich zu kleinen Texten und Gedichten, die er selbst schrieb, fügte er zahlreiche Fotos und Bezüge auf jüdische Feiertage ein. Gelegentlich wird der oft humorvolle, manchmal sogar kindliche Ton durch Material unterbrochen, das eine Ahnung von der Stimmung unter den Juden im Land vermittelt, wie z.B. ein Aufruf Leo Baecks zu jüdischer Einheit und Solidarität im Namen der Reichsvertretung der Deutschen Juden. Aber Helen und ihre Schwester Eva hatten das Glück, noch zu klein zu sein, um zu verstehen, was sich um sie herum zusammenbraute. Der 30. Juni war Helens 5. Geburtstag.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Helen und Eva Hesse Familie, AR 25327

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Ausweisung binnen 24 Stunden

Die Situation ist prekär für jüdische Immigranten in Jugoslawien

„Ich sage Euch das eine, der Antisemitismus macht nicht in Deutschland, oder Österreich, oder Ungarn, oder Rumänien, oder Jugoslavien halt, wenn nicht ein Wunder geschieht oder durch eine Katastrophe die Menschen aufgerüttelt werden.“

BELGRAD/NEW YORK

Während der Antisemitismus in Jugoslawien in keiner Weise ein neues Phänomen war – tatsächlich hatte seit Ende des Ersten Weltkriegs das gesamte politische Spektrum Anlässe zu judenfeindlichen Auslassungen gefunden – verschlechterte sich die Situation in den dreißger Jahren unter dem Einfluss der Ereignisse in Deutschland. Der Nürnberger Fritz Schwed hatte, was den vorläufigen Zufluchtsort seiner Familie betraf, keine Illusionen: In diesem langen Brief an seinen alten Freund aus Nürnberger Tagen, Fritz Dittmann, der nach New York geflohen war, beschreibt Schwed die prekäre Situation von Emigranten in Jugoslawien, die mit einer Vorwarnung von bloßen 24 Stunden ausgewiesen werden konnten. Selbst ältere und bereits längere Zeit im Lande ansässige Menschen waren von dieser grausamen Regelung nicht ausgeschlossen. Emigranten bekamen keine Arbeitserlaubnis, und wenn sie beim Übertreten des Verbots ertappt wurden, mussten sie mit sofortiger Ausweisung rechnen. Mit dem Fazit „Es ist für deutsche Juden kein Platz mehr in Jugoslawien und wie mir scheint, auch nirgends mehr in Europa“, begann Schwed, die Möglichkeit einer Emigration nach Australien oder Südamerika auszukundschaften.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gerda Dittmann, AR 10484

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

In Einzelfällen

Die Flüchtlingspolitik Australiens

Das kanadische Einwanderungsministerium hat aus Melbourne Nachricht erhalten, wonach "keine besonderen Erleichterungen für Gruppen jüdischer Migranten nach Australien" bewilligt werden sollen.

Melbourne

Unter dem Eindruck der Machtübernahme der Nazis in Deutschland und zunehmendem Antisemitismus in Europa bewies der große jiddische Schriftsteller und kulturelle Aktivist Melech Rawitsch die Weitsicht, bereits 1933 die Mittel für eine Reise von seinem Heimatland Polen nach Australien zu organisieren, um die ungastliche Kimberley-Region als möglichen Ort der Ansiedlung von Juden auszuforschen. Seine optimistische Schlussfolgerung war, die Herausforderungen des Outback könnten mit ‚‚mehr Wasser, weniger Bier“ bezwungen werden. 1938 begann auch die territorialistische ‚‚Freilandliga“ diese Möglichkeit zu erörtern. Laut Bericht der Jewish Telegraphic Agency vom 15. Juni war die australische Regierung bereit, individuelle Fälle einreisewilliger Juden in Betracht zu ziehen, war jedoch nicht gewillt, eine jüdische Masseneinwanderung ins Land zu unterstützen.

