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China als Fluchtziel

Das Schiff SS Conte Verde bringt Juden nach China

Triest/Schanghai

In den ersten Jahren des Nazi-Regimes hatten die Juden überwiegend in benachbarten europäischen Ländern, aber auch in Palästina und den Vereinigten Staaten Zuflucht gesucht. Als sich der Zugriff der Nazis ausweitete und Einwanderungsmöglichkeiten schwanden, wurde China zunehmend zu einem Zielort von Juden auf der Flucht. Die SS Conte Verde war eines der Dampfschiffe, die von den italienischen Häfen Genua und Triest aus Flüchtlinge nach Schanghai brachten. Die Seereise nach China dauerte einen Monat und war sehr kostspielig – eine Herausforderung für deutsche Juden, deren materielle Situation unter den Nazis erheblich erodiert worden war.

Wovon wird er in Amerika leben?

Ein Flüchtling ohne Englischkenntnisse und mit wenig Fachkönnen braucht Hilfe bei der Arbeitssuche

„Wir brauchen nicht darauf hinzuweisen, dass Herr Raskin bereits über das Alter hinaus ist, in dem hier Geborene Schwierigkeiten bei der Suche nach einer neuen Tätigkeit auf Schwierigkeiten stoßen. Herr Raskin spricht kaum Englisch. Er beherrscht kein Handwerk. Seine Erfahrung als Bonbonverkäufer ist bei Bewerbung um eine Stelle nicht besonders hilfreich.“

New York/Boston

Seit Anfang der 1880er Jahre schloss das Einwanderungsgesetz der Vereinigten Staaten eine Klausel ein, die darauf abzielte, Menschen fernzuhalten, bei denen die Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie der Öffentlichkeit zur Last fallen würden. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise bestätigte Präsident Hoover 1930 die Sperre. Hilfsorganisationen hatten es schwer, den Neuankömmlingen Arbeitsplätze zu verschaffen: am 26. Oktober schildert ein Mitarbeiter des Employment Department of the Greater New York Coordinating Committee for German Refugees Willy Nordwind vom Boston Committee for Refugees die Schwierigkeiten bei der Suche nach Arbeit für einen Mann, der es geschafft hatte, ins Land zu kommen, aber kaum Englisch sprach und außer seiner Tätigkeit als Bonbonverkäufer keine Arbeitserfahrung aufzuweisen hatte. Dennoch verspricht der Mitarbeiter, sich weiterhin um die Belange des Einwanderers zu bemühen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 26

Jahreschronik 1938

Die „Polenaktion“

Eine fotographische Momentaufnahme der Polenaktion.

Ende Oktober weisen die Nationalsozialisten etwa 17.000 polnische Juden aus dem Deutschen Reich aus. Die als „Polenaktion“ bezeichnete Massenabschiebung markiert den bisherigen Höhepunkt der Diskriminierungen der Nazis gegenüber den Juden. Das polnische Parlament hatte im März und Oktober Gesetze erlassen, die die Pässe von im Ausland lebenden jüdischen Polen schwächten. Unter anderem sollten im Ausland ausgestellte Pässe zum 30. Oktober nicht mehr zur Einreise nach Polen befugen, sofern sie nicht einen Prüfvermerk des polnischen Konsulats trugen. Die polnische Regierung wollte so eine Masseneinwanderung von polnischen Juden aus dem Deutschen Reich nach Polen verhindern. Als die Deutsche Botschaft in Warschau davon erfuhr, veranlassten die Nazis die „Polenaktion” binnen weniger Tage.

Zur Jahreschronik 1938

Juden im Sudetenland Angriffen ausgesetzt

Angriffe auf Juden im Sudetenland nach dem Münchener Abkommen

„Der Plan zur Vertreibung Tausender Juden aus der Tschechoslowakei und die Einschränkung der wirtschaftlichen Tätigkeit der verbleibenden, skizziert durch den Minister ohne Geschäftsbereich Stanislav Bukovsky, wurde als Resolution des Ausschusses der Sokol-Vereine, der repräsentativen Körperschaft der tschechischen Jugendsportorganisation, in vollem Umfang verabschiedet.“

Prag

Bevor die Unterzeichner des Münchener Abkommens am 29. September 1938 verfügten, die Tschechoslowakei habe die überwiegend von Deutschen bewohnten Randgebiete, das Sudetenland, an Deutschland abzutreten, lebten dort zwischen 25,000 und 28,000 Juden. Gleich nach dem Einmarsch der Deutschen Anfang Oktober kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. Tausende wurden in die Flucht getrieben. Von den katastrophalen materiellen Folgen dieser Massenflucht berichtet die Jewish Telegraphic Agency am 25. Oktober: Der Verlust wurde auf mindestens 7 Milliarden Kronen in zurückgelassenen Gehältern und Besitz geschätzt. Um die Lage noch schlimmer zu machen, kam es seit München auch auf der tschechischen Seite zu offenem Antisemitismus – sowohl durch die Bevölkerung als auch von offizieller Seite.

