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Auswanderung als einziger Ausweg

Der Bericht des Joint Distribution Committee nach den Novemberpogromen

„Das Elend der Juden im Reich ist unbeschreiblich. Ihrer Unterhaltsquellen beraubt, aus ihren Wohnungen hinausgeworfen, nicht imstande, in arischen Geschäften einzukaufen, zu Tode verängstigt durch die jüngsten Ausschreitungen, von Festnahme und schwerer Arbeit in Konzentrationslagern bedroht, gibt es für sie keine andere Lösung als die Emigration.“

Berlin

Der Abgesandte des American Joint Distribution Committee, George Rooby, dessen Auftrag es war, nach den Novemberpogromen in Deutschland eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, reiste in mehrere Städte, um Eindrücke aus erster Hand zu sammeln. Die Ergebnisse waren zutiefst verstörend: Berlin, Nürnberg, Fürth, egal, wohin er ging, überall sah er niedergebrannte Synagogen, demolierte und geplünderte jüdische Geschäfte, entweihte Torahrollen und traf zu Tode erschrockene Juden an, deren Führerschaft Handlungsverbot hatte oder in Konzentrationslager gebracht worden war. Nicht-Juden, die halfen, setzten sich der Gefahr der Vergeltung durch die Nazis aus. Die fast vollständige Abwesenheit von Kleinkindern und Babys hatte man Rooby damit erklärt, dass seit dem Machtantritt der Nazis die jüdische Geburtenziffer erheblich zurückgegangen sei. Leiter jüdischer Gemeinden hatten ihm versichert, für unmittelbare Wohlfahrtsarbeit stünden genügend Mittel zur Verfügung. Denjenigen Organisationen hingegen, deren Ziel die Förderung der Auswanderung war, fehlte es erheblich an Geld. Allgemein herrschte die Hoffnung, die Reichsvertretung würde in Kürze ihre Tätigkeit wieder aufnehmen können und das ihre tun, um die Auswanderung zu beschleunigen. Diese, so Roobys Schlussfolgerung, sei die einzige Hoffnung, der Gewalt zu entkommen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung George Rooby, AR 6550

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Quälende Ungewissheit

Die Sorge um Angehörige in Deutschland

„Das Gefühl der Ungewissheit über Euer persönliches Wohl ist so gross und die Hilflosigkeit bei allem Einsatz so trostlos, dass ich wirklich nicht weiss, was ich schreiben soll.“

Cleveland, Ohio/Stolzenau

Nicht wenige Juden in Deutschland reagierten mit Verzweiflung, existentieller Angst und sogar mit Selbstmord auf die Ereignisse der Novemberpogrome. Aber auch für diejenigen, die es geschafft hatten, sich ins Ausland abzusetzen, war die Situation hochgradig bedrückend: von weitem mussten sie mitansehen, wie ihre Gotteshäuser in Flammen aufgingen, wie Juden zu Tausenden festgenommen und in Konzentrationslager gesperrt wurden, wie jüdischer Besitz gestohlen oder zerstört wurde. Am schlimmsten war jedoch die Ungewissheit um das Befinden geliebter Angehöriger und die Qual, ihnen nicht oder zu langsam helfen zu können. Einer der vielen Emigranten, die diese Gefühle artikulierten, war Erich Lippmann: in diesem Brief aus Ohio an seine Mutter und Großmutter in Niedersachsen beschreibt er das Gefühl der Hilflosigkeit, erwähnt aber auch Bemühungen, von offizieller Seite Unterstützung zu bekommen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Martha Lipman, AR 6355

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Für ewige Zeiten

Das Ende einer schönen Illusion

Dresden

Unter den 1400 während der Novemberpogrome zerstörten Synagogen war auch die nach ihrem Architekten benannte Semper-Synagoge in Dresden. Äußerlich neo-romanisch, war das Gebäude im Innern im maurischen Stil gehalten – einer Bauart, die von zahlreichen anderen Architekten jüdischer Sakralbauten imitiert wurde. Als das Gebäude von SA und SS niedergebrannt wurde, waren seit seiner feierlichen Eröffnung im Jahr 1840 98 Jahre vergangen. Rabbi Zacharias Frankel hatte es “für ewige Zeiten” dem Dienst Gottes geweiht und war der Anerkennung voll, “welche Achtung vor religiöser Freiheit dieses Volk beseelt”.

Zerstörte Pracht

Ein Gotteshaus geht in Flammen auf

Wiesbaden

Am 13. August 1869 war die Synagoge am Michelsberg in Wiesbaden feierlich ihrer Bestimmung zugeführt worden. Der Bau sollte den gewachsenen räumlichen Bedürfnissen der Gemeinde Rechnung tragen, gab aber auch Zeugnis von ihrem gemehrten Wohlstand und bürgerlichen Selbstbewusstsein. Im Beisein der Vertreter anderer Religionsgemeinschaften hatte Rabbiner Süskind das liberale Gotteshaus als „Pflanzstätte vaterländischer Tugenden“ bezeichnet, das nicht nur im Kreise der eigenen Glaubensbrüder, sondern „auch im weiteren Kreise der Menschheit“ seine einigende Kraft bewähren solle. — Von dem prächtigen Gebäude im maurisch-byzantinischen Stil war nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November nur die Außenwand stehengeblieben – im Innern war es völlig ausgebrannt.