Lebensrettende Verwandschaft

Frank Fenner aus Michigan bürgt für seinen Neffen in Wien

„... dass ich willens und in der Lage bin, alle hier erwähnten Personen zu empfangen, zu unterhalten und zu unterstützen und ich hiermit dafür bürge, die Vereinigten Staaten, jeden Staat, Stadt, Dorf oder Gemeinde davor zu schützen, dass einer der hier erwähnten Ausländer der Öffentlichkeit zur Last fällt.“

Mendon, Michigan

Fast 50 Jahre, bevor er eine Bürgschaft für seinen Neffen Karl Grosser in Wien ausstellte, war Frank W. Fenner selbst aus Europa in die Vereinigten Staaten eingewandert. Als Besitzer eines Restaurants und einer Konditorei in Mendon, Michigan, konnte er seinen jungen Verwandten unterstützen, bis dieser in der Lage wäre, für sich selbst zu sorgen. Das Auffinden eines Bürgen war eine wichtige Bedingung für den Erhalt eines Einreisevisums, die oft schwer zu erfüllen war. Der Visumsprozess begann mit der Anmeldung beim nächsten amerikanischen Konsulat, wo dem Antragsteller ein Platz auf der Warteliste zugeteilt wurde. Die Länge der Liste war abhängig von der Anzahl der Menschen, die laut dem 1924 eingeführten Quotensystem der Vereinigten Staaten jeweils aus einem Land einwandern durften. Trotz der schweren Flüchtlingskrise 1938 hatte es keinerlei Revision erfahren. Während der Wartezeit mussten die Auswanderungskandidaten sämtliche benötigten Dokumente beschaffen, und mit etwas Glück waren sie noch gültig, wenn ihre Nummer an die Reihe kam.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Carl A. Grosser. AR 10559

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Martin Buber folgt Ruf an Hebräische Universität

Der Sozialphilosoph und seine Ehefrau Paula ziehen nach Jerusalem

Jerusalem

1933 entschloss sich der renommierte Religionsphilosoph Martin Buber, aus Protest gegen die Machtübernahme durch die Nazis seine Honorarprofessur an der Goethe Universität Frankfurt niederzulegen. Daraufhin verbat im das Regime, öffentlich Vorträge zu halten. In der Folgezeit gründete Buber die Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung und begegnete den Bemühungen der Nazis, die deutsche Judenheit zu marginalisieren und zu zerstören, indem er jüdische Identität durch Bildung stärkte. Erst Ende Mai 1938 folgte er einem Ruf an die Hebräische Universität, um den neuen Lehrstuhl für Sozialphilosophie zu übernehmen, und zog mit seiner Frau Paula, einer Schriftstellerin, nach Jerusalem. Das Ehepaar ließ sich im Stadtviertel Talbiyeh im Westteil der Stadt nieder, das zu dieser Zeit von Juden und Arabern bewohnt war. Es grenzt an Rechavia an – damals eine Hochburg von Einwanderern aus Deutschland. Buber gehörte zu jenen, denen eine friedliche Koexistenz in einem binationalen Staat vorschwebte.

Bereit für Deutschland

Psychische Bewältigungsversuche eines nationalistischen deutschen Juden

„Ich bin Jude! – Jude in verzweifelter Position: jüdischer Deutscher, der trotzt Allem, was ihm wiederfuhr- oder gerade dieserhalb-seine Deutschen Bindungen nicht abstreifen kann (…).“

Hildesheim/Berlin

Der Verfasser dieses Briefes ist ein junger Mann aus Hildesheim, Fritz Schürmann (später Frank Shurman), geboren 1915. Obwohl er lange vor der Machtübernahme der Nazis mit Antisemitismus zu kämpfen hatte, trat er 1934 dem „Deutschen Vortrupp“ bei, einer extrem nationalistischen Gruppierung junger deutscher Juden mit dem Motto „Bereit für Deutschland“, die den Nationalsozialismus als eine Kraft begrüßten, die den Untergang Deutschlands verhindere. Angesichts dieser Einstellung muss es für ihn besonders schmerzhaft gewesen sein, der bitteren Realität der Ablehnung durch die deutsche Gesellschaft gegenüber zu stehen. In dem Brief dankt er einem Herrn Dilthey in Berlin für die Auszeichnung, mit ihm Zeit verbracht zu haben und klärt ihn dramatisch über seine jüdische Identität auf: „Ich bin Jude! – Jude in verzweifelter Position: jüdischer Deutscher, der trotz allem, was ihm widerfuhr – oder gerade dieserhalb – seine deutschen Bindungen nicht abstreifen kann […].“ Nachdem ihm seine Identität als Deutscher durch das Naziregime verweigert wurde, kommuniziert er die lähmenden Auswirkungen der politischen Situation auf seine Psyche und die Absurdität des Gedankens, Deutschland verlassen zu müssen, um Deutscher sein zu können.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Frank M. Shurman, AR 25219

