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Grüßen ist gefährlich

Eine jüdische Ärztin beschreibt den Alltagswahnsinn

„Vater sagt, er will die Firma nicht verkaufen. Der Name, er soll mit uns untergehen [...]“.

Laupheim

Das Tagebuch Dr. Hertha Nathorffs (geb. Einstein) vermittelt ein lebendiges und manchmal alptraumhaftes Bild von den Erfahrungen der jüdischen Ärztin in Nazi-Deutschland. Am 24. April beschreibt sie einen Besuch bei ihren Eltern in ihrem Geburtsort Laupheim in Schwaben: Viele jüdische Geschäfte waren verkauft worden, ihre Besitzer emigriert. Die Bemühungen der Nazis, die Juden zu verleumden und zu isolieren, waren so erfolgreich gewesen, dass die Vorübergehenden Angst hatten, sie zu grüßen. Ihr Vater hatte ihr mitgeteilt, er werde die Firma, seit vier Generationen im Familienbesitz, nicht verkaufen, sondern lieber mit ihrem Namen untergehen. Das Ausmaß der Isolation, der deutsche Juden ausgesetzt waren, geht auch aus einer Episode hervor, die im selben Eintrag erwähnt wird: Dr. Nathorff ist überrascht, dass ihr ehemaliger Professor tatsächlich den Mut hatte, ihr durch eine Patientin Grüße ausrichten zu lassen.

Der Prater

Schauplatz widerlicher Demütigung und Folter

Wien

Diese Werbebroschüre zeigt den Prater, einen großen Park und Rummelplatz im zentralen 2. Bezirk Wiens, in den dreißiger Jahren. Hier wurden am 23. April hunderte Wiener Juden zusammengetrieben und vor johlenden Zuschauern geschlagen und misshandelt. Manche wurden gezwungen, Gras zu essen. Juden beiderlei Geschlechts, ohne Berücksichtung ihres Alters und Gesundheitszustands, mussten im Kreis herumlaufen, bis sie zusammenbrachen. Viele der so Gedemütigten erlitten Herzanfälle, einige starben.

Ein jüdisches Filminstitut?

Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda tut seinen Job

Berlin

Laut einem Bericht der Jewish Telegraphic Agency genehmigte das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda am 21. April die Einrichtung eines Jüdischen Filminstituts. Der Name war irreführend: Es war nicht zur kulturellen Bereicherung der jüdischen Öffentlichkeit gedacht. Der Hauptzweck des Instituts sollte die Produktion von Filmen sein, die das Leben in Palästina zeigten und deutsche Juden zur Emigration drängten. Mit anderen Worten, der Plan war ein weiterer Teil der Strategie der Nazis, Deutschlands Juden „aus dem Weg zu räumen“. Zur selben Zeit erklärte „Der Stürmer“, eines der schärfsten antisemitischen Blätter in Nazi-Deutschland, Juden müsse der Zutritt zu Kinos und Theatern verwehrt werden.

Vorerst verschont

Ehemailige Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs genießen zeitweiligen Schutz

Wien

Adolph Markus, seine Frau und zwei Kinder gehörten zu den relativ wenigen von Österreichs etwa 200.000 Juden, die nicht in Wien lebten. Am 20. April 1938 fuhr Markus in die Hauptstadt, um seine Familie zu besuchen, die schwierige Situation zu besprechen und Auswanderungsmöglichkeiten zu diskutieren. Während sein Bruder Rudi jeden Tag damit rechnen musste, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, meinte er, Adolph habe als Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs nichts zu befürchten. Tatsächlich waren ehemalige Frontkämpfer und Juden, die ihren Vater oder einen Sohn im Kampf für Deutschland oder seine Verbündeten verloren hatten, von gewissen anti-jüdischen Maßnahmen ausgenommen.

54 Jahre

Der Graphiker Michel Fingesten feiert seinen Geburtstag im Exil

Triest

Nach Studien an der Wiener Kunstakademie war der Graphiker Michel Fingesten auf Reisen gegangen und hatte sich schließlich in Deutschland niedergelassen. Weder die jüdische Abstammung des österreichischen Staatsangehörigen noch seine Vorliebe für das Erotische machten ihn bei den Nazis beliebt. Die immer unerträglichere Rassenpolitik des Regimes veranlasste ihn, nach einem Familienbesuch in Triest 1935 in Italien zu bleiben. Fingesten ist in erster Linie als Illustrator und als produktiver, fantasievoller Gestalter von Exlibris bekannt. Der 18. April 1938 war sein 54. Geburtstag.