Ein Freudenfest in schweren Zeiten

Eine Hochzeit als Atempause

„Für diesen von Gott geweihten Ehebund erflehen wir Heil, Frieden und Segen.“

BERLIN

In einem Jahr, das durch zahlreiche beunruhigende anti-jüdische Maßnahmen gezeichnet war, muss die Hochzeit von Frieda Ascher und Bernhard Rosenberg am 23. Oktober in Berlin für ihre Freunde und Verwandten eine stark benötigte Atempause bedeutet haben. Der Offiziant bei der Zeremonie war der orthodoxe Rabbiner Dr. Moritz Freier. Rabbiner Freier wurde wiederholt von jungen Juden angesprochen, die infolge des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland keine Stelle finden konnten. Seine Frau, Recha Freier, war bereits im Januar 1933 auf die Idee gekommen, jüdischen Jugendlichen zu helfen, in das palästinensische Mandatsgebiet einzuwandern und sich in Kibbutzim anzusiedeln, ein Projekt, das unter dem Namen „Jugend-Alija“ bekannt ist.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Trauurkunde für Bernhard Rosenberg und Frieda Ascher; 7.5

Widerstand von Juden im Exil

In the United States, Toni Sender warns of the dangers of National Socialism

BERLIN

Toni Sender ist seit 1920 SPD-Reichstagsabgeordnete in der Weimarer Republik. Sie bezieht bereits früh Stellung gegen den Nationalsozialismus und warnt vor den Gefahren für die Demokratie. Weil sie als Sozialdemokratin und Jüdin von den Nationalsozialisten angefeindet und bedroht wird, flüchtet sie im März 1933 erst in die Tschechoslowakei, dann nach Belgien, wo sie ihren Kampf gegen das NS-Regime im Exil fortsetzt. 1935 emigriert sie in die USA. Als Rednerin und Journalistin versucht sie auch dort, das Ausland über den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus aufzuklären. Wie das Schreiben der Gestapo an den Ermittlungsrichter des Volksgerichtshofs vom 22. Oktober 1938 belegt, bleibt ihr Widerstand nicht unbemerkt.

QUELLE

Institution:

Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Original:

Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde; R3018 NJ-15413

Fluch der Bürokratie

Warten auf ein "Kapitalistenzertifikat"

„Zur Zeit gibt es überhaupt keinen Vorzugs-Zertifikatstransfer. Auf dem letzten Vorzugstransfer sind im ganzen 27 Familien nach Palästina hereingekommen. Eine neue Transfertranche soll im Winter aufgelegt werden, aber man wird nicht damit rechnen können, dass Ledige dabei irgendwie berücksichtigt werden können, insbesondere, wenn sie sich schon im Ausland aufhalten.“

Konstanz/Zürich

Nach seinem Studium in Deutschland war Dr. Herbert Mansbach, ein junger Zahnarzt aus Mannheim, in die Schweiz gegangen, um zu promovieren und sich auf Kieferorthopädie zu spezialisieren. Dies, so glaubte er, war eine gesuchte Fähigkeit in Palästina, wohin er auszuwandern hoffte. Die Einwanderung nach Palästina war jedoch durch die Briten erheblichen Einschränkungen unterworfen: Dr. Mansbachs Freund Alfred Rothschild, ein Justizrat im Ruhestand, teilte ihm mit, es seien zur Zeit keine Vorzugs-Einwanderungszertifikate zu haben und das Zulassungsverfahren für ein „Kapitalistenzertifikat“ (eine Art von Zertifikat, dessen Vergabe davon abhängig war, ob der Antragsteller den Besitz von mindestens £1000 nachweisen konnte und keiner Quotierung unterlag) liefe noch. Die Angelegenheit war sehr dringend, denn Mitte Oktober war Dr. Mansbachs Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz abgelaufen. Rothschild rechnete damit, dass falls der Antrag auf ein gewöhnliches Zertifikat erfolgreich sein würde, die Schweizer Behörden seinem Freund gestatten würden, einstweilen im Land zu bleiben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herbert Joseph Mansbach, AR 7073

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Gemeinsames Sommerlager fördert Integration

Das American Friends Service Committee fördert die Integration jüdischer Flüchtlinge

„Von besonderer pädagogischer Bedeutung war die kooperative Durchführung aller Gemeinschaftsarbeiten. Sämtliche Teilnehmer verrichteten alle Arten praktisch-hauswirtschaftlicher Tätigkeit und wurden im Garten- und Feldbau unterwiesen. Die hierbei erworbene Gewöhnung an körperliche Arbeit war nicht nur pädagogisch wichtig, sie war zugleich eine ausgezeichnete Körperschule und hat, neben intensiv betriebenem Schwimmsport, die gesundheitliche Verfassung der Menschen gestärkt.“

Hyde Park, New York

Zahlreiche jüdische Organisationen, wie die Hebrew Immigrant Aid Society, German Jewish Children’s Aid und das Boston Committee for Refugees widmeten sich der Rettung von Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland. 1938 war es eine nicht-jüdische Organisation, das American Friends Service Committee (Quäker), die sich ein besonders schönes Projekt einfallen ließ: von Mitte Juni bis Anfang September leitete es ein Sommerlager im Hudson-Tal für etwa 70 Personen, überwiegend jüdische Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland und etwa ein Drittel Amerikaner. Indem sie gemeinsam arbeiteten, lernten und sangen, Haushaltspflichten teilten, Vorträge und Gottesdienste besuchten, miteinander Sport trieben und Spiele spielten, wurde das gegenseitige Kennenlernen gefördert. Der Verfasser dieses Artikels ist voller Dankbarkeit für das Projekt, das er als „bemerkenswerten Beitrag zur inneren Integration unserer Menschen“ bezeichnet.

Neues Unternehmen, altes Netzwerk

Was bedeutet Auswanderung für einen Unternehmer?

