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Keine neue Regelung für Geschwister

Argentinien verschärft Einwanderungsbedingungen

„Mir ist immer elend zu Mute, wenn ich Euch Briefe schreiben muss, die immer wieder eine Hoffnung bei Euch zerstoeren, ich komme mir dann schuldbewusst vor, obwohl ich an der ganzen Sache beim besten Willen nichts aendern kann.“

Buenos Aires/Berlin

Aufgrund der Vorstellung, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte, dass Einwanderer – vorzugsweise aus Europa – gebraucht würden, um die gewaltigen Flächen Argentiniens zu bevölkern, war die Einwanderungspolitik des Landes vergleichsweise großzügig. Doch bereits nach dem Ersten Weltkrieg wendete sich das Blatt: der Bedarf an Arbeitskräften war saturiert, und in den zwanziger Jahren wurden administrative Barrieren gegen die Einwanderung errichtet. Als Opfer der Verfolgung durch die Nazis Zuflucht zu suchen begannen, wurden die Bestimmung weiter verschärft. Dennoch fanden Tausende deutscher Juden und Regimegegner in Argentinien Zuflucht. Unter ihnen war Max Busse. Seine Schwester Anna Nachtlicht, hatte gehört, die argentinische Regierung habe vor, die Einwanderung zu erleichtern und es zu ermöglichen, Geschwister anzufordern. Max erkundigte sich sofort, aber die Ergebnisse waren ernüchternd: in seiner Antwort vom 26. Dezember muss er ihr mitteilen, dass Pläne dieser Art nicht zu existieren scheinen. Verwandte in Frankreich hatten den Nachtlichts angeboten, bei ihnen auf die Einreisegenehmigung in ein Drittland zu warten. Vielleicht, so Max, wäre es einfacher, von dort aus einen Antrag zu stellen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Familie Nachtlicht, AR 25031

Original:

Archivbox 1, Ordner 7

Undankbares Vaterland

Ein ehemaliger Frontsoldat verliert sein Geschäft

Hamburg

Alle sechs Söhne des Hamburger Fabrikanten S. Anker gehörten zu den 85.000 jüdischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg für Deutschland in die Schlacht zogen. Unter den 12,000 jüdischen Gefallenen waren 457 Hamburger, darunter Heinrich und Richard Anker. Otto Anker, geb. 1883, überlebte schwer verwundet. Nachdem 1933 die Nazis an die Macht gewählt worden waren, verließen seine Söhne das Land und versuchten, auch ihre Eltern dazu zu bewegen. Doch als Träger des Eisernen Kreuzes und mit einer Nichtjüdin verheiratet, fühlte sich Otto Anker sicher. Die Dankbarkeit des Vaterlands hielt sich jedoch in Grenzen: 1938 wurde Ankers Betrieb „arisiert“. Dieser am 6. Dezember abgestempelte Ausweis Otto Ankers ist mit einem nicht zu übersehenden „J“ versehen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Familie Anker, AR 5424

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Berufsverbot in allen Künsten

Ungeeignet für die Förderung deutscher Kultur

„Nach dem Ergebnis meiner Überprüfung der in Ihren persönlichen Verhältnissen begründeten Tatsachen besitzen Sie nicht die erforderliche Eignung und Zuverlässigkeit, an der Förderung deutscher Kultur in Verantwortung gegenüber Volk und Reich mitzuwirken.“

Berlin/Dresden

Die Arbeiten des expressionistischen Malers und Grafikers Bruno Gimpel waren im Dritten Reich als „entartete Kunst“ eingestuft. Weder sein freiwilliger Dienst als Lazarettgehilfe im Ersten Weltkrieg noch seine „Mischehe“ mit einer „arischen“ Frau ersparten ihm die üblichen Repressalien: Am 22. November 1938 erhielt er einen Brief von der Reichskammer der bildenden Künste, die ihm erneut die Mitgliedschaft verweigerte und ihm Berufsverbot in allen Sparten seines Metiers erteilte. 1935 hatte diese Institution des Dritten Reiches schon einmal ein Aufnahmegesuch des Dresdner Künstlers abgeschlagen. Seit 1937 blieb ihm zum Broterwerb nichts anderes übrig, als jüdischen Kindern Zeichenunterricht zu erteilen.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Sammlung:

Schreiben des Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste mit der Ablehnung des Antrages auf Mitgliedschaft von Bruno Gimpel