Entrechtung in Österreich, Freilassung in Dachau

Die Nazis in Österreich erlassen eine Flut an neuen Bestimmungen

Wien

Wenig mehr als einen Monat nach der Machtübernahme der Nazis in Österreich lässt eine Kaskade neuer Bestimmungen und Schritte, die von den neuen Machthabern eingeleitet worden sind, wenig Raum für Optimismus: Die Jewish Telegraphic Agency berichtet für den 14. April aus Wien, es sei geplant, Juden innerhalb von 50 Kilometern aus den Grenzgebieten zur Tschechoslowakei zu vertreiben, österreichische Geschäfte würden auf eigene Kosten der Obhut von Nazi-Kommissaren anvertraut (laut der JTA ist diese Bestimmung im Fall hunderter von Geschäften in jüdischem Besitz bereits in Kraft getreten) und es sei ein Gesetz zur Sicherstellung rassischer Reinheit eingeführt worden. Der eine positive Punkt in dieser umfangreichen Meldung ist die Aussicht darauf, dass alle zur Zeit in Dachau internierten Juden nicht nur freigelassen, sondern auch Einreisegenehmigungen nach Palästina erhalten sollen.

Pseudo-Wahlen

Österreicher stimmen ohne Juden nachträglich über den Anschluss ab

„Wer das Stimmrecht ausübt, trotzdem er vom Stimmrecht ausgeschlossen ist oder ihm bekannt ist, dass er von mindestens drei volljüdischen Großeltern abstammt, oder aber als Mischling (mindestens zwei jüdische Großeltern) mit einer jüdischen Person verheiratet ist, hat diesen Wahlausweis sofort an das Gemeindeamt zurückzusenden und von der Wahl fernzubleiben. Andernfalls setzt er sich schwerer Bestrafung aus“.

WIEN

Der Einmarsch deutscher Truppen in Österreich am 12. März war der von Kanzler Schuschnigg für den 13. März geplanten Volksabstimmung über die Vereinigung mit Deutschland zuvorgekommen. Die Nazis, nun im Besitz der Macht, verschoben die Volksabstimmung auf den 10. April in Verbindung mit den ersten gesamtdeutschen Reichstagswahlen. Katholische Bischöfe unter der Führung Erzbischof Theodor Innitzers hatten eine „feierliche Erklärung“ abgegeben, in der sie katholische Wähler aufriefen, für den „Anschluss“ zu stimmen. Laut offiziellen Angaben bestätigten nahezu 100% der Wähler, was bereits eine vollendete Tatsache war. Das hier gezeigte Dokument ist ein Wählerausweis zur ausschließlichen Benutzung des auf der Vorderseite angegebenen Empfängers. Es schließt Juden explizit von der Teilnahme aus.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Sammlung:

Wahlausweis zur Volksabstimmung am 10. April 1938 (Nr. 225)

Original:

Inv. Nr. 26028/9

Meinungsumschwung

Pfarrer Breckle fällt den Juden in den Rücken

"Niemand hat die Juden in die europäischen Länder eingeladen. Sie kamen als ungeladene Gäste und haben sich in allen öffentlichen Berufen so sehr in den Vordergrund gedrängt, und nicht unbedingt durch hervorrangende Leistungen, dass man zumindest sagen kann, dass sich ein großes Missverhältnis entwickelt hat."

WIEN

In der neuen Realität Österreichs konnten sich die Meinungen, auch die von Beamten, mitunter recht schnell ändern. Dies blieb internationalen Beobachtern nicht verborgen. In einer Pressenotiz vom 8. April meldet die Jewish Telegraphic Agency, ein katholischer Geistlicher, Pfarrer Breckle von der Dreifaltigkeitskirche in Wien, habe Juden in einem Artikel in „Katholische Aktion“ als „ungeladene Gäste“ in Europa bezeichnet und sie beschuldigt, sich „in den Vordergrund zu drängen“. Hitlers Vorgehensweise habe er als „frei und menschlich“ sowohl den „Ariern“ als auch den Juden gegenüber bezeichnet. Breckle habe seine Ansichten erst in jüngster Zeit geändert und zuvor als der jüdischen Gemeinde gegenüber freundlich gegolten.