„Erlauben Sie mir im Bezug auf meine Bürgschaft noch auszuführen, dass ich mein jährliches Einkommen nicht angegeben habe, weil die Hochhauser Leather Co Inc. erst vor kurzer Zeit gegründet wurde.“

NEW YORK/WIEN

In Wien war Hans Hochhauser gemeinsam mit seinem Bruder erfolgreicher Inhaber eines Ledermanufaktur- und Exportunternehmens gewesen. Doch bereits einen Tag nach dem „Anschluss“ hatte er alle Zelte abgebrochen und war mit seiner Frau Greta und seiner Tochter Ilse auf abenteuerlichem Wege aus Österreich geflohen: abgewiesen an der tschechischen Grenze, gelangte die Familie mit dem Zug in die Schweiz und von dort mit einem gecharterten Flugzeug nach England, von wo aus sie schließlich ihren Weg in die Vereinigten Staaten fand. In New York angekommen, musste Hans Hochhauser von vorn beginnen: seine neue Firma hieß „Hochhauser Leather Co Inc.“ In einem Schreiben an das amerikanische Generalkonsulat in Wien vom 14. Oktober 1938, mit dem er eine Bürgschaft für seinen Cousin Arthur Plowitz übermittelte, wies er darauf hin, dass er mit seiner neuen Firma zwar noch am Anfang stehe, aber auf große Teile seines alten Handelsnetzwerks zurückgreifen könne.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Hans und Grete Hochhauser, AR 12070

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Schwindende Fluchtwege

Geschlossene Grenzen, Ausweisungen

„Premierminister Jan Syrovy hat den Antrag zurückgewiesen, den Regierungsentscheid, Flüchtlinge aus Österreich zu deportieren, zu lockern.“

Prag

Seit dem „Anschluss“ hatte die Tschechoslowakei ihre Politik gegenüber Flüchtlingen aus Österreich, insbesondere gegenüber jüdischen, enorm verschärft. Die offiziellen Grenzübergänge waren österreichischen Juden verschlossen – viele waren gezwungen, ihren Weg in die Tschechoslowakei auf gefährlichen Pfaden über die Grüne Grenze zu bestreiten. Auch internationale diplomatische Interventionen, wie die der Liga der Menschenrechte, über die die Jewish Telegraphic Agency am 13. Oktober 1938 berichtete, konnten die Tschechoslowakei nicht von ihrem restriktiven Kurs abbringen. Sir Neill Malcolm, der Flüchtlingskommissar der Liga, hatte den tschechoslowakischen Premierminister dazu aufgerufen, die Praxis der Abschiebung österreichischer Flüchtlinge zu überdenken. Ohne Erfolg.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

„Czechs Refuse to Relax Policy on Refugees“

Source available in English

Zurückgewiesen

Keine Einreisegenehmigung für Anneliese Riess

GENF/TURIN

Eigentlich war Anneliese Riess Archäologin. Doch nach ihrer Promotion in Rom im November 1936 hatte sie als Ausländerin keine Chance, in ihrem Traumberuf angestellt zu werden. 1937 absolvierte sie daher in Genf einen Kurs als Kinderschwester und kehrte dann nach Rom zurück. Als die faschistische Regierung in Italien im Herbst 1938 ausländische Juden aufforderte, innerhalb eines halben Jahres das Land zu verlassen, erklärte sich die Schwesternschule in Genf bereit, Anneliese bis zur Ankunft ihres Visums für die Vereinigten Staaten als Praktikantin aufzunehmen. Aufgrund der fremdenfeindlichen und antisemitischen Einwanderungspolitik der Schweiz verweigerte man der jungen Frau jedoch die Einreise. In einem Brief der Schule vom 10. Oktober wurde ihr mitgeteilt, Fälle dieser Art seien unter den Schülerinnen derartig häufig, dass sich die Leiterin der Schule, Frl. Borsinger, ihr nicht zu einer Aufenthaltsgenehmigung verhelfen könne. Sie habe aber ein Schreiben an das Konsulat beigelegt, das bestätige, Anneliese Riess werde dringend in der Krankenpflegeschule erwartet – allerdings als Schülerin. Dies, so schrieb man, sei die einzige Möglichkeit für sie, ins Land gelassen zu werden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Annelise Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Antisemitismus auch in Italien

antisemitismus-auch-in-italien

„Die Ehe zwischen ,arischen‘ Italienern und Mitgliedern der hamitischen (nordafrikanischen), semitischen oder anderen ,nicht arischen‘ Rassen war verboten.“

Rom

Der faschistische Großrat Italiens – ein zentrales Organ des Mussolini-Regimes – veröffentlichte Anfang Oktober eine „Erklärung über die Rasse“, die an vielen Stellen an die Nürnberger Gesetze erinnert. Durch und durch antisemitisch, legte die Schrift zahlreiche Regelungen zur Ehe, zur italienischen Staatsbürgerschaft und zur Tätigkeit von Juden im italienischen Staatsdienst fest. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 9. Oktober, nur wenige Tage nach seiner Veröffentlichung, über das faschistische Regelwerk. Fortan sollten „Mischehen“ zwischen „arischen“ Italienern und „Mitgliedern der hamitischen (nordafrikanischen), semitischen oder anderen „nicht arischen“ Rassen“ verboten sein. Eine weitere Regel traf besonders auch diejenigen Juden hart, die aus Österreich und Deutschland nach Italien emigriert waren: Alle Juden, die sich nach 1919 in Italien niedergelassen hatten, sollten die italienische Staatsbürgerschaft verlieren und ausgewiesen werden.