Original:

Archivbox 1, Ordner 25

Antisemitische Prämissen

Ungarischer Abgeordneter kritisiert Gesetzesvorlage

„Der Gesetzesentwurf, der Juden im wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes Schranken auferlegt, wurde heute in der Abgeordnetenkammer durch den Abgeordneten Graf Aponyi [sic] scharf angegriffen. Er erklärte, dass er, abgesehen von seiner Unmenschlichkeit, ungerechtfertigte Beleidigungen und Betrachtungen gegen die ungarischen Juden enthalte.“

Budapest

Von Anfang an hatte die Horthy-Regierung aus ihrem Antisemitismus kein Geheimnis gemacht. Tatsächlich war Ungarn 1920 das erste europäische Land nach dem Ersten Weltkrieg, das einen Numerus Clausus einführte, um den Zutritt von Juden zu höherer Bildung einzuschränken. Zunächst hauptsächlich als Reaktion auf territoriale und Bevölkerungsverluste im Ersten Weltkrieg, später im Zuge der Weltwirtschaftskrise, gab es in Ungarn eine auffallende Vielzahl faschistischer und rechtsextremer Bewegungen, von denen sich einige „nationalsozialistisch“ nannten. Eine dieser Gruppierungen war die 1935 gegründete, fanatisch antisemitische Pfeilkreuzlerpartei. Antisemitismus war weit verbreitet, als 1938 eine Gesetzesvorlage eingebracht wurde, um die wirtschaftliche und kulturelle Freiheit der Juden im Land einzuschränken. Dieser Bericht der Jewish Telegraphic Agency vom 11. Mai beschreibt die heftige Kritik des Abgeordneten Graf Apponyi an der Gesetzesvorlage, in der er auf ihre fehlerhaften Prämissen hinwies, und ihre Verteidigung durch Dr. Istvan Milotaj, den Abgeordneten einer Rechtsaußen-Partei, der behauptete, Juden könnten nicht assimiliert werden, und selbst Persönlichkeiten wie Disraeli und Blum seinen „spirituell Juden geblieben.“

Für und wider Abtreibung

Ärztegruppe des German Jewish Club lädt zu Vortrag ein

New York

Am 9. Mai lud die Ärztegruppe des German Jewish Club (ein informeller Zusammenschluss von Ärzten) in New York zu einem Vortrag zum Thema Abtreibung ein. Während der Weimarer Republik waren wiederholte Versuche gemacht worden, den Anti-Abtreibungsparagraphen (§218) abzuschaffen oder wenigstens abzuschwächen. Seine Gegner wiesen darauf hin, dass er die Arbeiterklasse unverhältnismäßig benachteilige, da Armut das Hauptmotiv für Abtreibungen darstelle. Ein Abgeordneter, der einen Zusammenschluss dreier Rechtsaußen-Parteien vertrat, darunter die NSDAP, schlug 1926 vor, Abtreibung nur bei Juden zu legalisieren. Unter dem Naziregime, das die Erzeugung „rassisch wertvollen“ Nachwuchses propagierte, war Abtreibung illegal – es sei denn, sie verhinderte die Geburt von Kindern, die als „unerwünscht“ betrachtet wurden. In den Vereinigten Staaten hatte die Wirtschaftskrise zu einer verstärkten Nachfrage nach Abtreibungen geführt, und bereits zu Beginn der dreißiger Jahre waren Hunderte von Abtreibungskliniken aus dem Boden geschossen. Armut und mangelnde Erreichbarkeit qualifizierter Ärzte führten of zu Verletzung oder Tod schwangerer Frauen durch selbst-induzierte Abgänge. Der Vortragende, Dr. Walter M. Fürst, war ein Neuankömmling aus Hamburg.