Brandstiftung

Nazi-Bürokratie

„Eine Baugenehmigung für die Wiedererrichtung der Synagoge an derselben Stelle ist ausgeschlossen.“

Chemnitz

Während die jüdische Bevölkerung der Stadt versuchte, die brutale Gewalt zu verarbeiten, die sie zwei Tage zuvor erlebt hatte – die prächtige Synagoge war in der Pogromnacht in Brand gesteckt und zerstört und 170 Mitglieder der Gemeinde ins KZ Buchenwald deportiert worden – wurde der Vertreter der Gemeinde, der Kaufmann Josef Kahn, vom Bürgermeister der Stadt kontaktiert: mit unfassbarem Zynismus forderte er, die Ruinen der Synagoge, die in der Nacht vom 9. auf den 10.11. „in Brand geraten“ sei, seien innerhalb von drei Tagen zu entfernen. Falls der Anordnung nicht innerhalb des angegebenen Zeitrahmens Folge geleistet werde, werde das Baupolizeiamt die Räumung auf Kosten des Besitzers veranlassen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Chemnitz, Sammlung der Juedischen Gemeinde. AR 813

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Ein Freudenfest in schweren Zeiten

Eine Hochzeit als Atempause

„Für diesen von Gott geweihten Ehebund erflehen wir Heil, Frieden und Segen.“

BERLIN

In einem Jahr, das durch zahlreiche beunruhigende anti-jüdische Maßnahmen gezeichnet war, muss die Hochzeit von Frieda Ascher und Bernhard Rosenberg am 23. Oktober in Berlin für ihre Freunde und Verwandten eine stark benötigte Atempause bedeutet haben. Der Offiziant bei der Zeremonie war der orthodoxe Rabbiner Dr. Moritz Freier. Rabbiner Freier wurde wiederholt von jungen Juden angesprochen, die infolge des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland keine Stelle finden konnten. Seine Frau, Recha Freier, war bereits im Januar 1933 auf die Idee gekommen, jüdischen Jugendlichen zu helfen, in das palästinensische Mandatsgebiet einzuwandern und sich in Kibbutzim anzusiedeln, ein Projekt, das unter dem Namen „Jugend-Alija“ bekannt ist.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Trauurkunde für Bernhard Rosenberg und Frieda Ascher; 7.5

Gemeinsames Sommerlager fördert Integration

Das American Friends Service Committee fördert die Integration jüdischer Flüchtlinge

„Von besonderer pädagogischer Bedeutung war die kooperative Durchführung aller Gemeinschaftsarbeiten. Sämtliche Teilnehmer verrichteten alle Arten praktisch-hauswirtschaftlicher Tätigkeit und wurden im Garten- und Feldbau unterwiesen. Die hierbei erworbene Gewöhnung an körperliche Arbeit war nicht nur pädagogisch wichtig, sie war zugleich eine ausgezeichnete Körperschule und hat, neben intensiv betriebenem Schwimmsport, die gesundheitliche Verfassung der Menschen gestärkt.“

Hyde Park, New York

Zahlreiche jüdische Organisationen, wie die Hebrew Immigrant Aid Society, German Jewish Children’s Aid und das Boston Committee for Refugees widmeten sich der Rettung von Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland. 1938 war es eine nicht-jüdische Organisation, das American Friends Service Committee (Quäker), die sich ein besonders schönes Projekt einfallen ließ: von Mitte Juni bis Anfang September leitete es ein Sommerlager im Hudson-Tal für etwa 70 Personen, überwiegend jüdische Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland und etwa ein Drittel Amerikaner. Indem sie gemeinsam arbeiteten, lernten und sangen, Haushaltspflichten teilten, Vorträge und Gottesdienste besuchten, miteinander Sport trieben und Spiele spielten, wurde das gegenseitige Kennenlernen gefördert. Der Verfasser dieses Artikels ist voller Dankbarkeit für das Projekt, das er als „bemerkenswerten Beitrag zur inneren Integration unserer Menschen“ bezeichnet.

Zeit zum Innehalten

Berlin

Schülerinnen und Schüler an jüdischen Schulen sollten diesen hohen Festtag möglichst mit allen Sinnen erfahren, fernab von den Sorgen und Nöten, mit denen sie im Alltag konfrontiert waren.

Berlin

Jom Kippur fiel 1938 auf den 5. Oktober, einen Mittwoch. Die Schulabteilung der „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ hatte in diesem Jahr ein Büchlein mit zahlreichen Anregungen veröffentlicht, wie dieser hohe Festttag in den Schulen begangen werden könne. Es liest sich wie eine didaktische Handreichung, die so auch in früheren oder späteren Jahren hätte geschrieben werden können: auf die schwierigen Umstände, in denen sich die Juden in Deutschland und nicht zuletzt jüdische Schülerinnen und Schüler 1938 befanden, finden sich keinerlei Hinweise. In den vergangenen fünf Jahren hatten die Nazis schrittweise eine “Rassentrennung” in öffentlichen Schulen vollzogen. Der Anteil jüdischer Schüler an öffentlichen Schulen hatte sich bereits bis 1936 nahezu halbiert.

 

 

Jahreschronik 1938

Ausweise von Juden für ungültig erklärt

Der Pass einer jüdischen Frau, mit dem verpflichtendem „J“ für „Jüdin“ versehen. Sammlung Siegmund Feist, Leo Baeck Institute

Das Reichinnenministerium erklärt alle Ausweise von Juden für ungültig. Erst der rote Aufdruck des Buchstabens „J“ mache die Pässe wieder gültig. Die Aktion ist ein weiterer Schritt im Bestreben der Nazis, die Juden dauerhaft vom Rest der Bevölkerung zu trennen.