Kontaktabbruch

Ein Berliner verlässt die jüdische Gemeinschaft

Berlin

Hoffte Hans Petzold, ein 36jähriger gebürtiger Berliner, durch seinen Austritt zunächst aus dem Judentum und dann aus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin sein Los zu verbessern? Unter einem Regime, das von dem Gedanken rassischer Reinheit besessen war, war es kaum zu erwarten, dass Schritte dieser Art einen Unterschied machen würden. Laut der „Austrittskartei“ der Jüdischen Gemeinde zu Berlin trat Petzold innerhalb eines Monats offiziell sowohl aus der Berliner Gemeinde als auch aus dem Judentum aus.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Sammlung:

Karteikarte aus der Austrittskartei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin zum Austritt von Hans Petzold aus dem Judentum

Original:

CJA, 2 A 1

Der Existenzgrundlage beraubt

Rechtsanwälte und Marktverkäufer erhalten Berufsverbot

Wien

Laut diesem Bericht der Jewish Telegraphic Agency stellte der 3. April 1938 eine weitere Wegmarke im Prozess der Beschränkung der Berufsfreiheit der österreichischen Juden dar: Von diesem Tag an konnte das Justizministerium nach Belieben jüdischen Rechtsanwälten die Lizenz aberkennen, ausgenommen diejenigen, die ihre Zulassung vor 1914 erhalten hatten oder Frontkämpfer oder unmittelbare Verwandte im Weltkrieg gefallener Soldaten waren. Es wurde geschätzt, dass 800 bis 900 Rechtsanwälte von der neuen Bestimmung betroffen waren. Eine weitere Berufsgruppe, die unter der Nazipolitik zu leiden hatte, war die der Marktverkäufer: Juden, die bewegliche oder feste Marktstände betrieben, war es nicht länger gestattet, auf diese Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auch waren in der kurzen Zeit seit der Machtübernahme durch die Nazis bereits „Arisierungen“ von Fabriken in jüdischem Besitz erfolgt.

Kein Weg zurück

Das polnische Parlament verabschiedet ein neues Gesetz gegen jüdische Rückkehrer

„Das Gesetz wird Tausende von Juden in Österreich, Deutschland, Palästina und anderswo beeinträchtigen“.

Warschau

Infolge der Annexion Österreichs, des sogenannten „Anschluss“, verabschiedete das polnische Parlament („Sejm“) ein Gesetz, das die Rückkehr von bis zu 20.000 polnischen Staatsbürgern aus Österreich befürchtete, ein Gesetz, laut dem Polen, die mehr als fünf Jahre im Ausland gelebt hatten, ihre Staatsbürgerschaft verlieren sollten. Während sich unter der Piłsudski-Regierung die Lage der Juden etwas verbessert hatte, trat nach dem Tod des Marschalls, insbesondere in der durch das „Lager der Nationalen Einheit“ (ab 1937) geschaffenen Atmosphäre, der Antisemitismus wieder hervor: Universitäten unterwarfen jüdische Studenten einem Numerus Clausus und führten „Ghettobänke“ für sie ein, Juden wurden für die Weltwirtschaftskrise verantwortlich gemacht, ihre Geschäfte boykottiert und geplündert, und hunderte von Juden wurden körperlich verletzt oder sogar getötet.

In der Heimat verloren

Österreichische Juden und das US-Konsulat in Wien

„Hunderte kamen in der Annahme, die Vereinigten Staaten seien bereit, die Überfahrt von 20.000 Einwanderern zu genehmigen und zu finzieren. Vertreter des Konsulats wandten sich an Gruppen von Antragstellern, um ihnen den tatsächlichen Sachverhalt zu erklären“.

Wien

In einem weiteren dramatischen Bericht aus Österreich beschreibt die „Jewish Telegraphic Agency“ verängstige Juden, die in der fehlgeleiteten Hoffnung auf Unterstützung in das Konsulat der Vereinigten Staaten strömten. Gerade prominente Juden mussten mit Schikanen und Festnahme durch die Gestapo rechnen. Führende Persönlichkeiten des österreichischen Judentums waren gezwungen, die Polizei über ihre Aktivitäten zu unterrichten, während es ihren deutschen Amtskollegen aufgrund eines Einreiseverbots für Juden unmöglich war, ihnen einen Solidaritätsbesuch abzustatten. Des Weiteren berichtet die JTA, die Situation tausender jüdischer Schauspieler sei mittlerweile dermaßen verzweifelt, dass selbst der nationalsozialistische Beauftragte des österreichischen Bühnenvereins eine Kampagne zu ihren Gunsten zulasse.

Die Welt zur Rettung

Jüdische Vorsteher und Medien wissen: Sie brauchen jede Unterstützung, die sie bekommen können

„Die österreichischen Juden haben eine alte Tradition als voll gleichberechtigte Bürger, die stets ihre Kräfte in den Dienst der Heimat gestellt haben und zum Aufschwung derselben auf allen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gebieten wesentlich beigetragen haben“.