 

 

11 Kisten Besitz

Der Hausrat wird verschifft

Amtl. Hausbeschaugebühr und SS. Überwachungskommission drei 1/2 Tage: RM 75

WIEN

Ihren Visums-Antrag hatten der Zahnarzt Max Isidor Mahl und seine Frau Etta, eine Textilarbeiterin, schon vor einigen Monaten beim amerikanischen Konsulat in Wien eingereicht. Seitdem warteten Sie. Etta war gebürtige Polin, Max Isidor gebürtiger Ukrainer, und die amerikanischen Einwanderungsquoten für diese beiden Länder waren bereits gefüllt. Doch die Zeit drängte: diese Rechnung zeigt, dass die Mahls bereits in Oktober ihren kompletten Haushalt in die Vereinigten Staaten verschiffen ließen und damit in Sicherheit bringen wollten. Der Transport von Wien nach Hamburg und dann mit einem Frachter nach New York war eine teure Angelegenheit: Fast 800 Reichsmark kostete es das Ehepaar Mahl, die 11 Kisten mit ihrem Hausrat außer Landes bringen zu lassen.

 

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Lucie Blau Familie, AR 25419

Original:

Archivbox 1, Ordner 15

Au revoir Paris?

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

„Es ist mir unerhört wichtig, dass er mir die Erlaubnis gibt noch zehn Kameraden nach Mexiko hereinzubringen.“

Paris/Mexiko

Der Brief, den Joseph Roth an seinen Vetter Michael Grübel in Mexiko schickt, ist kurz. Zwar in vertrautem Ton, ansonsten aber auf die wichtigsten organisatorischen Angelegenheiten beschränkt, dankt Roth ihm für die Vermittlung eines Kontaktes zu einem Herrn Dor. Com. Silvio Pizzarello de Helmsburg. Dieser soll Roth dabei helfen, „zehn Kameraden nach Mexiko hereinzubringen.“ Wen genau Roth hier im Blick hat, bleibt offen. Außerdem bittet Roth seinen Vetter, sich auch um eine Einreisebewilligung für ihn selbst zu bemühen. 1933 war der berühmte Schriftsteller und Journalist nach Paris emigiert. Von dort aus hatte er seither zahlreiche Novellen und Essays veröffentlicht und für die Emigrantenpresse in verschiedenen Ländern geschrieben. Nun aber schien auch Roth mit dem Gedanken zu spielen, Europa zu verlassen.

 

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

Original:

Archivbox 2, Ordner 4

“America First!”

Nach vorne schauen und nicht zurück

Aber Freiheit und Recht werden uns nicht geschenkt, wir haben auch hier für sie zu arbeiten und zu kämpfen!

New York

Das Editorial der Oktober-Ausgabe des Aufbau verfolgt ein klares Ziel: die Leserinnen und Leser daran zu erinnern, dass sie „nunmehr Amerikaner sind mit allen Rechten, aber auch mit allen Pflichten.“ Bindungen vornehmlich familiärer und kultureller Art werden anerkannt, gleichzeitig aber betont, wie wichtig es sei, den Blick in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit zu richten. „America First!“ lautete das Motto, das als Aufruf zur Integration der jüdischen Emigranten in die amerikanische Gesellschaft verstanden werden kann. Der Autor des Editorials liefert seinen Lesern dafür auch Argumente: Europa könne ihnen fundamentale Werte wie Freiheit und Recht nicht mehr garantieren. In den Vereinigten Staaten mit ihrer „Bill of Rights“ hingegen lohne es sich, für diese Werte einzustehen und zu kämpfen. Der Jewish Club als Herausgeber des Aufbau positionierte sich somit klar innerhalb der amerikanischen Gesellschaft – und erwartete diese Haltung auch von seinen Lesern und Mitgliedern.

Geschlossene Türen

Kanadas restriktive Einwanderungspolitik

Hilfe für die Opfer "politischer Verfolgung und grundloser Aggression" wird ein wichtiger Bestandteil der "Friedens-Aktionswoche" sein [...]

Ottawa

Ein wichtiges Ziel der von der Canadian League of Nations Society geplanten „Nationalen Friedens-Aktionswoche“ war, die kanadische Öffentlichkeit auf das Leiden verfolgter Juden aufmerksam machen. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 3. Oktober 1938 von dem Vorhaben, ein nationales Komittee aus jüdischen und anderen kanadischen Führungspersönlichkeiten zu gründen, das die Öffentlichkeit für die jüdische Flüchtilingskrise sensibilisieren und angemessene Maßnahmen von der Regierung verlangen sollte. Spätestens seit den Jahren der Weltwirtschaftskrise nämlich verfolgte Kanada eine restriktive Abschottungspolitik gegenüber Einwanderern, eine eigentliche Flüchtlingspolitik hatte das Land nicht. Allein dies machte es jüdischen Flüchtlingen schwer, nach Kanada einzuwandern. Hinzu kam ein weit verbreiteter Antisemitismus in der Bevölkerung.

 

Entfernt verwandt

FREITAG

„Ich appelliere an Ihre Menschlichkeit und Ihren Sinn für Blutsverwandtschaft, wenn ich mir die Freiheit nehme, Sie zu bitten, mir bei meiner Immigration in die Staaten zu helfen und mir die notwendige Bürgschaft auszustellen.“

Wien/New York

Es muss Überwindung gekostet haben: Eva Metzger-Hohenberg schrieb dem entfernten Verwandten, aber ihr eigentlich völlig unbekannten Leo Klauber in Manhattan einen flehenden Brief. Ihre Lage sei prekär, für Juden sei in Deutschland kein Platz mehr. Maria Metzger-Hohenberg appellierte an Leo Klaubers „Menschlichkeit“ und seinen „Sinn für Blutsverwandtschaft“ und bat ihn, ihr und ihrer Familie Bürgschaften auszustellen. Dieser Brief aus Wien zeigt nicht nur, welche verzweifelten Maßnahmen manche jüdische Familien ergreifen mussten, um ihre Auswanderung zu ermöglichen. Er zeichnet auch ein lebendiges Bild von der Situation, in der sich viele Juden im Herbst 1938 befanden. Marias Eltern und ihr Bruder hatten ihr Fleisch-Geschäft aufgeben müssen. Der Großhandel ihres Ehemanns, der mehr als 140 Mitarbeiter beschäftigte, wurde „arisiert“. Faktisch bedeutete dies, dass er weit unter Wert verkauft werden musste. Das Schicksal der Metzger-Hohenbergs steht exemplarisch für das unzähliger jüdischer Familien in dieser Zeit.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Laura und Leonard Yaffe Korrespondenze, AR 11921