Zur Jahreschronik 1938

Entweihung und Zerstörung

Die Mellrichstädter Synagoge wird geschändet

Abgesehen hatte es der Mob auf die jüdischen Gemeindemitglieder. Als diese nicht auftauchten, drangen die Menschen in die Synagoge ein und verwüsteten sie.

Mellrichstadt

In der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober wurde die Synagoge im unterfränkischen Mellrichstadt komplett verwüstet. Eigentlich hatte es die Menschenmenge auf die Gemeindemitglieder abgesehen: sudetendeutsche Flüchtlinge hatten die Menschen aufgehetzt, den Gottesdienstbesuchern auf dem Weg zur Synagoge aufzulauern. Die jüdische Gemeinde aber war rechtzeitig gewarnt und der Gottesdienst abgesagt worden. Nun stand der wütende Mob aus Sudetendeutschen und Mellrichsstädtern vor der Tür der Synagoge. Es flogen Steine, die Tür wurde aufgebrochen und das Inventar zerstört. Auch vor den Torahrollen und anderen Ritualgegenständen machte der Mob keinen Halt. Die Synagoge war nach dieser Nacht nicht mehr nutzbar.

“Zum letzten Mal”

Eine Bar Mizwa wird zum Abschied

Und sie feierten trotzdem. Viele der Familien, die in diesem September die Bar Mizwa ihrer Söhne begingen, würden nicht mehr lange in Berlin sein. An diesem Tag kommen sie aber alle nochmal in der Synagoge zusammen.

BERLIN

Mehr ein wehmütiger Abschied als eine freudvolle Bar Mizwa: Rabbi Manfred Swarsensky schien sich der Lage seiner Gemeindemitglieder an der Berliner Synagoge Prinzregentenstraße vollends bewusst zu sein. In seiner Ansprache zur Bar Mizwa von 15 Jugendlichen fing er die Stimmung an diesem Festtag in einem eindrücklichen Bild ein: Alles trage gerade „den Stempel auf sich ‚Zum letzten Mal‘.“ Viele Familien, deren Söhne an diesem Tag ihre Bar Mizwa feierten, säßen bereits auf gepackten Koffern. Für eine Familie gehe es sogar schon am darauffolgenden Tag los. Die Synagoge im Berliner Stadtteil Wilmersdorf war der einzige Synagogenneubau im Berlin der Weimarer Republik gewesen. Schnell hatte sie sich auch zu einem jüdischen Kulturzentrum entwickelt. Nun, im ausgehenden September 1938, war dem Rabbi klar, dass seine Gemeinde vor großen Veränderungen stehe: „Wenige Jahre noch, und vieles von dem, was heute noch war, wird vergangen und vielleicht auch vergessen sein.“

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gerhard Walter, AR 11826

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

„Wir wandern aus.“

Ein neues Jahr, ein neuer Start

HAMBURG

Ob sich die Schwestern Helen und Eva Hesse irgendwann noch an das diesjährige Rosch Haschana erinnern würden können? Für ihre Eltern Wilhelm und Ruth Hesse jedenfalls war das Neujahrsfest 1938 eine Zäsur. Die Familie hatte die Entscheidung gefasst, aus Hamburg auszuwandern. Helen war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt, ihre kleine Schwester Eva gerade einmal zwei. Ihr Vater führte in dieser Zeit ein Tagebuch für seine beiden Töchter. Den Eintrag zu Rosch Haschana 5699 überschrieb er mit großen, gedruckten Lettern: „Wir wandern aus”, das „Motiv” des diesjährigen Neujahrsfestes, wie Wilhelm handschriftlich ergänzte. Seine Töchter sollten bis dahin allerdings möglichst sorgenfrei leben. Dass es ihren Eltern ganz anders ging, wird zum Ende des Tagesbucheintrages klar. Dort schrieb Wilhelm Hesse: „Später werden sie sich mal wundern, was ihre Eltern in diesen Zeiten alles ertragen mussten. Wir wandern aus.”

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Helen und Eva Hesse Familie, AR 25327

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Verlassene Synagogen

Gleiwitzer Gemeinden spüren Folgen der Auswanderung

„Viele kleinere, zu unserem Verband gehörende Gemeinden sind völlig verwaist. Wie müssen uns mit ihrer Auflösung befassen. Ehrwürdige Gotteshäuser müssen ihrer Bestimmung entzogen und verkauft werden.“ [aus der Neujahresansprache des Synagogengemeindeverbandes für Oberschlesien]

GLIWICE

Zu Rosch Haschana wünschte sich Arthur Kochmann für den Synagogenverband für Oberschlesien zweierlei: Dass sich im neuen Jahr die Wünsche eines jeden Gemeindemitglieds erfüllen mögen, aber auch, dass die Juden in Oberschlesien „die innere Geschlossenheit jederzeit erhalten.“ Zwei Wünsche, die sich im Herbst 1938 leider oftmals widersprechen mussten. Die Zahl der Auswanderer aus Gleiwitz war in den vergangenen Monaten extrem gestiegen. Arthur Kochmann verweist auf die dramatischen Folgen für viele kleinere Synagogen in und um Gleiwitz: Viele müssten geschlossen und verkauft werden. Lange noch hatte ein Minderheitenschutz aus dem Jahr 1922 viele Juden in Gleiwitz vor offiziellen antisemitischen Gesetzen der Nazis geschützt, mit seinem Auslaufen 1937 aber war es mit der Gnadenfrist vorbei.

QUELLE

Institution:

The United States Holocaust Memorial Museum

Original:

Auf Deine Hilfe hoffe ich, Gott, in: Jüdisches Gemeindeblatt, vol. 3, no. 18, p. 1. Courtesy of USHMM

Nach Haifa? Nicht jetzt.