Diskriminierung von Mischehen

Entlassung nach 25 Dienstjahren

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BERLIN

Der schwer kriegsversehrte Berliner Kriminalpolizei-Angestellte Ernst Patzer verlor im März 1938 seine Stellung. Der Grund dafür war das 1937 erlassene Deutsche Beamtengesetz, das „jüdisch Versippten“ die Arbeit im Staatsdienst verbot – und Patzer war seit 1925 mit einer deutschen Jüdin verheiratet. Dieser weitere Schritt des NS-Regimes, Juden und ihre Angehörigen aus allen Bereichen des Lebens zu verdrängen, traf das Ehepaar Patzer sehr hart: Er war Alleinverdiener und verlor nach 25 Dienstjahren nicht nur seine Stellung, sondern auch alle Pensionsansprüche. Dieses Schreiben vom 24. Oktober 1938 zeigt, wie Ernst Patzer Schritt für Schritt von öffentlicher Teilhabe ausgeschlossen wurde. Vergebens schrieb er als ehemaliger Frontsoldat an Hitler und Göring, um eine Weiterbeschäftigung in einer Behörde zu erwirken. Die Ehe blieb bestehen und er fand schließlich Arbeit als Rechnungsprüfer bei der Firma AEG. Den Nationalsozialismus hat das Ehepaar Patzer überlebt.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Sammlung:

Inv.Nr. Do 89/102II

Von jetzt auf gleich: staatenlos

Die Zahl der Ausbürgerungen steigt an

Berlin

Alfred Basch, geboren am 27. September 1915 in Magdeburg, war fortan staatenlos. Mit der Veröffentlichung seines Namens im deutschen Reichsanzeiger wurde Alfred Basch die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Grundlage dafür war das „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit“. Es galt bereits seit fünf Jahren. Doch in den vergangenen Monaten waren die Ausbürgerungszahlen deutlich angestiegen, oftmals traf es Personen und Familien, die nach dem Ersten Weltkrieg dank der vergleichsweise liberalen Einbürgerungspolitik der Weimarer Republik deutsche Staatsbürger geworden waren. Allein im September 1938 waren es 116 Familien, die auf Grundlage dieses Gesetzes vom einen Tag auf den anderen zu Staatenlosen gemacht wurden. Und damit nicht genug: Die Veröffentlichung ihrer vollen Namen, Geburtsorte und -daten machte sie zu einer Zielscheibe für Diskriminierung, die normales Weiterleben, und sei es auch nur vorübergehend, unmöglich machten.

Nicht aufgeben

Der Arzt Max Wolf will dem drohenden Berufsverbot entgehen

„Ihrem Wunsch gemäß bestätigen wir Ihnen, dass Sie von 1924 bis 30. September 1938 ordentliches Mitglied der Gesellschaft der Ärzte in Wien waren.“

Wien

Dr. Max Wolf hatte sein Fachgebiet schon vor Jahren gefunden: Seit 1922 arbeitete Wolf als Dermatologe in der Wiener Poliklinik, nebenher publizierte er zahlreiche Fachaufsätze. Studiert hatte der gebürtige Wiener noch zur Zeit des Ersten Weltkrieges, kurz darauf hatte er an der italienischen Front als Lazarett-Arzt gedient. Nun aber stand seine Karriere vor dem Aus. Nach dem „Anschluss“ hatten die Nazis bereits jüdische Anwälte und Richter in Österreich mit einem Berufsverbot belegt, ein Verbot für jüdische Ärzte stand kurz bevor. Max und seine Frau Margarata Wolf bereiteten indessen ihre Emigration vor. Die Bescheinigung über Wolfs Mitgliedschaft in der Wiener Gesellschaft der Ärzte lässt erahnen: Max Wolf hatte nicht vor, seinen Beruf im Exil aufzugeben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Manx und Margareta Wolf, AR 10699

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Kündigung, weil Jude

Wohnprekariat trifft Juden in Wien

„Der Gekündigte ist Jude und kann den anderen Mietbewohnern [sic] ein Zusammenwohnen nicht länger zugemutet werden.“