Original:

Archivbox 2, Ordner 3

Source available in English

Massenflucht

Über 20.000 Juden verlassen das Sudetenland

„Nur ungefähr 2.000 Juden von eigentlich einmal 22.000 sind in den Gebieten der Sudetendeutschen geblieben, die auch von der tschechischen Bevölkerung verlassen worden sind.“

München

Als am 29. September das sogenannte “Münchener Abkommen“ zwischen Hitler, dem britischen Premier Chamberlain, dem französischen Premier Daladier und dem italienischen Diktator Mussolini beschlossen wurde, waren über 20.000 Juden bereits aus dem Sudetenland geflohen. Das berichtete die Jewish Telegraphic Agency am Tag des Abkommens. Nach einem monatelangen Propagandafeldzug der Nazis und lauten Drohungen, die deutsche Wehrmacht werde in die Tschechoslowakei einziehen, musste vielen Juden schon vor Wochen klar geworden sein, dass sie keine Zukunft im Sudetenland haben würden. Mit dem Abkommen wurden die tschechischen Gebiete, in denen die deutsche Minderheit der Sudetendeutschen lebte, ans Deutsche Reich abgetreten. Die Tschechoslowakei saß in München nicht mit am Verhandlungstisch.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

“20,000 Jews Evacuate Sudeten Area”

Jahreschronik 1938

Das Münchner Abkommen

Viele jüdische Anwälte hatten Deutschland und Österreich bereits verlassen. Unter ihnen war Joachim Weichert aus Wien, der dort jahrzehntelang als Anwalt tätig gewesen war. Sammlung Familie Weichert, Leo Baeck Institute.

Germany, the United Kingdom, France, and Italy sign the Munich Agreement. In the absence of Czechoslovakia, which, like the Soviet Union, was not invited to the conference, the participating nations resolve that Czechoslovakia must cede the “Sudetenland” to the German Reich. The agreement calls for the evacuation of the narrow band of territory along Czechoslovakia’s northern, western, and southern borders within ten days. Two days after the agreement is signed, the Wehrmacht enters the Sudetenland. By allowing the conflict over the autonomy of ethnic Germans in Czechoslovakian borderlands to escalate into an international crisis, Hitler has succeeded in first isolating and then breaking up Czechoslovakia.

Zur Jahreschronik 1938

“Zum letzten Mal”

Eine Bar Mizwa wird zum Abschied

Und sie feierten trotzdem. Viele der Familien, die in diesem September die Bar Mizwa ihrer Söhne begingen, würden nicht mehr lange in Berlin sein. An diesem Tag kommen sie aber alle nochmal in der Synagoge zusammen.

BERLIN

Mehr ein wehmütiger Abschied als eine freudvolle Bar Mizwa: Rabbi Manfred Swarsensky schien sich der Lage seiner Gemeindemitglieder an der Berliner Synagoge Prinzregentenstraße vollends bewusst zu sein. In seiner Ansprache zur Bar Mizwa von 15 Jugendlichen fing er die Stimmung an diesem Festtag in einem eindrücklichen Bild ein: Alles trage gerade „den Stempel auf sich ‚Zum letzten Mal‘.“ Viele Familien, deren Söhne an diesem Tag ihre Bar Mizwa feierten, säßen bereits auf gepackten Koffern. Für eine Familie gehe es sogar schon am darauffolgenden Tag los. Die Synagoge im Berliner Stadtteil Wilmersdorf war der einzige Synagogenneubau im Berlin der Weimarer Republik gewesen. Schnell hatte sie sich auch zu einem jüdischen Kulturzentrum entwickelt. Nun, im ausgehenden September 1938, war dem Rabbi klar, dass seine Gemeinde vor großen Veränderungen stehe: „Wenige Jahre noch, und vieles von dem, was heute noch war, wird vergangen und vielleicht auch vergessen sein.“

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gerhard Walter, AR 11826

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Fließend Englisch!

Exil mit Sprachbarrieren

„Fließend Englisch in ein paar Wochen. Originelle, einfache, wissenschaftliche Methode.“

New York

Fließend Englisch sprechen! Das könnte einer der guten Vorsätze jüdischer Einwanderer in den Vereinigten Staaten für das bevorstehende neue jüdische Jahr gewesen sein. Die September-Ausgabe des „Aufbau“ bot eine ganze Bandbreite von Lernangeboten: Diverse Inserate etwa warben mit „niedrigem Honorar“ oder auch mit „originellen” Methoden, mit denen man sein Englisch schon in wenigen Wochen deutlich verbessern könne. Das Angebot stieß auf jeden Fall auf Nachfrage. Denn nach der Ankunft in den Vereinigten Staaten stellte die englische Sprache für viele Einwanderer eine erste entscheidende Hürde dar. Wer in einem amerikanischen Umfeld arbeiten und ein neues Leben aufbauen wollte, musste sich verständigen können.