Onkel Alfred rät Neffen ab von Besuch

„Der Zeitpunkt, zu dem wir hierherkommen sollen, wird nach meiner Auffassung von weit höherer Seite bestimmt, das Schicksal wird uns zeigen, wenn wir hierherkommen sollen. Ich habe noch niemals so viele unglückliche Menschen in einem Land konzentriert gesehen, wie hier.“

Haifa/Meran

Nach sechs Jahren in Palästina war Alfred Hirschs Urteil eindeutig: Angesichts der politischen, klimatischen und wirtschaftlichen Struktur des Landes könnten selbst ausgesprochen intelligente, ausdauernde Menschen nicht viel erreichen. Bei seinem Versuch, seinem Neffen Ulli das Kommen auszureden, nahm er kein Blatt vor den Mund. Im sehr säkularen Haifa ansässig, war Alfred Hirsch überzeugt, für einen jungen orthodoxen Juden wie Ulli wäre das Leben in Palästina zum gegenwärtigen historischen Zeitpunkt eine große Enttäuschung. Zwischen der Atmosphäre, die durch das kollektive Elend einer großen Anzahl entwurzelter, bedrückter Menschen erzeugt wurde und den politischen Unruhen, die ernsthafte wirtschaftliche Probleme hervorriefen, erschien Onkel Alfred der Zeitpunkt nicht richtig. (Mit politischer Unruhe gemeint sind der Arabische Aufstand in Reaktion auf den massiven Zustrom europäischer Juden und die Aussicht auf die Errichtung einer Nationalen Heimstätte für die Juden, wie durch die Balfour-Erklärung 1917 vereinbart.)

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Julius und Elisabeth Hirsch, AR 25585

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Nichts Nachteiliges bekannt

Seelsorgestelle bescheinigt Edmund Wachs' Unbedenklichkeit

„Von der gefertigten Seelsorge wird hiermit bestätigt, dass gegen Herrn Edmund Wachs hieramts nichts Nachteiliges bekannt ist.“

Wien

Dieses Zeugnis, ausgestellt vom Rabbinat der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, war nur eines unter einer Vielzahl von Dokumenten, die Edmund Wachs zusammengestellt hatte, um seine Auswanderung in die Vereinigten Staaten zu ermöglichen. Kurz nach dem „Anschluss“ war Wachs in „Schutzhaft“ genommen worden, ein Mittel, das den Nazis durch die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, auch als „Reichstagsbrandverordnung“ bekannt, in die Hand gegeben worden war: Der Reichstagsbrand am 27. Februar 1933, ein Brandanschlag auf das Parlamentsgebäude in Berlin, hatte als Anlass und Rechtfertigung für das Gesetz gedient. Es wurde bereits am darauffolgenden Tag erlassen und legalisierte die willkürliche Festnahme jeder Person, die der mangelnden Loyalität gegenüber dem Regime verdächtigt wurde. Das Gesetz legte den exakten Tatbestand nicht fest und kam weithin gegen Juden und politische Gegner zur Anwendung.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Edmund und Berta Wachs, AR 25093

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Grüße und Küsse

Eine liebe Nachricht an Oma in Breslau

„Hoffentlich sind Deine Schmerzen schon besser geworden. Viele herzliche Grüße und Küsse und einen guten שבת [Schabbes], auch an Blumenthals, Dein Enkelkind Michael“

Oldenburg/Breslau

Nach Handschrift und Stil zu urteilen, war Michael Seidemann recht klein, als er seiner Großmutter Louise Seidemann in Breslau diese Postkarte schickte. Interessanterweise war die Adresse, von der aus er schrieb, identisch mit der der Synagoge des Orts, Oldenburg. Obwohl die ersten Zeugnisse jüdischer Präsenz in Oldenburg aus dem 14. Jahrhundert stammen, sollte es bis 1855 dauern, bis die Gemeinde ihre erste zu diesem Zweck erbaute Synagoge eröffnete. Im Zuge der Emanzipation begannen Juden, zum Handel der Stadt beizutragen, indem sie unter anderem Schuhe, Bücher, Fahrräder und Musikinstrumente verkauften, aber auch als Viehhändler und in der Landwirtschaft. Ihr Anteil an der Bevölkerung ging selten über 1% hinaus. Dennoch kam es schon in den zwanziger Jahren zu Angriffen antisemitischer Schläger auf jüdische Geschäfte. 1933 hatte die Stadt 279 jüdische Einwohner aus einer Gesamtbevölkerung von 66.951. Als Michael diese Postkarte schrieb, waren von Dutzenden jüdischer Geschäfte und Betriebe nur zwei übrig geblieben.

Die Abreise eines Gelehrten

Ismar Elbogen, ein großer Geschichtler des deutschen Judentums, verlässt sein Heimatland

„Professor Ismar Elbogen, ein bekannter jüdischer Gelehrter, bricht auf in die Vereinigten Staaten, um sich dort dauerhaft niederzulassen.“

BERLIN

Dank Jahrzehnten wissenschaftlicher Arbeit, besonders seiner grundlegenden Werke „Die Religionsanschauungen der Pharisäer“ (1904) und „Der Jüdische Gottesdienst in seiner Entwicklung“ (1913), war Prof. Ismar Elbogen international gut bekannt als er 1938 nach Jahren des Zögerns beschloss, auszuwandern. Seine Bemühungen als Vorsitzender des Erziehungsausschusses der Reichsvertretung der Juden in Deutschland waren durch das Regime erheblich behindert worden, und sein letztes in Deutschland veröffentlichtes Buch, „Die Geschichte der Juden in Deutschland“ (1935) war durch das Propagandaministerium massiv zensiert worden. In den zwanziger Jahren hatten ihm verschiedene Hochschulen in den Vereinigten Staaten (Jewish Institute of Religion, Hebrew Union College in Cincinnati; einen Ruf an die Columbia University hatte er abgelehnt) Lehraufträge erteilt, so dass er vielfältige Kontakte nach Übersee besaß, als die Zeit kam, Deutschland zu verlassen. In der heutigen Ausgabe informiert die Jewish Telegraphic Agency ihre Lehrer über die bevorstehende Abreise des Gelehrten.