Das Gericht

Jüdischer Kulturbund zeigt Versöhnung zwischen Juden und Arabern in Theaterinszenierung

Berlin

Nach ihrer Rückkehr von mehreren Studienjahren in Berlin bei den Größen des deutschen Theaters, Erwin Piscator und Max Reinhardt, änderte die in Polen geborene Shulamit Gutgeld ihren Namen in „Bat Dori“ („Tochter meiner Generation“ oder „Zeitgenossin“). Und das war sie auf sehr bewusste Weise: Ihre Stücke waren hochpolitisch und gingen auf das Tagesgeschehen ein, und zwar so sehr, dass die britischen Mandatsbehörden die Aufführung ihres 1936 entstandenen Schauspiels „Das Gericht“, das zum Frieden zwischen Juden und Arabern aufruft und Kritik an den Briten übt, verbaten. Die Berliner Zweigstelle des Jüdischen Kulturbunds entschloss sich jedoch, das Stück zu inszenieren. Das hier gezeigte Dokument ist eine Einladung zu der Vorstellung am 8. Mai im Kulturbund-Theater auf der Kommandantenstraße unter der Regie von Fritz Wisten.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Einladung zur Uraufführung des Stücks „Das Gericht“ von [Shulamit] Bat Dori, bearbeitet von Herbert Friedenthal, im Theater des Jüdischen Kulturbund in der Kommandantenstraße 57; CJA, 1 D Gr 1, Nr. 10, #13322, Bl. 13

54 Jahre

Der Graphiker Michel Fingesten feiert seinen Geburtstag im Exil

Triest

Nach Studien an der Wiener Kunstakademie war der Graphiker Michel Fingesten auf Reisen gegangen und hatte sich schließlich in Deutschland niedergelassen. Weder die jüdische Abstammung des österreichischen Staatsangehörigen noch seine Vorliebe für das Erotische machten ihn bei den Nazis beliebt. Die immer unerträglichere Rassenpolitik des Regimes veranlasste ihn, nach einem Familienbesuch in Triest 1935 in Italien zu bleiben. Fingesten ist in erster Linie als Illustrator und als produktiver, fantasievoller Gestalter von Exlibris bekannt. Der 18. April 1938 war sein 54. Geburtstag.

Pseudo-Wahlen

Österreicher stimmen ohne Juden nachträglich über den Anschluss ab

„Wer das Stimmrecht ausübt, trotzdem er vom Stimmrecht ausgeschlossen ist oder ihm bekannt ist, dass er von mindestens drei volljüdischen Großeltern abstammt, oder aber als Mischling (mindestens zwei jüdische Großeltern) mit einer jüdischen Person verheiratet ist, hat diesen Wahlausweis sofort an das Gemeindeamt zurückzusenden und von der Wahl fernzubleiben. Andernfalls setzt er sich schwerer Bestrafung aus“.

WIEN

Der Einmarsch deutscher Truppen in Österreich am 12. März war der von Kanzler Schuschnigg für den 13. März geplanten Volksabstimmung über die Vereinigung mit Deutschland zuvorgekommen. Die Nazis, nun im Besitz der Macht, verschoben die Volksabstimmung auf den 10. April in Verbindung mit den ersten gesamtdeutschen Reichstagswahlen. Katholische Bischöfe unter der Führung Erzbischof Theodor Innitzers hatten eine „feierliche Erklärung“ abgegeben, in der sie katholische Wähler aufriefen, für den „Anschluss“ zu stimmen. Laut offiziellen Angaben bestätigten nahezu 100% der Wähler, was bereits eine vollendete Tatsache war. Das hier gezeigte Dokument ist ein Wählerausweis zur ausschließlichen Benutzung des auf der Vorderseite angegebenen Empfängers. Es schließt Juden explizit von der Teilnahme aus.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Sammlung:

Wahlausweis zur Volksabstimmung am 10. April 1938 (Nr. 225)

Original:

Inv. Nr. 26028/9

Pessach-Ball mit „Kölner Jecken“

Die Zionistische Arbeiterbruderschaft sorgt für temporäre Heiterkeit unter deutsch-jüdischen Einwanderern

NEW YORK

Meist war die Jewish National Workers Alliance, unter welchem Namen die Zionistische Arbeiterbruderschaft bekannt war, mit ernsthaften Angelegenheiten beschäftigt: Unter anderem war sie bestrebt, die Arbeiterklasse zu stärken, und in wirtschaftlichen Notlagen, im Fall von Krankheit oder Tod ihrer Mitglieder, Hilfe zu leisten. 1911 hatte sie das erste Versicherungssystem für jüdische Arbeiter eingerichtet. Am 9. April 1938 wich sie von ihrer Kernaufgabe ab und hielt in der deutsch-jüdischen Hochburg Washington Heights in New York einen Pessach-Ball ab. Unter anderem wirkten an dem Programm „Kölner Humoristen“ mit – ein Gütezeichen unter deutschen Einwanderern, die mit Kölner Karnevalsnarretei vertraut waren, einer Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Veranstaltungsort war der Ballsaal der Paramount Mansion, in der verschiedene Institutionen zu Hause waren, die die Interessen deutsch-jüdischer Einwanderer förderten.