Verlassene Synagogen

Gleiwitzer Gemeinden spüren Folgen der Auswanderung

„Viele kleinere, zu unserem Verband gehörende Gemeinden sind völlig verwaist. Wie müssen uns mit ihrer Auflösung befassen. Ehrwürdige Gotteshäuser müssen ihrer Bestimmung entzogen und verkauft werden.“ [aus der Neujahresansprache des Synagogengemeindeverbandes für Oberschlesien]

GLIWICE

Zu Rosch Haschana wünschte sich Arthur Kochmann für den Synagogenverband für Oberschlesien zweierlei: Dass sich im neuen Jahr die Wünsche eines jeden Gemeindemitglieds erfüllen mögen, aber auch, dass die Juden in Oberschlesien „die innere Geschlossenheit jederzeit erhalten.“ Zwei Wünsche, die sich im Herbst 1938 leider oftmals widersprechen mussten. Die Zahl der Auswanderer aus Gleiwitz war in den vergangenen Monaten extrem gestiegen. Arthur Kochmann verweist auf die dramatischen Folgen für viele kleinere Synagogen in und um Gleiwitz: Viele müssten geschlossen und verkauft werden. Lange noch hatte ein Minderheitenschutz aus dem Jahr 1922 viele Juden in Gleiwitz vor offiziellen antisemitischen Gesetzen der Nazis geschützt, mit seinem Auslaufen 1937 aber war es mit der Gnadenfrist vorbei.

QUELLE

Institution:

The United States Holocaust Memorial Museum

Original:

Auf Deine Hilfe hoffe ich, Gott, in: Jüdisches Gemeindeblatt, vol. 3, no. 18, p. 1. Courtesy of USHMM

Netzwerke

Kurt Grossmann und die Flüchtlingshilfe

„Wenn in den nächsten Tagen Ihnen ein Gesuch von Frau Erna Winter (und Kind), die bisher von der Demokratischen Flüchtlingsfürsorge in Prag unterstützt wurde, vorgelegt werden sollte, so bitte ich Sie, dieses Gesuch mit Wohlwollen zu behandeln.“

PARIS

Die jüdischen Flüchtlingsorganisation waren weit vernetzt. Zu verdanken war das auch einzelnen Personen wie Kurt Grossmann, die stetig neue Kontakte knüpften und die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene ausbauten. Kurt Grossmann, Journalist und von 1926 bis 1933 Generalsekretär der Deutschen Liga für Menschenrechte, war bereits 1933 vor einer Verhaftung aus Berlin nach Prag geflohen. Dort hatte er die Demokratische Flüchtlingsfürsorge mit aufgebaut und diese maßgeblich geprägt. Grossmann wusste sein Netzwerk für die steigende Zahl jüdischer Flüchtlinge, die Prag erreichten, zu nutzen. Noch aus Paris, wo er seit 1938 lebte, warb er bei den lokalen Hilfsorganisationen um Unterstützung. In einem Brief Grossmanns vom 19. September 1938 etwa bittet er M. Gaston Kahn vom Pariser Comité d’Assistance aux Réfugiés juifs mit Nachdruck, Erna Winter und ihrem Kind zu helfen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt Grossmann, AR 25032

Original:

Archivbox 1, Ordner 8

Schlechte Aussichten

Flüchtlinge in der Tschechoslowakei

„Keiner der Flüchtlinge darf natürlich arbeiten. Unter ihnen sind Geschäftsleute, Fachkräfte und Handwerker, von denen viele früher wohlhabend waren. Ohne materielle Rücklagen, oft abgeschnitten von Familie und Freunden, die sie zurücklassen mussten, vor sich eine unsichere Zukunft, wird diese Flüchtlingkolonie bald zu einem psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Problem.“

Brünn

Die Jewish Telegraphic Agency beschrieb die Situation österreichischer Flüchtlinge in der Tschechoslowakei mit Weitsicht: Ändere sich nichts an ihren prekären Umständen (Arbeitsverbot, Mittellosigkeit, fehlende Bleibe-Perspektiven…), würde die Situation schon bald „zum psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Problem“ werden. Die JTA ging davon aus, dass sich Mitte September 1938 mehr als 1.000 Flüchtlinge in der Tschechoslowakei aufhielten, die meisten von ihnen in Brünn, knapp 50 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Nun sah eine Polizeimaßnahme vor, für Personen, die bereits länger als zwei Monate in der Tschechoslowakei waren, eine Kaution von 2.000 tschechischen Kronen (70 Dollar) zu verlangen – sonst drohte ihnen eine Abschiebung. Wer das Geld auslegen sollte, war vollkommen unklar. Weder die jüdische Gemeinde Brünns noch die Liga der Menschenrechte hatten die Mittel dazu.

Dringend gesucht: Bürgen

Bürgschaften von mindestens zwei Verwandten, dazu Dokumente von Banken, Polizeibehörden...Kurt hat mit den hohen Einwanderungs-Hürden zu kämpfen

„Es versteht sich, dass wir an alle nur irgendwie Bekannten in aller Welt schrieben und schreiben, ohne jedoch bisher etwas Positives erreicht zu haben.“

Genua/East Springfield, Pennsylvania

Keinen langen Brief, nur eine eng beschriebene Postkarte erhielt Ludwig Guckenheimer von seinem alten Freund Kurt – doch diese paar Zeilen zeichnen eine lebendige Momentaufnahme der Situation, in der sich sein Freund gerade befand. Abgeschickt hatte Kurt die Karte am 14. September in Genua. Von hier aus versuchte er bereits seit einiger Zeit, seine Emigration vorzubereiten. Kurt wusste,„dass es anfängt zu eilen.“ Bislang scheiterte es für ihn einerseits am fehlenden Geld, vor allem aber an fehlenden Bürgen. Viele Länder hatten die finanziellen und bürokratischen Hürden zur Immigration in den lezten Jahren enorm erhöht. Die Vereinigten Staaten etwa erwarteten neben zahlreichen offiziellen Bescheinigungen Bürgschaften mindestens zweier enger Angehöriger. Kurt aber ließ sich nicht entmutigen. Bemühungen seines Schwagers in Dallas stimmten ihn hoffnungsvoll.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gertrude Guckenheimer, AR 10042