Wien

Das gesamte Titelblatt der deutschsprachigen religiös-zionistischen „Allgemeinen Jüdischen Zeitung“ in Bratislava ist dem „Anschluss“ gewidmet: Juden werden aufgerufen, ihren österreichischen Glaubensgenossen zur Seite zu stehen. Eine anonyme Quelle weist auf die Verarmung weiter Teile der österreichischen Judenheit und die daraus resultierende Notwendigkeit hin, das Sozialwesen neu zu ordnen und sich den immer dringender werdenden Angelegenheiten der Umschulung und der Emigration zuzuwenden. Der Leser wird daran erinnert, dass Österreich noch immer Mitglied des Völkerbunds sei und dass das österreichische Recht gleiche Rechte für religiöse und nationale Minderheiten einfordere. Unter anderen Quellen wird der britische Unterstaatssekretär für Äußeres, Butler, zitiert, der berichtet, er habe Zusicherungen bekommen, die deutsche Regierung werde in Bezug auf Minderheiten „alle Anstrengungen unternehmen, eine Mäßigung der Politik zu erzielen“. Auch berichtet das Blatt, der Präsident des Jüdischen Weltkongress, Rabbi Wise, habe an den Völkerbund appelliert, den Juden beizustehen. Ansonsten zeichnet sich ein düsteres Bild ab: Die Produktion jüdischer Zeitungen eingestellt, prominente Juden arrestiert, ein jüdisches Theater geschlossen, die jüdische Ärzte entlassen und andere Schikanen. Die Zeitung ruft Juden in aller Welt auf, den Brüdern und Schwestern in Österreich zur Seite zu stehen.

Antisemitismus in Österreich

Die Jewish Telegraphic Agency berichtet

Wien

Die „Vaterländische Front“ war 1933 als alleinige Vertretung aller Bürger Österreichs und als Ersatz für die parlamentarische Demokratie ins Leben gerufen worden. Mit ihren starken Verbindungen zur Katholischen Kirche war sie zutiefst antisemitisch. Dennoch waren Juden unter ihren Mitgliedern, und sie verstand sich als Opposition zu den (protestantisch dominierten) Nazis. Als im März 1938 Nazi-Gruppen auf die Straße gingen und stolz das Hakenkreuz zur Schau stellten, berichtet die „Jewish Telegraphic Agency“ auch über eine antisemitische Demonstration an der Wiener Universität, einer Institution, an der seit Jahrhunderten eine anti-jüdische Geisteshaltung grassierte. Am selben Tag berichtet die Nachrichtenagentur über Gegendemonstrationen der „Vaterländische Front“.

„Entartet“

Nazi-Deutschland bricht mit der Moderne

München

Mit der 1937 initiierten Wanderausstellung „Entartete Kunst“ versuchten die Nazis anhand von 650 aus 32 Museen konfiszierten Kunstwerken der Bevölkerung ihre eigene Kunstvorstellung aufzuzwingen: Neuere Strömungen wie Expressionismus, Surrealismus oder Fauvismus, um nur einige zu nennen, galten ihnen als „jüdisch-bolschewistisch“ und wurden gnadenlos verunglimpft. Das hier gezeigte Titelblatt des Ausstellungsführers zeigt ein Werk mit dem Titel „Großer Kopf“ aus der Werkstatt des deutsch-jüdischen Künstlers Otto Freundlich, eines der ersten Vertreter der abstrakten Kunst. Das Werk war 1912 entstanden und hatte einen erhofften geistigen Neubeginn symbolisieren sollen. Abgesehen von Freundlichs jüdischer Abkunft und seinen künstlerischen Neigungen war er als Kommunist auch politisch missliebig.

Jahreschronik 1938

Von Schuschnigg beschwört die Unabhängigkeit Österreichs

Porträt von Kurt von Schuschnigg in seinem Büro. Encyclopedia Brittanica.

Kurt von Schuschnigg beschwört die Unabhängigkeit Österreichs in einer dramatischen Rede vor dem Parlament. Der Kanzler Österreichs betont die Treue der Regierung, einschliesslich der nationalsozialistischen Minister Seyß-Inquart und Glaise-Horstenau, zur Verfassung von 1934. Die Ansprache wird von mehreren europäischen und amerikanischen Sendern übertragen. „Bis hierher und nicht weiter! [. . .] Bis in den Tod! Rot-Weiß-Rot! Österreich!“, warnt der Kanzler die österreichischen und deutschen Nationalsozialisten, die ein Bündnis suchen.