Vorreiterrolle

USA ergreift Initiative für Flüchtlinge

Washington, D.C.

Am 4. April 1938 traf Arthur Sweetser, Mitglied des Sekretariats des Völkerbunds, mit US-Präsident Franklin D. Roosevelt zusammen. Bei dem Treffen diskutierten die beiden Männer die Situation deutscher und österreichischer Juden, die dringend Wege zur Auswanderung suchten. Roosevelt erwähnte die Idee, eine internationale Konferenz abzuhalten. Sein Gedankengang war einfach: Nur unter der entschlossenen Führung der USA konnte das Problem gelöst und andere Länder überredet werden, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Es bleibt umstritten, ob die Idee einer gemeinsamen Diskussion der Situation der Juden unter dem Naziregime von Roosevelt selbst ausging oder von hochrangigen Beamten des US-Außenministeriums.

Kein Weg zurück

Das polnische Parlament verabschiedet ein neues Gesetz gegen jüdische Rückkehrer

„Das Gesetz wird Tausende von Juden in Österreich, Deutschland, Palästina und anderswo beeinträchtigen“.

Warschau

Infolge der Annexion Österreichs, des sogenannten „Anschluss“, verabschiedete das polnische Parlament („Sejm“) ein Gesetz, das die Rückkehr von bis zu 20.000 polnischen Staatsbürgern aus Österreich befürchtete, ein Gesetz, laut dem Polen, die mehr als fünf Jahre im Ausland gelebt hatten, ihre Staatsbürgerschaft verlieren sollten. Während sich unter der Piłsudski-Regierung die Lage der Juden etwas verbessert hatte, trat nach dem Tod des Marschalls, insbesondere in der durch das „Lager der Nationalen Einheit“ (ab 1937) geschaffenen Atmosphäre, der Antisemitismus wieder hervor: Universitäten unterwarfen jüdische Studenten einem Numerus Clausus und führten „Ghettobänke“ für sie ein, Juden wurden für die Weltwirtschaftskrise verantwortlich gemacht, ihre Geschäfte boykottiert und geplündert, und hunderte von Juden wurden körperlich verletzt oder sogar getötet.

Die Welt zur Rettung

Jüdische Vorsteher und Medien wissen: Sie brauchen jede Unterstützung, die sie bekommen können

„Die österreichischen Juden haben eine alte Tradition als voll gleichberechtigte Bürger, die stets ihre Kräfte in den Dienst der Heimat gestellt haben und zum Aufschwung derselben auf allen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gebieten wesentlich beigetragen haben“.

Wien

Das gesamte Titelblatt der deutschsprachigen religiös-zionistischen „Allgemeinen Jüdischen Zeitung“ in Bratislava ist dem „Anschluss“ gewidmet: Juden werden aufgerufen, ihren österreichischen Glaubensgenossen zur Seite zu stehen. Eine anonyme Quelle weist auf die Verarmung weiter Teile der österreichischen Judenheit und die daraus resultierende Notwendigkeit hin, das Sozialwesen neu zu ordnen und sich den immer dringender werdenden Angelegenheiten der Umschulung und der Emigration zuzuwenden. Der Leser wird daran erinnert, dass Österreich noch immer Mitglied des Völkerbunds sei und dass das österreichische Recht gleiche Rechte für religiöse und nationale Minderheiten einfordere. Unter anderen Quellen wird der britische Unterstaatssekretär für Äußeres, Butler, zitiert, der berichtet, er habe Zusicherungen bekommen, die deutsche Regierung werde in Bezug auf Minderheiten „alle Anstrengungen unternehmen, eine Mäßigung der Politik zu erzielen“. Auch berichtet das Blatt, der Präsident des Jüdischen Weltkongress, Rabbi Wise, habe an den Völkerbund appelliert, den Juden beizustehen. Ansonsten zeichnet sich ein düsteres Bild ab: Die Produktion jüdischer Zeitungen eingestellt, prominente Juden arrestiert, ein jüdisches Theater geschlossen, die jüdische Ärzte entlassen und andere Schikanen. Die Zeitung ruft Juden in aller Welt auf, den Brüdern und Schwestern in Österreich zur Seite zu stehen.