Eine ganz bescheidene Schabbosfreude

Ein Gruß an den Rabbi einer bedrängten Gemeinde

Chemnitz

Nach dem Verbot der Ansiedlung von Juden in Chemnitz im Mittelalter dauerte es bis Ende der achtzehnhundertsechziger Jahre, dass Juden sich legal in der sächsischen Stadt niederlassen konnten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Gemeinde dermaßen groß geworden, dass ihre Synagoge auf der Neugasse 3 nicht länger ausreichend war, und 1899 weihte Rabbiner Dr. Mühlfelder feierlich das neue Gebäude am Stephansplatz ein. Dieses Foto des neo-romanischen Baus wurde im Juli 1938 aufgenommen. Eine Anzahl kleinerer Gebetsräume trugen den religiösen Bedürfnissen der osteuropäischen Juden Rechnung, die seit Anfang des Ersten Weltkriegs in die Stadt gekommen waren und mit der Zeit über die Hälfte der jüdischen Bevölkerung der Stadt ausmachten.

Ein 5. Geburtstag

Die kleine Helen wird ein Jahr älter

Hamburg

Wilhelm Hesse war ein liebevoller, zutiefst engagierter Vater: Seit der Geburt seiner Töchter Helen (1933) and Eva (1936) dokumentierte er die Entwicklung der Mädchen genauestens in Tagebüchern, die er für sie führte. Zusätzlich zu kleinen Texten und Gedichten, die er selbst schrieb, fügte er zahlreiche Fotos und Bezüge auf jüdische Feiertage ein. Gelegentlich wird der oft humorvolle, manchmal sogar kindliche Ton durch Material unterbrochen, das eine Ahnung von der Stimmung unter den Juden im Land vermittelt, wie z.B. ein Aufruf Leo Baecks zu jüdischer Einheit und Solidarität im Namen der Reichsvertretung der Deutschen Juden. Aber Helen und ihre Schwester Eva hatten das Glück, noch zu klein zu sein, um zu verstehen, was sich um sie herum zusammenbraute. Der 30. Juni war Helens 5. Geburtstag.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Helen und Eva Hesse Familie, AR 25327

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Abschied, um neu anzufangen

Hans Lamm geht auf „Amerika-Wanderung“

Berlin

So tief war das Hüten des Sabbats, der Feiertage und der jüdischen Speisegesetze im Leben der Familie Lamm verwurzelt, dass selbst die katholische Köchin Babett für die Einhaltung der Bräuche sorgte. Bei traditioneller Auffassung des Judentums waren die Lamms weltlichen Dingen gegenüber aufgeschlossen. Nach dem Gymnasium studierte Hans für kurze Zeit Jura, verstand aber schnell, das er als Jude in dem neuen politischen Klima in diesem Bereich nicht vorankommen würde und sattelte daher auf eine journalistische Laufbahn um. Die Karrieren jüdischer Journalisten wurden zu dieser Zeit massiv dadurch behindert, dass nicht-jüdische Zeitungen sie nicht anstellten und jüdische nach und nach zur Einstellung gezwungen waren. 1937 zog Lamm nach Berlin, wo er bei Leo Baeck und Ismar Elbogen an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums studierte, um sein Verständnis des Judentums zu vertiefen. Tief verwurzelt in der deutschen Kultur, konnte er sich nur schwer zur Auswanderung entscheiden. Doch schließlich überzeugte ihn sein älterer Bruder, dass es in Deutschland für Juden keine Zukunft gebe. In diesem Brief verabschiedet sich der 25-jährige Lamm herzlich und höflich, aber ohne spürbare Emotionen, von der Redaktion der Monatszeitung „Der Morgen“, einer anspruchsvollen Publikation, deren Mitarbeiter er gewesen war, und bedankt sich für die Förderung.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Abschiedsschreiben von Hans Lamm an die Redaktion des „Morgen“ vor seiner Auswanderung in die USA; CJA, 1 C Mo 1, Nr. 2, #12509, Bl. 29

Von jetzt auf gleich

Nazis reißen die Münchner Hauptsynagoge ab

„Der Berichterstatter hat erfahren, dass die Nazis zur Entschädigung für die Synagoge, bei der es sich um wertvollen Grundbesitz handelt, eine geringe Summe zur Verteilung unter bedürftigen Münchner Juden angeboten haben.“

München

Angeblich aus verkehrstechnischen Gründen hatte die Stadt München die Israelitische Kultusgemeinde am 8. Juni davon in Kenntnis gesetzt, dass sie die prachtvolle, zentral gelegene Hauptsynagoge und das Grundstück, auf dem sie stand, für einen Bruchteil des tatsächlichen Werts zu verkaufen habe. Am 9. Juni begann der Abriss des Gebäudes, das kaum mehr als 50 Jahre lang als spirituelles und kulturelles Zentrum der jüdischen Gemeinschaft gedient hatte. Laut diesem Bericht der Jewish Telegraphic Agency vom 10. Juni hatte Kanzler Hitler persönlich den Befehl zur Entfernung des „Schandflecks“ erteilt. Rabbi Baerwald, der geistliche Führer der Gemeinde, hatte nicht mehr als einige Stunden früher Vorwarnung erhalten, um die heiligsten Gegenstände im Besitz der Gemeinde zu retten. Die noch nicht lange erworbene Orgel wurde an eine neu gebaute katholische Kirche weitergegeben. Die Wirkung des Abrisses des Gebäudes, einst ein Symbol von Beständigkeit, Stolz und Zugehörigkeit, auf die kollektive Psyche war verheerend.