WIEN

Bis 1938 lebten etwa 60.000 Juden im Wiener Bezirk Leopoldstadt, was ihr den Spitznamen „Mazzesinsel“ einbrachte. Zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Aufstieg des „Austrofaschismus“ 1934 hatte die sozialdemokratische Stadtregierung begonnen, Sozialwohnungen zu schaffen. Zur Zeit des Anschlusses herrschte in der Stadt ein massiver Wohnungsmangel. Die Nazis begannen, Juden aus Sozialwohnungen zu delogieren. Angesichts der Neigung der Polizei, Übergriffe auf jüdischen Besitz zu ignorieren, war es für antisemitische Vermieter leicht, diesem Beispiel zu folgen: Judesein genügte als Kündigungsgrund. Als der Hausbesitzer Ludwig Munz das Kündigungsformular für seine Mieter Georg und Hermine Topra ausfüllte, gab er gleich drei Gründe an: Angeblichen Eigenbedarf, Mietrückstand und Rücksicht auf die Nachbarn, denen ein Zusammenleben mit Juden nicht zugemutet werden könne.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Inv. Nr. 5171/2

Schrittweise Arisierung

Jüdische Ärzte sollen nun die Zulassung verlieren

„Die Anzahl der Juden, die von dieser neuen Verordnung betroffen sind, wird auf zwischen 6000 und 7000 geschätzt.”

Berlin

Der Anteil von Juden unter den deutschen Ärzten war so hoch, dass den Nazis anfänglich ein umfassendes Berufsverbot nicht opportun erschien. Einstweilen begnügten sie sich damit, durch die „Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen“ vom 22. April 1933 „nicht-arischen“ Ärzten die Zulassung zur Arbeit in Zusammenhang mit den gesetzlichen Krankenkassen zu entziehen. Ausnahmen waren möglich, wenn sie bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs praktiziert hatten oder beweisen konnten, dass sie selbst oder ihr Vater Frontkämpfer gewesen seien. Ab 1937 konnten Juden nicht länger den Doktortitel erwerben. In einer Nachricht vom 3. August weist die Jewish Telegraphic Agency auf die Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz hin, die einige Tage zuvor erlassen worden war und laut der jüdische Ärzte mit Gültigkeit vom 30. September ihre Zulassung verlieren würden.

Die Hilfsstelle der Liga für Menschenrechte

„Diese Hunde von Hitler und Göring werden niemals gewinnen“

„Es stirbt halt nicht der jüd. Wohltätigkeitssinn aus und es wird diesen Hunden von Hitler und Göring nicht gelingen, dass die Emigranten in der Gosse krepieren.“

Brünn/Rischon LeZion

Hugo Jellinek war ein vielseitig begabter Mann. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwang ihn, sein Medizinstudium abzubrechen. Als Soldat wurde er in Samarkand schwer verwundet und verliebte sich in die Krankenschwester, die ihn pflegte und später seine Frau und die Mutter seiner drei Töchter wurde. Das Paar siedelte sich in Taschkent (Usbekistan) an. Nach dem Tod seiner noch jungen Frau im Jahr 1926 floh er 1930 aus der Sowjetunion und kehrte schließlich nach Wien zurück. Dort machte er sich die acht Sprachen, die er beherrschte, als Übersetzer zunutze und arbeitete als freiberuflicher Jornalist. Dank einer Warnung bezüglich seiner bevorstehenden Festnahme gelang es ihm im Juni 1938, nach Brünn zu entkommen. Seine älteste Tochter Gisella Nadja brach am selben Tag nach Palästina auf. In diesem schillernden Brief zeigt Hugo väterliche Sorge um Nadjas Wohlbefinden, diskutiert aber auch ausführlich die eigenen Nöte als Flüchtling und vergisst nicht zu berichten, dass der Sohn seines Cousins im Konzentrationslager Dachau interniert sei. Mit Genugtuung erwähnt er die Arbeit der von ihm so genannten „Liga“ (gemeint ist wohl die Hilfsstelle der Liga für Menschenrechte), die sich um die Flüchtlinge kümmerte und damit Hitlers teuflischen Plänen trotzte. Letztendlich jedoch käme es vor allem darauf an, für einen eigenen Staat zu kämpfen.