Fassungslosigkeit

„Was heut geschehen ist, kommt einem Tode gleich“

„Was ich gestern noch für einen kaum fassbaren Gedanken hielt, ja ihn von mir stieß, damit er mir nur nicht zu Bewusstsein käme, ist mir heute keine Frage des Bangens und der Trauer mehr: die Auswanderung“

Wien

Trotz zahlreicher Signale einer politischen Kursänderung in Österreich kam der „Anschluss“ am 12. März für viele jüdische Österreicher überraschend. Einer von ihnen war der 25-jährige Jurist Paul Steiner. Wie viele andere Zeugen umwälzender historischer Ereignisse erfasste er die Größenordnung der Veränderung nicht, bis sie vollends eingetreten war. Am Tag des „Anschlusses“ brachte er in seinem Tagebuch seine Fassungslosigkeit zum Ausdruck. Innerhalb weniger Stunden nach der historischen Umwälzung schlugen Steiners Liebe und Bindung an Österreich in Gleichgültigkeit um. Da ihm die neue politische Realität in Österreich hoffnungslos erschien, fasste er den schnellen aber rationalen Entschluss, die Heimat so schnell wie möglich zu verlassen.

 

Verfolgen Sie eine 24-Stunden-Rekonstruktion der Machtergreifung des Nationalsozialismus in Österreich online unter www.zeituhr1938.at

Live im Internet vom 11. März 2018, 18:00 Uhr bis 12. März 2018, 18:00 Uhr

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Steiner, AR 25208

Original:

Archivbox 1, Ordner 7

Jahreschronik 1938

Der Anschluss Österreichs

Österreichische Frauen bejubeln den Einmarsch deutscher Soldaten während des Anschluss.

Der Österreichische Bundespräsident Wilhelm Miklas bestellt nach deutschen Drohungen das sogenannte Anschlusskabinett ein, das vom 11. – 13. März regiert. Wehrmacht, SS und Polizeieinheiten marschieren am 12. März in Österreich ein. Die nationalsozialistische Bundesregierung führt am 13. März 1938 im Auftrag von Adolf Hitler den „Anschluss“ durch. Er bewirkt sukzessive das völlige Aufgehen Österreichs im Deutschen Reich. Die Herrschaft des Nationalsozialismus währt in Wien und Umgebung bis zum Vorrücken der Roten Armee Mitte April 1945. Der „Anschluss“ wird in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 für „null und nichtig“ erklärt. In vielen anderen Landesteilen Österreichs endet das NS-Regime erst mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Mai 1945.

Zur Jahreschronik 1938

Ruhe vor dem Sturm

Ahnungslosigkeit am Tage vor dem Anschluss

„Die Strassen sind merkwürdig ruhig, “Ruhe vor dem Sturm”. Um 5 Uhr nachmittag sind auf manchen Häusern (Meyerzetthaus) Hakenkreuzfahnen sichtbar. Laut Radiobericht ist die österr. Regierung zurückgetreten und Seyß-Inquart soll die Macht übernommen haben. Wir eilen vom Geschäft in größter Aufregung nach Hause.“

Linz

Adolph Markus lebte mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Linz, Österreich. Einen Monat vor dem „Anschluss“ (der Annexion Österreichs an Nazi-Deutschland am 12. März 1938) begann er, ein Tagebuch zu führen, das auf packende Weise die wachsende Spannung schildert. Die Situation änderte sich von Tag zu Tag, und die Juden konnten nur raten, was als nächstes geschehen würde. Einen Tag vor der Annexion schrieb Markus in sein Tagebuch: „Die Strassen sind merkwürdig ruhig, ‚Ruhe vor dem Sturm‘“.