Zur Jahreschronik 1938

Verschonung in Italien?

Italienischer Antisemitismus richtet sich nicht gegen lokale Juden, laut Bericht

„Die in Italien existierende antisemitische Bewegung sei nicht gegen die italienischen Juden, sondern gegen das bekanntermaßen antifaschistische Weltjudentum gerichtet. Die Bewegung trage überdies einen mehr politischen als rassefeindlichen Charakter.“

Rom

Die orthodoxe „Jüdische Presse“ zitiert eine beruhigende Einschätzung der Amtlichen Nachrichtenstelle zur Situation der Juden in Italien: wohl gebe es dort „wie überall anderswo“ eine antisemitische Bewegung, doch sei diese sehr gemäßigt, und anstatt die italienischen Juden ins Visier zu nehmen, stelle es sich dem „Weltjudentum“ entgegen, das bekanntermaßen antifaschistisch sei. Interessanterweise wird der gemäßigte Charakter der antisemitischen Bewegung auf die Abwesenheit einer „jüdischen Bewegung“ zurückgeführt: Tatsächlich hatte der Zionismus in Italien sehr wenige Anhänger und zwischen 1926 und 1938 waren nur 151 italienische Juden nach Palästina ausgewandert.

25 Pfennige

Jüdische Winterhilfe lindert bitterste Armut mit Pflichtbeitrag für Juden in Deutschland

„In gewissen Gemeinden dieser Bezirke beträgt die Anzahl der Notleidenden 40 bis 90 Prozent der gesamten jüdischen Bevölkerung. Das ist teilweise durch die Tatsache erklärbar, dass ländliche Gemeinden der vollen Kraft der antisemitischen Propagandamaschinerie besonders offen gegenüberstehen.“

Berlin

Mitte Februar 1938 berichtet die „Jewish Telegraphic Agency“, seit Jahren eine aufmerksame Beobachterin der Situation der deutschen Juden, einmal wieder über die Situation der Glaubensbrüder in Deutschland und die Bemühungen der Jüdischen Winterhilfe, den akuten Bedürfnisse der Ärmsten gerecht zu werden. Während der neue Pflichtbeitrag eine vorübergehende Erleichterung bedeutet und das Überleben des Winters einfacher macht, führen die zahlreichen Berufsverbote für Juden, die das Naziregime seit 1933 verhängt, zu einer irreversiblen Verschlechterung ihrer materiellen Situation.

Ein Ort der Zuflucht wird bedroht

Das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg

„Die Isenburger Polizei stellte uns heute das Ultimatum entweder Esther Kleinmanns Papiere ihr bis spätestens den 25. ds. vollzählig (Abmeldung und Pass) zu übergeben oder aber würde Esther Kleinmann ausgewiesen.“

Neu-Isenburg/Darmstadt

Bertha Pappenheim (1859–1936), geboren und aufgewachsen in Wien, war eine führende deutsch-jüdische Frauenrechtlerin. Besser bekannt als die Patientin „Anna O.“ aus Sigmund Freuds „Studien zur Hysterie“, siedelte sie 1880 nach Frankfurt a. M. über, wo sich der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit allmählich vom Karitativen zur sozialen Stärkung von Frauen verlagerte. 1907 richtete sie in Neu-Isenburg ein Heim für schutzbedürftige junge jüdische Frauen ein, das sie als ihre wichtigste Errungenschaft betrachtete. Unter den Nationalsozialisten musste das Heim sämtliche Bewohnerinnen polizeilich melden. In dem hier abgebildeten Brief bittet die Sekretärin des Heims Rabbiner Dr. Merzbach im Bezirksrabbinat Darmstadt, umgehend die Papiere der Heimbewohnerin Esther Kleinmann zu schicken, da diese sonst mit Ausweisung zu rechnen habe.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Sammlung:

Sammlung Familien Katz/Rubin, Schenkung von Sally und Chaim Katz

Zwischen Täuschung, Lüge und Propaganda

SS-Presseorgan verzerrt die Wirklichkeit der Juden in Deutschland

In zwanzig Jahren wird Deutschland vom größten Teil seiner jüdischen Bevölkerung frei sein, erklärt „Das Schwarze Korps“, das Organ von Kanzler Hitlers Elitetruppe, in seiner aktuellen Ausgabe in einem Leitartikel und beschuldigt die Juden, nicht auswandern zu wollen.