Eine ganz bescheidene Schabbosfreude

Ein Gruß an den Rabbi einer bedrängten Gemeinde

Chemnitz

Nach dem Verbot der Ansiedlung von Juden in Chemnitz im Mittelalter dauerte es bis Ende der achtzehnhundertsechziger Jahre, dass Juden sich legal in der sächsischen Stadt niederlassen konnten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Gemeinde dermaßen groß geworden, dass ihre Synagoge auf der Neugasse 3 nicht länger ausreichend war, und 1899 weihte Rabbiner Dr. Mühlfelder feierlich das neue Gebäude am Stephansplatz ein. Dieses Foto des neo-romanischen Baus wurde im Juli 1938 aufgenommen. Eine Anzahl kleinerer Gebetsräume trugen den religiösen Bedürfnissen der osteuropäischen Juden Rechnung, die seit Anfang des Ersten Weltkriegs in die Stadt gekommen waren und mit der Zeit über die Hälfte der jüdischen Bevölkerung der Stadt ausmachten.

Ausweisung binnen 24 Stunden

Die Situation ist prekär für jüdische Immigranten in Jugoslawien

„Ich sage Euch das eine, der Antisemitismus macht nicht in Deutschland, oder Österreich, oder Ungarn, oder Rumänien, oder Jugoslavien halt, wenn nicht ein Wunder geschieht oder durch eine Katastrophe die Menschen aufgerüttelt werden.“

BELGRAD/NEW YORK

Während der Antisemitismus in Jugoslawien in keiner Weise ein neues Phänomen war – tatsächlich hatte seit Ende des Ersten Weltkriegs das gesamte politische Spektrum Anlässe zu judenfeindlichen Auslassungen gefunden – verschlechterte sich die Situation in den dreißger Jahren unter dem Einfluss der Ereignisse in Deutschland. Der Nürnberger Fritz Schwed hatte, was den vorläufigen Zufluchtsort seiner Familie betraf, keine Illusionen: In diesem langen Brief an seinen alten Freund aus Nürnberger Tagen, Fritz Dittmann, der nach New York geflohen war, beschreibt Schwed die prekäre Situation von Emigranten in Jugoslawien, die mit einer Vorwarnung von bloßen 24 Stunden ausgewiesen werden konnten. Selbst ältere und bereits längere Zeit im Lande ansässige Menschen waren von dieser grausamen Regelung nicht ausgeschlossen. Emigranten bekamen keine Arbeitserlaubnis, und wenn sie beim Übertreten des Verbots ertappt wurden, mussten sie mit sofortiger Ausweisung rechnen. Mit dem Fazit „Es ist für deutsche Juden kein Platz mehr in Jugoslawien und wie mir scheint, auch nirgends mehr in Europa“, begann Schwed, die Möglichkeit einer Emigration nach Australien oder Südamerika auszukundschaften.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gerda Dittmann, AR 10484

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Erschütterte Existenz

Wie leben mit dem Nationalsozialismus?

New York

Der erste größere Bruch in der Biographie des Künstlers Gustav Wolf war während des Ersten Weltkriegs geschehen: Er hatte sich freiwillig zum Dienst an der Front gemeldet und war schwer verwundet worden. Sein Bruder Willy war im Gefecht gefallen. Die Werke, in denen er seine Kriegserlebnisse verarbeitete, lassen keinen Zweifel an seinen Gefühlen: Statt den Krieg zu verherrlichen, zeigt er dessen Grauen. Die Begegnung mit dem Antisemitismus im Krieg und in der Folge führten zu einem verstärkten Bewusstsein um seine jüdische Identität. 1920 nahm er eine Professur an der Badischen Landeskunstschule in Karlsruhe an, wo er versuchte, sein Ideal eines gleichberechtigten Miteinanders von Lehrer und Schüler zu verwirklichen. Nach einem Jahr gab er diese „tote Tätigkeit“ an der Schule, die er als „Intriganten-Anstalt“ bezeichnete, auf. 1929 entwarf er die Ausstattung zu Fritz Langs Stummfilm „Die Frau im Mond“, einem frühen Science Fiction-Film. Nach der Machtübernahme durch die Nazis kündigte er seine Mitgliedschaft in sämtlichen Künstlervereinigungen auf, denen er angehört hatte. Bei der Badener Secession erklärte er es so: „Ich muss mich erst wieder zurechtfinden. Die Grundlagen meiner Existenz sind in Frage gestellt und erschüttert.“ Nach ausgedehnten Aufenthalten in der Schweiz, in Italien und Griechenland kehrte er 1937 nach Deutschland zurück. Der 26. Juni 1938 war sein 49. Geburtstag.