Ein illustrer Jubilar

Claude G. Montefiore feiert seinen 80.

„Auch trübe Tage hatten die jüdischen Menschen nicht etwa bestimmt, den Glauben preiszugeben, dass das Gute überall auf der Erde beheimatet ist. Man vergegenwärtigte sich in schweren Tagen das Wort des R. Tanchuma: ,Sage nicht, nachdem ich Schmähung und Erniedrigung erfahren habe, soll auch mein Nächster sie erfahren, sondern wisse, wen du dann schmähen wirst: Den in Gottes Bilde Erschaffenen.‘“

Ludwigshafen

In seinen „Bemerkungen zum Wochenfest“, die in der Juni-Ausgabe des „Jüdischen Gemeindeblatts für das Gebiet der Rheinpfalz“ erschienen, stellt Rabbi Dr. Ernst Steckelmacher aus Ludwigshafen seine Leser vor eine echte Herausforderung: Laut seiner Interpretation des Buches Ruth, einer der vorgeschriebenen Lesungen während des Wochenfests, setzt sich das Judentum für die Dominanz des Universellen über das Partikuläre ein und zeigt, dass das Gute überall zu finden sei. So verkörpere beispielsweise die Moabiterin Ruth das Menschheitliche – keine intuitive Botschaft zu einer Zeit, wo die Ausgrenzung der Juden aus der deutschen Gesellschaft diese dazu zwang, sich nach innen zu wenden. Der 6. Juni 1938 war nicht nur der zweite Tag von Schawuot, sondern auch der 80. Geburtstag Claude G. Montefiores, des Präsidenten der Weltunion für progressives Judentum. Dr. Steckelmacher würdigt diesen Anlass und bekräftigt seine universalistische Botschaft, indem er auf ähnliche Gedanken seitens des illustren Jubilars aufmerksam macht.

Jüdische Schulen

Ungewollter Schutzraum jüdischer Identität

„Bialik teilt in seinem Aufsatz ,Halacha und Aggada’ eine Deutung mit, die er von Achad Haam gehört hat: ,...Wer auf den Geist achtet, wird auch aus ihr [dieser Mischna] zwischen den Zeilen das Rauschen des Herzens und die zitternde Sorge um das künftige Schicksal eines Volkes heraushören, das 'auf dem Wege geht,‘ und nichts mehr von seinem Besitz in der Hand hat als ein Buch, und dessen ganzer innerer Zusammenhang mit irgendeinem seiner Aufenthaltsländer nur auf seinem Geiste beruht.‘ “

Berlin

Für viele jüdische Kinder wurde der Schulbesuch unter den Nazis zur Hölle: Schon der Schulweg konnte zu einem Spießrutenlauf unter anti-jüdischen Kränkungen werden. Ausgrenzung durch Mitschüler und Lehrer war die Regel. Um den Kindern diese Qual zu ersparen, schickten Eltern, die es sich leisten konnten, ihre Kinder auf jüdische Schulen. Bis 1933 hatten die überwiegend assimilierten deutschen Juden wenig Interesse an eigenen Schulen, aber das feindselige Klima unter dem Naziregime ließ mehr und mehr Einrichtungen dieser Art entstehen. Dr. Elieser L. Ehrmann, ein Pädagoge und Mitarbeiter in der Schulabteilung der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, hatte seit 1936 Arbeitspläne für Lehrkräfte an jüdischen Schulen ausgearbeitet, die die Kenntnis der jüdischen Feiertage und des sie begleitenden Brauchtums vertiefen und damit eine positive jüdische Identität vermitteln sollten. Der hier gezeigte Auszug stammt aus Ehrmanns „Arbeitsplan für Omerzeit und Schawuot“, herausgegeben 1938 von der Reichsvertretung der Juden in Deutschland. In diesem Jahr fiel der erste Tag des Schawuot-Festes auf den 5. Juni.

Schneller und schneller

Leo Baeck wird 65

„Dieses Jahr wird ein schwieriges sein; das Rad dreht sich schneller und schneller. Es wird unsere Nerven und unsere Fähigkeit zu sorgfältigem Nachdenken auf die Probe stellen.“

Berlin

Bereits in April 1938 hatte Rabbiner Leo Baeck, der Präsident der Reichsvertretung der Juden in Deutschland und damit der Hauptrepräsentant des deutschen Judentums weitsichtig geschrieben: „Dieses Jahr wird ein schwieriges sein; das Rad dreht sich schneller und schneller. Es wird unsere Nerven und unsere Fähigkeit zu sorgfältigem Nachdenken auf die Probe stellen.“ Baeck hatte als Feldgeistlicher im Ersten Weltkrieg gedient und muss als Patriot vom erzwungenen Niedergang des deutschen Judentums tief getroffen gewesen sein. Angesichts der Verarmung weiter Teile der jüdischen Bevölkerung, der Beschneidung jüdischer Rechte und der Abdrängung der Juden an den Rand der Gesellschaft und keinerlei Aussicht auf Besserung war Leo Baecks 65. Geburtstag am 23. Mai vermutlich eine triste Angelegenheit.