 

Verfolgen Sie eine 24-Stunden-Rekonstruktion der Machtergreifung des Nationalsozialismus in Österreich online unter www.zeituhr1938.at

Live im Internet vom 11. März 2018, 18:00 Uhr bis 12. März 2018, 18:00 Uhr

 

Stimmen in London

Das Zionistische Aktionskomittee berät zur Lage der Juden in Europa

London

„Die Stimme“ galt als das offizielle Organ des zionistischen Landeskomittees für Österreich. In ihrer Ausgabe vom 9. März zitiert sie eine Meldung der „Jewish Telegraphic Agency“ über die Konferenz des Zionistischen Aktionskomittees in London. Während die Spannung in Österreich stieg, standen auf der Tagesordnung der Konferenz andere dringende Angelegenheiten, wie z.B. die Einwanderung nach Palästina und die Veränderung der britischen Haltung zu diesem Thema. Als besonders wichtig wurden Vorschläge eingestuft, in verschiedenen osteuropäischen Staaten den Preis des Schekels zu senken und Koordinationsräte für zionistische Aktivitäten einzurichten.

Unentschieden

Hakoah Wien und jüdische Sportkultur

Wien

Das Spiel des Fußballvereins Hakoah Wien gegen den SV Straßenbahn Wien am 7. März endete mit einem 2:2. Die Mannschaft war Teil des berühmten jüdischen Sportvereins Hakoah Wien. Dieser war 1909 infolge der veränderten Einstellung innerhalb des liberalen Judentums zu Körper und Gesundheit gegründet worden. Der hier gezeigte Mitgliedsausweis gehörte einem der führenden Trainer des Vereins, dem Schwimmtrainer Zsigo Wertheimer. Wertheimer trainierte Ruth Langer, eine berühmte, damals fünfzehnjährige Schwimmerin, die es trotz ihres Erfolgs ablehnte, sich 1936 der österreichischen Olympiamannschaft anzuschließen.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Sammlung:

Mitgliedsausweis von Zsigo Wertheimer

Original:

Inv. Nr. 16776

Antisemitismus in Österreich

Die Jewish Telegraphic Agency berichtet

Wien

Die „Vaterländische Front“ war 1933 als alleinige Vertretung aller Bürger Österreichs und als Ersatz für die parlamentarische Demokratie ins Leben gerufen worden. Mit ihren starken Verbindungen zur Katholischen Kirche war sie zutiefst antisemitisch. Dennoch waren Juden unter ihren Mitgliedern, und sie verstand sich als Opposition zu den (protestantisch dominierten) Nazis. Als im März 1938 Nazi-Gruppen auf die Straße gingen und stolz das Hakenkreuz zur Schau stellten, berichtet die „Jewish Telegraphic Agency“ auch über eine antisemitische Demonstration an der Wiener Universität, einer Institution, an der seit Jahrhunderten eine anti-jüdische Geisteshaltung grassierte. Am selben Tag berichtet die Nachrichtenagentur über Gegendemonstrationen der „Vaterländische Front“.

Vertrauen in Kanzler Schuschnigg

Der Oberrabbiner Wiens zeigt sich optimistisch

„Wir hatten immer und haben auch weiterhin volles Vertrauen in unseren Kanzler, seine Offenherzigkeit, seine Unvoreingenommenheit und seine Ernsthaftigkeit. Dieses Vertrauen ist durch seine Erklärung am Donnerstag gestärkt worden indem er die Standhaftigkeit zur Verfassung vom Mai 1934 betonte.“

Wien

Ende Februar 1938 schien es für Österreichs Juden noch einige Hoffnungsschimmer zu geben: In einer Predigt in der Wiener Zentralsynagoge brachte Oberrabbiner Israel Taglicht das Vertrauen der österreichischen Juden gegenüber Kanzler Schuschnigg zum Ausdruck. Einige Tage vorher hatte der Kanzler versichert, Österreich werde an den Prinzipien der Verfassung vom Mai 1934 festhalten, die Juden Gleichheit vor dem Gesetz und Religionsfreiheit versprach. Etwa zur selben Zeit war der nazi-freundliche Bürgermeister von Graz entlassen worden, weil er über dem Rathaus die Hakenkreuzfahne hatte hissen lassen. Um Nazi-Demonstrationen zu verhindern, waren die Universität Graz und die Technische Hochschule vorübergehend geschlossen worden.