Kein Zutritt für Juden

Bad Ischl sondert Juden in spezielle Hotels ab

„In österreichischem Kurort sollen Ghetto-Hotels eingerichtet werden.“

BAD ISCHL

Bereits im 19. Jahrhundert begann der Central-Verein Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens, Listen von Badeorten und Hotels zu veröffentlichen, in denen jüdische Gäste nicht willkommen waren. An manchen Orten ging man so weit, mit dem Prädikat ‚‚judenfrei“ zu werben. Nach dem Ersten Weltkrieg breitete sich das als “Bäder-Antisemitismus“ bekannte Phänomen aus, bis es mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 zur offiziellen Politik wurde. 1935 war Juden der Besuch der norddeutschen Badeorte, 1937 auch der im Innern des Landes gelegenen, praktisch verboten. Erst mit dem “Anschluss“ im März 1938 wurde Juden auch aus österreichischen Badeorten verdrängt. Bad Ischl und andere Ortschaften im Salzkammergut waren bei Juden besonders beliebt, so dass der österreichisch-jüdische Schriftsteller Hugo Bettauer bereits 1922 scherzte, in den dortigen Badeorten ‚‚erregte es direkt Aufsehen, wenn Leute auftauchten, die im Verdacht standen, Arier zu sein“. In einem Bericht vom 2. Juni teilt die Jewish Telegraphic Agency mit, Juden würden auf Anordnung des zuständigen Nazi-Kommissars ‚‚in jüdische Hotels und Pensionen abgesondert“ werden und dürfen nicht länger kulturellen Veranstaltungen in Bad Ischl beiwohnen.

Dekorierter Soldat, Pazifist und Kabarettist

Fritz Grünbaum wird im Konzentrationslager Dachau interniert

„Ich sehe nichts, absolut gar nichts, da muss ich mich in die nationalsozialistische Kultur verirrt haben.“

DACHAU

Nachdem er seine österreichischen Landsleute drei Jahrzehte lang zum Lachen gebracht hatte, wurde die Karriere des Kabarettisten Fritz Grünbaum durch den „Anschluss“ abrupt beendet. Seine Politik allein hätte genügt, ihn für das Regime untragbar zu machen: Grünbaum war aus dem Ersten Weltkrieg nicht nur als dekorierter Soldat, sondern auch als erklärter Pazifist zurückgekehrt. Was den Nationalsozialismus betraf, nahm er kein Blatt vor den Mund: Seit 1933 war er politischer geworden, und als 1938 während einer Vorstellung ein Stromausfall eintrat und die Lichter ausgingen, kommentierte er schlagfertig: „Ich sehe nichts, absolut gar nichts, da muss ich mich in die nationalsozialistische Kultur verirrt haben.“ Seinem letzten Auftritt im berühmten Kabarett Simpl in Wien am 10. März, zwei Tage vor dem „Anschluss“, folgte ein Auftrittsverbot für jüdische Künstler. Grünbaum und seine Frau Lilly, eine Nichte Theodor Herzls, versuchten in die Tschechoslowakei zu fliehen, wurden jedoch an der Grenze zurückgewiesen. Am 24. Mai wurde er im Konzentrationslager Dachau interniert. – Grünbaum war auch als ernsthafter Kunstsammler vor allem modernistischer österreichischer Werke und als Librettist bekannt.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Fritz Grünbaum auf dem Appellplatz in Dachau; Inv. Nr. 24631

Schneller und schneller

Leo Baeck wird 65

„Dieses Jahr wird ein schwieriges sein; das Rad dreht sich schneller und schneller. Es wird unsere Nerven und unsere Fähigkeit zu sorgfältigem Nachdenken auf die Probe stellen.“

Berlin

Bereits in April 1938 hatte Rabbiner Leo Baeck, der Präsident der Reichsvertretung der Juden in Deutschland und damit der Hauptrepräsentant des deutschen Judentums weitsichtig geschrieben: „Dieses Jahr wird ein schwieriges sein; das Rad dreht sich schneller und schneller. Es wird unsere Nerven und unsere Fähigkeit zu sorgfältigem Nachdenken auf die Probe stellen.“ Baeck hatte als Feldgeistlicher im Ersten Weltkrieg gedient und muss als Patriot vom erzwungenen Niedergang des deutschen Judentums tief getroffen gewesen sein. Angesichts der Verarmung weiter Teile der jüdischen Bevölkerung, der Beschneidung jüdischer Rechte und der Abdrängung der Juden an den Rand der Gesellschaft und keinerlei Aussicht auf Besserung war Leo Baecks 65. Geburtstag am 23. Mai vermutlich eine triste Angelegenheit.