„Jumheidi, heida“

Heinz Neumann feiert seine Bar-Mizwah

„Möge Gott Euch allen Gesundheit, Zufriedenheit und wieder glücklichere Zeiten schenken.“

Berlin

Es ist schwer vorstellbar, dass am Verfassen von Heinz Neumanns Tischrede für seine Bar Mizwah-Feier am 21. Mai nicht die leitende Hand eines Erwachsenen beteiligt war: Die Art wie der Junge seine Dankbarkeit dafür ausdrückt, dass ihm seine Eltern trotz der schweren Zeiten ein sorgenfreies Leben ermöglicht haben, wirkt kaum wie der Stil eines Dreizehnjährigen. Heinz verspricht, „die sittlichen Gebote des Judentums vor Augen zu haben“ und wünscht allen Gesundheit, Zufriedenheit und glücklichere Zeiten. Glücklicher Weise hatten eine Großmutter und eine Tante zu Ehren des Bar Mitzwah als Tafellied einen fröhlichen Text zur Melodie von „Jumheidi, heida“ verfasst, um für gute Laune zu sorgen, und sicher trug auch das Festmahl, gekrönt von einer “Fürst Pückler Bombe“, zur Hebung der Stimmung bei.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung von Neumann and Jacks Familie, AR 25580

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Die erste Rabbinerin der Geschichte

Regina Jonas spricht über „Religiöse Gegenwartsprobleme der jüdischen Gemeinschaft“

Berlin

Einige unscheinbare Zeilen in der heutigen Ausgabe der „Jüdischen Rundschau“ weisen auf einen Vortrag von „Fräulein Regina Jonas“ zum Thema „Religiöse Gegenwartsprobleme der jüdischen Gemeinschaft“ hin. Regina Jonas hatte mit großem Einsatz auf der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin studiert und hart um ihr Ziel, Rabbinerin zu werden, gekämpft: Selbst liberale Rabbiner, die wahrscheinlich eine positive oder doch wenigstens offene Einstellung gegenüber der Ordination hatten, wie z.B. Leo Baeck, wollten in diesen krisenhaften Zeiten keinen Staub aufwirbeln und waren nicht bereit, sie zu ordinieren. Als Abschlussarbeit verfasste sie eine halachische Abhandlung zum Thema „Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“. Es war Rabbiner Max Dienemann, der sie schließlich zur ersten Rabbinerin der Geschichte machte. Trotz der leidenschaftlichen Opposition gegenüber der Frauenordination in manchen Lagern und Zweifeln bezüglich der Gültigkeit von Regina Jonas‘ Ordinierung genoss sie interessanterweise den Respekt sogar mancher orthodoxer Rabbiner, die sie von diesem Zeitpunkt an „Fräulein Rabbiner“ oder „Kollegin“ nannten. Die „Jüdische Rundschau“ zog es anscheinend vor, auf Nummer sicher zu gehen

Gottvertrauen im Hier und Jetzt

Von Italien aus beruhigt Sigmund Hirsch seinen Neffen Julius

„Wegen der Politik, mache Dir, mein lieber Junge, nur keine Sorge. Tut Eure Pflicht wie bisher und ueberlasst alles Weiter Kodausch Boruch Hu. Persoenlich Ansichten gelten ueberhaupt nicht mehr; sonst wuerde ich Dir sagen, dass ich persoenlich an einen Krieg im Moment nicht glaube. Was man tun wird, wenn er Gott behuete wirklich kommt, wird sich dann zeigen. Kein Mensch ist weitsichtig genug, um voraussehen zu koennen, was kommen wird. Ihr werdet selbstverstaendlich in Italien bleiben. Aber wie gesagt, jede Diskussion ueber dieses Thema halte ich persoenlich fuer verfehlt, da kein Mensch den Krieg will, der nur den Ruin aller hervorrufen wuerde“.

Genua/Meran

Bereits 1935 hatte der orthodoxe Hamburger Arzt Henri Hirsch unter wachsendem Druck Deutschland verlassen und war zu seinem Bruder Sigmund in Genua in Italien gezogen. Kurz darauf schlossen sich ihm seine zweite Ehefrau Roberta und einige seiner erwachsenen Söhne an, um dann gemeinsam mit ihm nach Meran zu ziehen. 1938 starb Henri Hirsch. In diesem Brief von Sigmund Hirsch an seinen Neffen Julius versucht er, dem jungen Mann seine Sorge über einen bevorstehenden Krieg auszureden. Er redet ihm zu, auf Gott zu vertrauen und verspricht, den jungen Familienmitgliedern zur Seite zu stehen. Da er seit längerem in Italien war, scheinen viele ihre Hoffnungen auf ihn gesetzt zu haben: Mit spürbarem Bedauern berichtet er, wie wenig er für die „Tausenden“ von Menschen tun könne, die ihn um Hilfe bitten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Julius and Edith Hirsch, AR 25585

Original:

Archivbox 1, Ordner 22

Segregation der Jüngsten

Hamburger Jurist berichtet von Entwicklungsschritten seiner kleinen Tochter

„Die Zeiten sind sehr ernst geworden. Wir sind bedrückt und verzagt, und deshalb ist auch wenig Muße und Lust vorhanden, so ausführlich wie bisher zu schreiben und zu photographieren“.