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Falsche Großzügigkeit

Zwang zur Ausreise aus dem Burgenland

„Zweihundert jüdische Einwohner des Burgenlandes wurden ,eingeladen‘, Österreich unterstützt von einem Auswanderer-Schleuser-Projekt zu verlassen.“

Eisenstadt

„Kostenlos“ – Es mag wie ein generöses Angebot daherkommen, aber hinter dem „kostenlosen“ Angebot steckte eiskalte Kalkulation: Nach dem Willen der Nazis sollten alle noch verbliebenen Juden im österreichischen Burgenland die Region verlassen. Säuberung hieß das im Nazi-Jargon. Das Burgenland war die erste österreichische Region, in der man damit begonnen hatte, die jüdische Bevölkerung nach dem „Anschluss“ systematisch zu enteignen und zu vertreiben. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 12. September, dass von den 3.800 Juden, die zuvor im Burgenland gelebt hatten, 1.900 bereits vertrieben, 1.600 Personen vorübergehend nach Wien geflohen und 300 weitere noch in Ghettos im Burgenland selbst interniert seien. Das „Angebot“ der Schleuser-Gruppe wurde laut JTA finanziell von der Gestapo unterstützt – mit 100.000 Mark aus dem Besitz der zuvor enteigneten Juden in der Region.

Ein ehemaliger Zufluchtsort

Wachsender Anti-Semitismus in Italien

Rom/Ostia Antica

Rom ist das Paradies eines jeden Althistorikers, eine Stadt, die nur so vor Geschichte strotzt. Für Herbert Bloch, seit 1935 Doktor der Römischen Geschichte, war sie aber auch noch mehr: ein Zufluchtsort vor dem nationalsozialistischen Deutschland. Der gebürtige Berliner war kurz nach der Machtergreifung Hitlers als Student an die Universtität von Rom gekommen. 1938 war er Teil des Ausgrabungsteams, das große Teile des Geländes von Ostia Antica, dem antiken Seehafen Roms, freilegte und untersuchte. Das Foto zeigt Bloch am 11. September 1938 vor Teilen der Ausgrabungen. 1938 war aber auch das Jahr, in dem der vorher schon latent greifbare Antisemitismus des faschistischen Italien offiziell zur Staatsräson wurde. Nur wenige Tage zuvor hatte Mussolini die ersten von vielen antisemitischen Rassengesetzen erlassen. Herbert Bloch trafen die „Maßnahmen zur Verteidigung der Rasse in der faschistischen Schule“ vom 5. September 1938 besonders hart. Das Gesetz schloss u.a. alle jüdischen Lehrkräfte aus Schulen und Universitäten aus. Rom konnte nicht länger Blochs Zufluchtsort sein.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herbert Bloch, AR 25628

Original:

Archivbox 2, Ordner 12

Und wieder einmal: warten

Die Einreise-Quoten sind strikt

„Es wird Ihnen mitgeteilt, dass die Quote jetzt erschöpft ist.“

Berlin/Breslau

Zeitpunkt: ungewiss. Das amerikanische Generalkonsulat Breslau nannte Carl Proskauer und seiner Familie noch nicht einmal ein Datum in weiter Ferne, an dem sie sich erneut um US-Visa hätten bewerben können. Die Quote sei ausgeschöpft. Gemeint war die amerikanische Quote, die festlegte, wie viele Personen pro Geburtsland (nicht Land der Staatsbürgerschaft!) jährlich in die USA einwandern durften. Und mit dem Jahr 1938 war die Anzahl von Visums-Bewerbungen aus Deutschland rasant gestiegen. Für individuelle Schicksale wie das von Curt Proskauer und seiner Familie bedeutet das im Einzelfall: ein weiteres Mal quälende Wartezeiten und aufreibender Papierkram. Denn viele der Dokumente, die der Breslauer Zahnarzt und Medizin-Historiker Curt Proskauer bereits im amerikanischen Generalkonsulat eingereicht hatte, verloren nach einer gewissen Zeit auch wieder ihre Gültigkeit. Ob sich Curt Proskauer bis dahin erneut um ein Visum bewerben wird können: ungewiss!

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Proksauer, AR 25641

Original:

Archivbox 2, Ordner 30

Eine Vollzeitbeschäftigung

Die aufwändigen Auswanderungs-Vorbereitungen

Basel

Hilde Lachmann-Mosse hatte in ihrem jungen Leben schon einige Umzüge hinter sich. Aufgewachsen war die 26-Jährige in Berlin. Weitere Stationen waren Woodbrooke/Grossbritannien (Schule), Freiburg (Medizin-Studium) und Basel (Promotion im Fach Medizin). Nun stand ihr ein weiterer Umzug bevor: in die Vereinigten Staaten. Die Arbeitsbescheinigung über ihre Zeit als gynaekologische Assistenzärztin in der Baseler Unversitätsklinik hatte sie bereits ins Englische übersetzen lassen – allerdings war dies nur ein Schritt von vielen. Auch wenn die eigentliche Bescheinigung nur wenige Zeilen lang ist: Allein drei Beglaubigungs-Stempel verschiedener Institutionen zeugen davon, wie viele Behördengänge für Hilde Lachmann-Mosse nötig gewesen sein müssen, um schließlich dieses Dokument in Händen halten zu können.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Mosse Familie, AR 25184