Gnadenlos

Göring fordert strikten anti-jüdischen Boykott

„(...) einen "gnadenlosen anti-jüdischen Boykott", bis der letzte Jude gezwungen ist, Österreich zu verlassen.“

Wien

In ihrer heutigen Ausgabe berichtet die Jewish Telegraphic Agency, das „Deutsche Volksblatt“ in Wien dränge zu einem „gnadenlosen anti-jüdischen Boykott“. Dies, so das Blatt, sei die von Hermann Göring in seiner jüngsten Rede in Wien geforderte Linie. Als im Ersten Weltkrieg hoch dekorierter Jagdflieger war Göring frühzeitig der NSDAP beigetreten und gehörte dem inneren Kreis an. 1933 baute er die Geheime Staatspolizei auf, er war Oberbefehlshaber der Luftwaffe, und als Bevollmächtigter des Vierjahresplans übte er Kontrolle über die deutsche Wirtschaft aus. Darüber hinaus ist er für seine zentrale Rolle in der Durchsetzung des „Anschluss“ und als leidenschaftlicher Sammler von Kunstwerken bekannt, die er sich nicht selten auf dubiose Weise aneignete.

Antisemitische Prämissen

Ungarischer Abgeordneter kritisiert Gesetzesvorlage

„Der Gesetzesentwurf, der Juden im wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes Schranken auferlegt, wurde heute in der Abgeordnetenkammer durch den Abgeordneten Graf Aponyi [sic] scharf angegriffen. Er erklärte, dass er, abgesehen von seiner Unmenschlichkeit, ungerechtfertigte Beleidigungen und Betrachtungen gegen die ungarischen Juden enthalte.“

Budapest

Von Anfang an hatte die Horthy-Regierung aus ihrem Antisemitismus kein Geheimnis gemacht. Tatsächlich war Ungarn 1920 das erste europäische Land nach dem Ersten Weltkrieg, das einen Numerus Clausus einführte, um den Zutritt von Juden zu höherer Bildung einzuschränken. Zunächst hauptsächlich als Reaktion auf territoriale und Bevölkerungsverluste im Ersten Weltkrieg, später im Zuge der Weltwirtschaftskrise, gab es in Ungarn eine auffallende Vielzahl faschistischer und rechtsextremer Bewegungen, von denen sich einige „nationalsozialistisch“ nannten. Eine dieser Gruppierungen war die 1935 gegründete, fanatisch antisemitische Pfeilkreuzlerpartei. Antisemitismus war weit verbreitet, als 1938 eine Gesetzesvorlage eingebracht wurde, um die wirtschaftliche und kulturelle Freiheit der Juden im Land einzuschränken. Dieser Bericht der Jewish Telegraphic Agency vom 11. Mai beschreibt die heftige Kritik des Abgeordneten Graf Apponyi an der Gesetzesvorlage, in der er auf ihre fehlerhaften Prämissen hinwies, und ihre Verteidigung durch Dr. Istvan Milotaj, den Abgeordneten einer Rechtsaußen-Partei, der behauptete, Juden könnten nicht assimiliert werden, und selbst Persönlichkeiten wie Disraeli und Blum seinen „spirituell Juden geblieben.“

Ausgebürgert

Nach Deutschland eingebürgerte Juden verlieren ihre Staatsbürgerschaft

Worms

Seit dem Inkraftreten des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft im Juli 1933 konnten Einbürgerungen, die zwischen dem Ausruf der Republik am 9. November 1918 und dem Machtantritt der Nazis am 30. Januar 1933 vollzogen worden waren, widerrufen und „Unerwünschten“ die Staatsbürgerschaft entzogen werden. Das Gesetz zielte auf politische Gegner und Juden ab: 16.000 östeuropäische Juden hatten in dem relevanten Zeitraum die deutsche Staatsbürgerschaft erworben. Unter denjenigen, deren Namen auf der Ausbürgerungsliste vom 26. März 1938 erscheinen, sind Otto Wilhelm, seine Frau Katharina und die drei Kinder des Paares, wohnhaft in Worms und allesamt in Deutschland geboren.