Berlin

Anfang 1938 war eine große Anzahl von Spekulationen hinsichtlich der Zukunft der Juden in Umlauf. Das offizielle SS-Organ „Das Schwarze Korps“ drückt beispielsweise die Vermutung aus, dass nach dem Ausschluss der Juden aus dem geistigen und politischen Leben der Nation die Möglichkeit einer räumlichen Trennung von der Mehrheit der Juden in etwa zwanzig Jahren kein bloßes Hirngespinst sei. Laut dieser Mitteilung, die durch die Jewish Telegraphic Agency (JTA) verbreitet wird, behauptet „Das Schwarze Korps“, die Juden seien nicht gewillt, Deutschland zu verlassen. Auch sei die „geringe Anzahl“ der jüdischen Auswanderer nicht etwa auf Devisen- und andere Probleme zurückzuführen sondern darauf, dass Juden in anderen Ländern keinen Finger zu krümmen bereit seien, um ihren Brüdern dort ein Zuhause zu geben. Tatsächlich hatten 1937 bereits etwa 130.000 Juden (von insgesamt etwa 600.000) das Land verlassen.

Das Maul der Hydra

Alte Diskussionen um den Zionismus und Assimilierung werden angesichts des zunehmenden Antisemitismus wieder hitzig.

„Erst der Einbruch des jüdisch-nationalen Zionismus, die Vereinigung Polens mit russischen Gebieten, mit den 'Litwakis‘, öffnete der antisemitischen Hydra das dreckspeiende Maul. Vom politischen Zionismus her bekamen sie die Legitimation für die Behauptung vom 'fremden' Volk.“

Warschau

Einen Monat vor dem Anschluss ermahnt die österreichisch-jüdische Wochenzeitung „Die Wahrheit“ die österreichischen Juden, von der Entwicklung des Antisemitismus in Polen zu lernen. Das Blatt, das seit den zwanziger Jahren für Integration eingetreten war und sich vom Zionismus distanziert hatte, sieht den Zionismus als gefährlichen Bruch mit der polnisch-jüdischen Geschichte: In der Vergangenheit, so der Autor, der sich als polnischer Jude zu erkennen gibt, hätten sich die Juden in Polen durch Vaterlandsliebe und Einsatz für nationale Belange eingesetzt. Die Hinwendung zu Palästina erwecke den Eindruck mangelnder Loyalität und gebe daher den Judenhassern Munition. Überdies beschuldigt der Artikel die Zionisten, ungebührlichen Druck auf andersdenkende Juden auszuüben.

Vom Reichsbürger zum Staatsangehörigen zum Staatenlosen

Es braucht einen Durchbruch in der Flüchtlingskrise

Genf

Bereits 1936 hatte der Völkerbund mit Sir Neill Malcolm eigens einen „Hochkommissar für Flüchtlinge“ aus Deutschland eingesetzt. Angesichts des zunehmenden Flüchtlingsstroms aus Nazi-Deutschland wurde im Februar 1938 in Genf unter der Ägide des Völkerbundes eine Regierungskonferenz einberufen. Das orthodoxe Blatt „Der Israelit“ berichtet hier vom ersten Tag der Zusammenkunft, an der Delegierte aus 14 Ländern teilnahmen. Durch die Nürnberger Gesetze hatten Juden eine Herabstufung von „Reichsbürgern“ zu bloßen „Staatsangehörigen“ erfahren. Sobald sie Deutschland verließen, mussten sie mit dem Entzug ihrer Staatsangehörigkeit rechnen. Zwei Mitglieder des Verbindungsausschusses, Bentwich aus London und Seroussi aus Paris, forderten daher, den Flüchtlingsschutz auch auf Staatenlose auszudehnen.

Staatenlos die einen, tatenlos die anderen

Antisemitismus in Rumänien

„Charles A. Davila, der frühere rumänische Gesandte in den Vereinigten Staaten, sagte gestern während einer Segelfahrt auf der Conte di Savoia, die gegenwärtige antisemitische Kampagne sei nicht mehr als ,eine vorübergehende Phase‘. Kein Programm, das auf Intoleranz beruht, könne zu einer Lösung der Minderheitenfrage führen, sagte er.“

Iași

Bereits unter der kurzlebigen Goga-Cuza-Regierung war die Hälfte der in Rumänien lebenden Juden durch Entzug der Staatsbürgerschaft zur Staatenlosigkeit verdammt worden. Die Stadt Iași, in der 1855 die erste jiddische Zeitung Rumäniens gedruckt worden war und in der mit Goldfadens 1876 eröffnetem Theater das moderne jiddische Theater seinen Anfang nahm, hatte einen besonders großen jüdischen Bevölkerungsanteil. George Gedye, ein von der New York Times entsandter Korrespondent, berichtet von Ausschreitungen „einer brutalen und skrupellosen Minderheit“ gegen jüdische Bürger der Stadt.