Vom Reichsbürger zum Staatsangehörigen zum Staatenlosen

Es braucht einen Durchbruch in der Flüchtlingskrise

Genf

Bereits 1936 hatte der Völkerbund mit Sir Neill Malcolm eigens einen „Hochkommissar für Flüchtlinge“ aus Deutschland eingesetzt. Angesichts des zunehmenden Flüchtlingsstroms aus Nazi-Deutschland wurde im Februar 1938 in Genf unter der Ägide des Völkerbundes eine Regierungskonferenz einberufen. Das orthodoxe Blatt „Der Israelit“ berichtet hier vom ersten Tag der Zusammenkunft, an der Delegierte aus 14 Ländern teilnahmen. Durch die Nürnberger Gesetze hatten Juden eine Herabstufung von „Reichsbürgern“ zu bloßen „Staatsangehörigen“ erfahren. Sobald sie Deutschland verließen, mussten sie mit dem Entzug ihrer Staatsangehörigkeit rechnen. Zwei Mitglieder des Verbindungsausschusses, Bentwich aus London und Seroussi aus Paris, forderten daher, den Flüchtlingsschutz auch auf Staatenlose auszudehnen.

Staatenlos die einen, tatenlos die anderen

Antisemitismus in Rumänien

„Charles A. Davila, der frühere rumänische Gesandte in den Vereinigten Staaten, sagte gestern während einer Segelfahrt auf der Conte di Savoia, die gegenwärtige antisemitische Kampagne sei nicht mehr als ,eine vorübergehende Phase‘. Kein Programm, das auf Intoleranz beruht, könne zu einer Lösung der Minderheitenfrage führen, sagte er.“

Iași

Bereits unter der kurzlebigen Goga-Cuza-Regierung war die Hälfte der in Rumänien lebenden Juden durch Entzug der Staatsbürgerschaft zur Staatenlosigkeit verdammt worden. Die Stadt Iași, in der 1855 die erste jiddische Zeitung Rumäniens gedruckt worden war und in der mit Goldfadens 1876 eröffnetem Theater das moderne jiddische Theater seinen Anfang nahm, hatte einen besonders großen jüdischen Bevölkerungsanteil. George Gedye, ein von der New York Times entsandter Korrespondent, berichtet von Ausschreitungen „einer brutalen und skrupellosen Minderheit“ gegen jüdische Bürger der Stadt.

Palästina

Überwältigende Landschaften und blutige Unruhen

Haifa

Dieses Gemälde des in Haifa ansässigen Künstlers Hermann Struck zeigt eine der ikonischen Landschaften des Heiligen Landes, das Tote Meer, und dessen Umgebung. Struck war einer der wenigen deutschen Juden, die bereits vor 1933 nach Palästina ausgewandert waren. Was das Bild nicht reflektiert, ist die komplizierte Situation in Palästina Ende der dreißiger Jahre: Aufgrund des wachsenden Zustroms jüdischer Einwanderer im Allgemeinen und, ab 1933, deutscher Juden im Besonderen, wuchsen die Spannungen zwischen Juden und Arabern und zwischen den Arabern und der britischen Mandatsmacht. Die gewalttätigen Ausschreitungen zwischen den Gruppen kulminierten in einem arabischen Aufstand in den Jahren 1936-1939. Dies führte dazu, dass die britische Mandatsregierung auf der Basis ihres „Weißbuches“ im Jahr 1939 noch weniger Juden die Einreise ins Land gestattete als in den Vorjahren. Einwanderungswillige deutsche Juden mussten auf eine neue Quote warten, während andere Emigrationsmöglichkeiten stetig schwanden.

Kein Lohn für Patriotismus

Die Zeitung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens wird von den Nazis eingestellt.

„Dies ist das zweite jüdische Blatt innerhalb einer Woche, das gesperrt wurde.“

Berlin

Die „C.V.-Zeitung, Blätter für Deutschtum und Judentum“ war das Organ des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Der Central-Verein war liberal-konservativ ausgerichtet und strebte danach, die Interessen aller Juden, ungeachtet ihrer religiösen Zugehörigkeit, zu vertreten. Er sah es als seine Aufgabe, das Selbstbewusstsein der deutschen Juden zu heben und deren Liebe „zu Deutschtum und Judentum“ (Jüdisches Lexikon 1927) zu vertiefen. Der 30. Januar 1938 war für die C.V.-Zeitung der vorläufig letzte Tag eines geordneten Betriebsablaufs. Am 31. ordneten die Nazis die vorübergehende Einstellung ihres Erscheinens an – ohne Nennung von Gründen.

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