Eine gewöhnliche Trauerrede in einer Zeit grosser Verluste

Max Kirschner erinnert an Hedwig Waller

Frankfurt am Main

Gerade 20 Jahre waren vergangen seit Ende des Ersten Weltkriegs, in dem Max Kirschner, ein in Frankfurt am Main ansässiger Arzt, mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden war – bemerkenswerter Weise dafür, dass er feindlichen Infanteristen zur Seite gestanden hatte. Doch die Tatsache, dass Kirschner als einer von 100.000 deutschen Juden, von denen 12.000 ihr Leben ließen, im Krieg für Deutschland gekämpft hatte, nützte ihm nicht: 1938 wurde ihm, wie allen anderen jüdischen Ärzten, die Approbation entzogen. In seiner Trauerrede für Hedwig Wallach, die einer alteingesessenen Frankfurter Familie entstammte, pries er deren Hingabe an ihren Mann, ihr lebhaftes Interesse an ihren Kindern und die stille Tapferkeit, mit der sie ihre Krankheit ertragen hatte.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Sammlung:

Rede von Max Kirschner anlässlich der Beerdigung von Hedwig Wallach

Original:

Sammlung Familie Kirschner

Atmosphäre der Ausweglosigkeit

Aus dem Tagebuch eines einstmals gefeierten Beamten des Gesundheitswesens

„Ein von Juden gegründetes Unternehmen nach dem anderen wird „arisiert“ - wie der euphemistische Ausdruck lautet; aus den anderen Betrieben werden die jüdischen Angestellten herausgedrängt und der Wohlfahrt in die Arme getrieben. Die Sperrmark steigt ins Bodenlose, damit wird die Auswanderung der wenigen Kapitalisten noch erschwert.“

Berlin

„Möge es Ihnen vergönnt sein, Ihre bewährten Kräfte noch recht lange dem Wohle und zum Nutzen der Stadt widmen zu können.“ Mit diesen Worten gratulierte der Berliner Bürgermeister, Heinrich Sahm, Prof. Erich Seligmann, dem Direktor der Wissenschaftlichen Institute im Hauptgesundheitsamt und der obersten Instanz in Fragen der öffentlichen Gesundheit, im Oktober 1932 zu seinem 25. Dienstjubiläum. Kaum ein halbes Jahr später, im März 1933, wurde Seligmann entlassen – ungeachtet seiner anerkannten wissenschaftlichen Leistungen und seiner herausragenden Kenntnisse im Bereich der Seuchenbekämpfung, die er u.a. als Stabsarzt im Ersten Weltkrieg unter Beweis gestellt hatte. In diesem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1938 berichtet Seligmann in Zusammenhang mit einer geplanten Reise nach Rom, wo er und seine Frau Elsa ihren Sohn Rolf zu treffen hofften, Juden würden „in großem Umfang die Pässe eingezogen“ und es herrsche „eine Atmosphäre der Ausweglosigkeit“.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Erich Seligmann, AR 4104

Original:

DM 79, Tagebuch 2

Die Fünfte Kolonne

Antisemitische Erlasse in Rumänien

In Genf erklärte Außenminister Micescu, die rumänische Regierung habe nicht die Absicht, das Juden- bzw. Minderheitenproblem vor den Völkerbund zu bringen, da Rumänien über seine Innenpolitik keine Ratschläge vom Ausland brauche. Die Minderheitsverträge bezögen sich nur auf jene Nationalitäten, die in den abgetrennten Gebieten, die ehemals zur Habsburger Monarchie gehörten, leben, und gelten mithin nicht für die in Altrumänien ansässigen Juden.

Genf/Bukarest

Im 78. und letzten Jahr ihres Bestehens berichtet die orthodoxe Wochenzeitung „Der Israelit” von Maßnahmen der antisemitischen, pro-Deutschen Regierung Goga-Cuza in Rumänien: Die Juden des Landes wurden vielfältigen Schikanen und Berufsverboten ausgesetzt, die denen in Deutschland nicht unähnlich waren. Infolge von Territorial- und Bevölkerungszuwachs im Ersten Weltkrieg gehörten etwa 30% der Rumänen verschiedenen Minderheiten an, die als „Fünfte Kolonne” betrachtet wurden. Besonders die Juden waren das Objekt von Ängsten und Verdächtigungen, die leicht in gewalttätigen Hass umschlugen.

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