Hamburg

Obwohl er erklärt, aufgrund der ernsten Lage bedrückt und daher kaum in der Stimmung zu sein, so regelmäßig wie zuvor zu schreiben und zu fotografieren, beschreibt Wilhelm Hesse, ein Hamburger Jurist, in einem Tagebucheintrag vom 3. Mai in einigem Detail die Entwicklung seiner Tochter Helen: Er berichtet von ihrer Fähigkeit, logisch zu denken und einem dermaßen starken Drang zu lernen, dass die Eltern das Gefühl haben, sie zurückhalten zu müssen. Auch erzählt Hesse mit Befriedigung von Helens Fortschritten im Kindergarten, versäumt aber nicht zu erwähnen, dass sie lernen müsse, sich besser mit ihrer kleinen Schwester Evchen zu vertragen. Seit dem Erlass der Nürnberger Gesetze 1935 – Helen war zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre alt – durften jüdische Kinder nicht länger nicht-jüdische Kindergärten besuchen, und jüdischen Kindergärtnerinnen war es verboten, nicht-jüdische Kinder zu betreuen. Familie Hesse war religiös und hätte sich wohl auch unter normalen Umständen für eine jüdische Einrichtung entschieden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Helen und Eva Hesse Familie, AR 25327

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Knechtschaft und das Fest der Befreiung

Jugendliche feiern Pessach

Berlin

1938 fiel der erste Tag des Pessach-Festes auf den 16. April. Wie jedes Jahr versammelten sich die Bewohner des Jüdischen Jugendwohn- und Lehrlingsheims in Berlin um einen festlich gedeckten Tisch zum zweiten Seder. Unter der engagierten Leitung Paul und Friedel Josephs versorgte das Heim seine Schützlinge mit Gelegenheiten, die weit über das Praktische, wie Unterbringung und Berufsausbildung, hinausgingen: Sie bemühten sich, ihnen kulturelle und intellektuelle Impulse zu verschaffen und ihre Horizonte zu erweitern. Die Jungen und jungen Männer im Alter von 14 bis 21 waren als „schwer erziehbar“ aus ihren Elternhäusern entfernt worden. Laut Friedel Joseph spielte sich das Leben im Heim zu diesem Zeitpunkt noch „relativ unbehelligt“ ab, aber die politische Situation kann seinen Bewohnern nicht entgangen sein: Die Pessach-Botschaft der Befreiung aus der Knechtschaft unter einem tyrannischen Herrscher muss in diesem Jahr starken Nachhall gefunden haben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Heinrich Stahl, AR 7171

Original:

ALB 69

50.000 Mazzen

Jüdische Winterhilfe ermöglicht verarmten Juden die Speisevorschriften zur Pessachwoche einzuhalten

Berlin

Die besonderen Speisevorschriften für die Pessachwoche bedeuteten eine zusätzliche finanzielle Belastung für die deutschen Juden, von denen viele Mühe hatten, über die Runden zu kommen. Die Jüdische Winterhilfe verteilte 50.000 Mazzen an bedürftige Juden und ermöglichte etwa 1000 Personen die Teilnahme an den beiden Sederabenden. Die Spender der Pessachsammlung der Winterhilfe erhielten ein Exemplar von Rabbi Selig Bambergers Übersetzung der Haggadah, deren Inneneinband mit einem Etikett versehen war, auf dem für die Spende gedankt wurde. Dieses Foto von Feiertagszubehör stammt aus einem Album Heinrich Stahls, des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, der die Jüdische Winterhilfe gemeinsam mit Rabbiner Leo Baeck 1935 bei einer Veranstaltung in Berlin ins Leben gerufen hatte.

Pessach-Ball mit „Kölner Jecken“

Die Zionistische Arbeiterbruderschaft sorgt für temporäre Heiterkeit unter deutsch-jüdischen Einwanderern

NEW YORK

Meist war die Jewish National Workers Alliance, unter welchem Namen die Zionistische Arbeiterbruderschaft bekannt war, mit ernsthaften Angelegenheiten beschäftigt: Unter anderem war sie bestrebt, die Arbeiterklasse zu stärken, und in wirtschaftlichen Notlagen, im Fall von Krankheit oder Tod ihrer Mitglieder, Hilfe zu leisten. 1911 hatte sie das erste Versicherungssystem für jüdische Arbeiter eingerichtet. Am 9. April 1938 wich sie von ihrer Kernaufgabe ab und hielt in der deutsch-jüdischen Hochburg Washington Heights in New York einen Pessach-Ball ab. Unter anderem wirkten an dem Programm „Kölner Humoristen“ mit – ein Gütezeichen unter deutschen Einwanderern, die mit Kölner Karnevalsnarretei vertraut waren, einer Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Veranstaltungsort war der Ballsaal der Paramount Mansion, in der verschiedene Institutionen zu Hause waren, die die Interessen deutsch-jüdischer Einwanderer förderten.

Kontaktabbruch

Ein Berliner verlässt die jüdische Gemeinschaft

Berlin

Hoffte Hans Petzold, ein 36jähriger gebürtiger Berliner, durch seinen Austritt zunächst aus dem Judentum und dann aus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin sein Los zu verbessern? Unter einem Regime, das von dem Gedanken rassischer Reinheit besessen war, war es kaum zu erwarten, dass Schritte dieser Art einen Unterschied machen würden. Laut der „Austrittskartei“ der Jüdischen Gemeinde zu Berlin trat Petzold innerhalb eines Monats offiziell sowohl aus der Berliner Gemeinde als auch aus dem Judentum aus.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Sammlung:

Karteikarte aus der Austrittskartei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin zum Austritt von Hans Petzold aus dem Judentum

Original:

CJA, 2 A 1

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