Original:

Archivbox 3, Ordner 35

Ratloser Völkerbund

550.000 weitere Flüchtlinge erwartet

„Weitere 550.000 Katholiken, Legitimisten und Nicht-Arier‘ werden gezwungen sein, das Großdeutsche Reich zu verlassen.“

Genf

Der Bericht des Völkerbundes war alarmierend. Sir Neill Malcom, der Hohe Kommissar für deutsche Flüchtlinge im Völkerbund, rechnete mit 550.000 weiteren Menschen, die in Kürze das Deutsche Reich würden verlassen müssen. Nicht-staatliche Flüchtlingsorganisationen seien bereits komplett überlastet. Was tun? Die Konferenz von Evian nur knapp zwei Monate zuvor war gescheitert. Große Aufnahmeländer wie etwa die USA hatten ihre Immigrations-Quoten nicht angepasst. Die JTA berichtete am 5. September über Sir Malcoms Vorschläge – und diese fielen angesichts der internationalen Lage karg aus: Länder, die Flüchtlingen bisher keine Arbeitserlaubnis gegeben hatten, wurden ermutigt, stärker zusamenzuarbeiten und den Menschen immerhin zu gestatten, sich eine geringe Summe für einen Neuanfang im Exil zu verdienen.

auswege-schwinden

Die Härte schweizerischer Flüchtlingspolitik

„Begründung: Widerrechtliche Einreise“

Zürich

Die Begründung war kurz und knapp, „Widerrechtliche Einreise“ stand auf dem Polizeibericht, der Kurt Kelman mit einer einjährigen Einreisesperre in die Schweiz und Liechtenstein belegte. Bei Verstoß drohten dem 19-jährigen Studenten aus Wien bis zu sechs Monate Gefängnis und eine hohe Geldstrafe. Kurt Kelman war zuvor von Österreich in die Schweiz eingereist und schließlich von der Zürcher Polizei verhaftet worden. Schon kurz nach dem „Anschluss“ hatte die Schweiz eine Visumspflicht für Österreicher eingeführt. Und in den vorangegangenen Wochen hatte sie ihre bislang schon restriktive Einwanderungspolitik nochmals verschärft: Grenzkontrollen und vermehrte Zurückweisungen an der Grenze wurden Alltag. Besonders hart traf es österreichische Juden wie den Studenten Kurt Kelman. Denn seit dem „Anschluss“ hatten die Nazis den Druck auf Juden, zu emigrieren, enorm erhöht.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt Kelman, AR 11292

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Ma’ayan Tsvi

Makkabi-Bewegung bereitete in Deutschland Gruendungsmitglieder der Siedlung aus

Ma'ayan

Der wachsende Zustrom europäischer Juden auf der Flucht vor den Nazis nach Palästina führte zum Widerstand seitens der palästinensischen Araber: 1936 brach eine bewaffnete Revolte aus. Während dieser Zeit machten sich jüdische Siedler ein Gesetz aus der Zeit des Osmanischen Reiches zunutze, laut dem ein nicht genehmigter Bau nicht abgerissen werden durfte, sobald er ein Dach besaß: Sie errichteten im Schutz der Nacht aus vorgefertigten Teilen einen von einer Palisade umgebenen Zaun, so dass im Fall der Entdeckung durch Beamte der britischen Mandatsmacht nichts dagegen unternommen werden konnte. Gleichzeitig war ein Bau dieser Art sofort verteidigungsfähig gegenüber Angriffen lokaler Araber. Eine dieser Siedlungen war Ma’ayan (später bekannt als Ma’ayan Tsvi), westlich von Sichron Jaakow auf der nördlichen Küstenebene gelegen. Ihre 70 Gründungsmitglieder waren als Mitglieder der Makkabi-Bewegung in Deutschland (und ab 1935 in Palästina selbst) auf das Pionierleben im Lande vorbereitet worden.

QUELLE

Institution:

Courtesy of Kedem Auction House

Original:

Photograph Album – Establishment of Ma'ayan Tzvi Kibbutz

Kontakte sind Geld wert

Agnes Graetz nutzt ihr Netzwerk, um ihrer Tochter die Auswanderung in die USA zu ermoeglichen

„Ich bitte Sie, mir, wenn irgend möglich in Kürze zu schreiben, ob Sie eine Möglichkeit sehen, die nicht - wie das jetzt üblich zu sein scheint - unwahrscheinlich hohe Garantien und Rechtsanwaltskosten erfordert.“

Luzern

Eine Krankheit auf Reisen zwang Wilhelm Graetz 1938, seinen Aufenthalt in der Schweiz auszudehnen. Angesichts der sich zuspitzenden Situation entschloss er sich, sein Zuhause in Berlin aufzugeben. Das vormals gut situierte Ehepaar konnte seinen vier erwachsenen Kindern finanziell nicht unter die Arme greifen, hatte aber den Vorteil weit verzweigter Kontakte: Wilhelm Graetz war Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gewesen und kannte als Leiter des deutschen „ORT“ vielerorts potentielle Helfer. Im August führte ihn eine Reise nach Ungarn. Am 27. nutzte seine Frau Agnes die Zeit, bei dem bekannten Territorialisten und „ORT“-Führer David Lvovicz um Hilfe für eine ihrer drei Töchter zu bitten, die dringend eine Bürgschaft brauchte, um nach Amerika auswandern zu können.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung William Graetz, AR 4121

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

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