Kein Lohn für Patriotismus

Die Zeitung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens wird von den Nazis eingestellt.

„Dies ist das zweite jüdische Blatt innerhalb einer Woche, das gesperrt wurde.“

Berlin

Die „C.V.-Zeitung, Blätter für Deutschtum und Judentum“ war das Organ des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Der Central-Verein war liberal-konservativ ausgerichtet und strebte danach, die Interessen aller Juden, ungeachtet ihrer religiösen Zugehörigkeit, zu vertreten. Er sah es als seine Aufgabe, das Selbstbewusstsein der deutschen Juden zu heben und deren Liebe „zu Deutschtum und Judentum“ (Jüdisches Lexikon 1927) zu vertiefen. Der 30. Januar 1938 war für die C.V.-Zeitung der vorläufig letzte Tag eines geordneten Betriebsablaufs. Am 31. ordneten die Nazis die vorübergehende Einstellung ihres Erscheinens an – ohne Nennung von Gründen.

Keine Hoffnung im Osten

Das polnische Parlament plant, Juden in Polen des Landes zu verweisen.

Der Referent Walewski teilte mit, dass in den Jahren 1926 bis 1936 im Durchschnitt jährlich 18.000 Juden, d.h. 60 Prozent des natürlichen Zuwachses der jüdischen Bevölkerung, das Land verlassen hätten. Er forderte jedoch die jährliche Auswanderung von mindestens 100.000 Juden und schätzte die Zahl derer, die zur Auswanderung gebracht werden müssen, auf 1 Million.

Warschau

Während sich die Situation der Juden in Deutschland von Tag zu Tag verschlechterte, machte sich auch in anderen europäischen Ländern der Antisemitismus breit. Im benachbarten Polen wurden antisemitische Stimmen im öffentlichen Leben immer lauter. Wie die C.V.-Zeitung, das Organ des Zentralvereins der Juden in Deutschland berichtete, zeigte das Unterhaus des polnischen Parlaments, der Sejm, seine anti-jüdische Gesinnung in Form eines Plans, die Juden aus dem Land zu vertreiben. Es wurde die Auswanderung von jährlich mindestens 100.000 Juden gefordert. Neben Palästina wurde auch Madagaskar als Aufnahmeland diskutiert. Ministerpräsident Sławoj Składkowski warf den Juden vor, sie selbst seien verantwortlich für die „unerfreulichen Ereignisse“ (womit er vermutlich die zahlreichen Fälle physischer Gewalt gegen Juden meinte), da sie nicht genug Verständnis für die polnischen Bauern an den Tag legten, die gleich den Juden selbst nach einem höheren Lebensstandard strebten.

Die Fünfte Kolonne

Antisemitische Erlasse in Rumänien

In Genf erklärte Außenminister Micescu, die rumänische Regierung habe nicht die Absicht, das Juden- bzw. Minderheitenproblem vor den Völkerbund zu bringen, da Rumänien über seine Innenpolitik keine Ratschläge vom Ausland brauche. Die Minderheitsverträge bezögen sich nur auf jene Nationalitäten, die in den abgetrennten Gebieten, die ehemals zur Habsburger Monarchie gehörten, leben, und gelten mithin nicht für die in Altrumänien ansässigen Juden.

Genf/Bukarest

Im 78. und letzten Jahr ihres Bestehens berichtet die orthodoxe Wochenzeitung „Der Israelit” von Maßnahmen der antisemitischen, pro-Deutschen Regierung Goga-Cuza in Rumänien: Die Juden des Landes wurden vielfältigen Schikanen und Berufsverboten ausgesetzt, die denen in Deutschland nicht unähnlich waren. Infolge von Territorial- und Bevölkerungszuwachs im Ersten Weltkrieg gehörten etwa 30% der Rumänen verschiedenen Minderheiten an, die als „Fünfte Kolonne” betrachtet wurden. Besonders die Juden waren das Objekt von Ängsten und Verdächtigungen, die leicht in gewalttätigen Hass umschlugen.

Mischehe dank Sondererlaubnis

Glückwunschbrief an Hermann Hoerlin aus Anlass seiner bevorstehenden Hochzeit mit Käthe Schmid

„Ich wünsche Ihnen beiden allen Segen. Es gibt gewiss keine prächtigere, edlere Natur, ein freudiger von ihr ausgestattetes Menschenkind als Käte [sic] Schmid, und es ist darum viel damit gesagt, wenn man sie Ihnen, lieber Herr Hoerlin, gleichsam zuspricht und das von Herzen, ohne Wenn und Abers, ohne jede Einschränkung.“

Salzburg/Stuttgart

Ein unbekannter Schreiber gratuliert dem deutschen Bergsteiger und Physiker Hermann Hoerlin zu seiner bevorstehenden Hochzeit mit Käthe Schmid, die laut Sprachgebrauch der Nazis „Halbjüdin“ war. Das 1935 verabschiedete „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verbot die Eheschließung zwischen Juden und Nicht-Juden. Nach langen Bemühungen bekam das Paar eine Sondergenehmigung, und die Hochzeit konnte stattfinden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kate and Herman Hoerlin, AR 25540

Original:

Archivbox 2, Ordner 13

Die Schlinge zieht sich zu

Die Reichsvertretung der Deutschen Juden appelliert an die Regierung

„Ein beträchtlicher Teil der Judenheit in Deutschland, die überwiegend aus älteren Menschen besteht, ist nicht imstande zu emigrieren und wird seine Tage in Deutschland beenden. Wenn er dem staatlichen Wohlfahrtswesen nicht zur Last fallen soll, darf er nicht vollkommen von allen Erwerbsmöglichkeiten ausgeschlossen werden. Selbst die Fortsetzung einer geordneten Auswanderung - und nur dies hält die Tore der Auswanderung offen - ist nur dann möglich, wenn die wirtschaftliche Existenzgrundlage der Juden nicht weiter beschränkt wird.”

Berlin

Die zunächst so genannte Reichsvertretung der Deutschen Juden war im September 1933 als Interessenvertretung gegründet worden. Nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze musste sie sich in „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ umbenennen. Ihr Präsident war Rabbiner Leo Baeck. Infolge der zunehmenden Verarmung der jüdischen Bevölkerung, der systematisch die Erwerbsmöglichkeiten entzogen wurden, appellierte die Reichsvertretung der Juden in Deutschland an die Regierung, von weiteren Einschränkungen abzusehen: nicht genug damit, dass die fortschreitende Erwerbslosigkeit eine Belastung für das Wohlfahrtssystem bedeute, sie mache auch die Auswanderung unmöglich.

Unerwartete Verbündete

Worte der Solidarität für Deutschlands Juden vom Nationalen methodistischen Studentenkongress der USA

„Die Nationale methodistische Studentenkonferenz hat eine Resolution verabschiedet, die schärfstens gegen die Verfolgung von Juden in Deutschland und anderswo protestiert.“ (Jewish Telegraphic Agency)

St. Louis, Missouri

Während die Methodisten in Deutschland eine Minderheit darstellten, waren sie im englischsprachigen Raum eine wichtige Glaubensgemeinschaft. Bereits 1933 begannen die Nazis ihre Führer zu umwerben und zu willigen Werkzeugen ihrer Propaganda in den Vereinigten Staaten zu machen: nicht genug damit, dass die methodistischen Bischöfe sich jeder Kritik enthielten, sie lobten explizit das, was sie als Erfolge der Nazis betrachteten. Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass der Nationale Methodistische Studentenkongress die antijüdischen Maßnahmen Nazideutschlands verurteilte.

In den Erfolg vertrieben

Das geteilte Schicksal deutsch-jüdischer Emigranten: Albert Einstein und Lotte Jacobi

„Autoritätsdusel ist der größte Feind der Wahrheit.” —Albert Einstein

Princeton, New Jersey

Die Person vor der Linse der Kamera und die Fotografin teilten ein Schicksal, das vielen Tausenden von deutschen Juden gemeinsam war: kurz nach der Machtübernahme der Nazis 1933 entschloss sich Albert Einstein, permanent in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Er übernahm einen Posten als Professor für theoretische Physik an dem Institute for Advanced Study in Princeton, wo fünf Jahre später dieses Foto entstand. Angesichts der immer schwierigeren Umstände nach der Machtergreifung verließ 1935 auch die Fotografin Lotte Jacobi Deutschland und wanderte in die Vereinigten Staaten aus. Das Angebot der Nazis, sie zur „Ehrenarierin“ zu ernennen, überzeugte sie nicht. In Berlin ließ sie ein Atelier zurück, das sie gemeinsam mit ihrer Schwester Ruth geführt hatte, die ebenfalls eine versierte Fotografin war. Unter den vielen prominenten Persönlichkeiten, die Lotte Jacobi fotografierte, waren Marc Chagall, Martin Buber, Eleanor Roosevelt, Thomas Mann und Kurt Weill.

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