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Au revoir Paris?

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

„Es ist mir unerhört wichtig, dass er mir die Erlaubnis gibt noch zehn Kameraden nach Mexiko hereinzubringen.“

Paris/Mexiko

Der Brief, den Joseph Roth an seinen Vetter Michael Grübel in Mexiko schickt, ist kurz. Zwar in vertrautem Ton, ansonsten aber auf die wichtigsten organisatorischen Angelegenheiten beschränkt, dankt Roth ihm für die Vermittlung eines Kontaktes zu einem Herrn Dor. Com. Silvio Pizzarello de Helmsburg. Dieser soll Roth dabei helfen, „zehn Kameraden nach Mexiko hereinzubringen.“ Wen genau Roth hier im Blick hat, bleibt offen. Außerdem bittet Roth seinen Vetter, sich auch um eine Einreisebewilligung für ihn selbst zu bemühen. 1933 war der berühmte Schriftsteller und Journalist nach Paris emigiert. Von dort aus hatte er seither zahlreiche Novellen und Essays veröffentlicht und für die Emigrantenpresse in verschiedenen Ländern geschrieben. Nun aber schien auch Roth mit dem Gedanken zu spielen, Europa zu verlassen.

 

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

Original:

Archivbox 2, Ordner 4

Geschlossene Türen

Kanadas restriktive Einwanderungspolitik

Hilfe für die Opfer "politischer Verfolgung und grundloser Aggression" wird ein wichtiger Bestandteil der "Friedens-Aktionswoche" sein [...]

Ottawa

Ein wichtiges Ziel der von der Canadian League of Nations Society geplanten „Nationalen Friedens-Aktionswoche“ war, die kanadische Öffentlichkeit auf das Leiden verfolgter Juden aufmerksam machen. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 3. Oktober 1938 von dem Vorhaben, ein nationales Komittee aus jüdischen und anderen kanadischen Führungspersönlichkeiten zu gründen, das die Öffentlichkeit für die jüdische Flüchtilingskrise sensibilisieren und angemessene Maßnahmen von der Regierung verlangen sollte. Spätestens seit den Jahren der Weltwirtschaftskrise nämlich verfolgte Kanada eine restriktive Abschottungspolitik gegenüber Einwanderern, eine eigentliche Flüchtlingspolitik hatte das Land nicht. Allein dies machte es jüdischen Flüchtlingen schwer, nach Kanada einzuwandern. Hinzu kam ein weit verbreiteter Antisemitismus in der Bevölkerung.

 

Massenflucht

Über 20.000 Juden verlassen das Sudetenland

„Nur ungefähr 2.000 Juden von eigentlich einmal 22.000 sind in den Gebieten der Sudetendeutschen geblieben, die auch von der tschechischen Bevölkerung verlassen worden sind.“

München

Als am 29. September das sogenannte “Münchener Abkommen“ zwischen Hitler, dem britischen Premier Chamberlain, dem französischen Premier Daladier und dem italienischen Diktator Mussolini beschlossen wurde, waren über 20.000 Juden bereits aus dem Sudetenland geflohen. Das berichtete die Jewish Telegraphic Agency am Tag des Abkommens. Nach einem monatelangen Propagandafeldzug der Nazis und lauten Drohungen, die deutsche Wehrmacht werde in die Tschechoslowakei einziehen, musste vielen Juden schon vor Wochen klar geworden sein, dass sie keine Zukunft im Sudetenland haben würden. Mit dem Abkommen wurden die tschechischen Gebiete, in denen die deutsche Minderheit der Sudetendeutschen lebte, ans Deutsche Reich abgetreten. Die Tschechoslowakei saß in München nicht mit am Verhandlungstisch.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

“20,000 Jews Evacuate Sudeten Area”

Jahreschronik 1938

Das Münchner Abkommen

Viele jüdische Anwälte hatten Deutschland und Österreich bereits verlassen. Unter ihnen war Joachim Weichert aus Wien, der dort jahrzehntelang als Anwalt tätig gewesen war. Sammlung Familie Weichert, Leo Baeck Institute.

Germany, the United Kingdom, France, and Italy sign the Munich Agreement. In the absence of Czechoslovakia, which, like the Soviet Union, was not invited to the conference, the participating nations resolve that Czechoslovakia must cede the “Sudetenland” to the German Reich. The agreement calls for the evacuation of the narrow band of territory along Czechoslovakia’s northern, western, and southern borders within ten days. Two days after the agreement is signed, the Wehrmacht enters the Sudetenland. By allowing the conflict over the autonomy of ethnic Germans in Czechoslovakian borderlands to escalate into an international crisis, Hitler has succeeded in first isolating and then breaking up Czechoslovakia.

Zur Jahreschronik 1938

Verlassene Synagogen

Gleiwitzer Gemeinden spüren Folgen der Auswanderung

„Viele kleinere, zu unserem Verband gehörende Gemeinden sind völlig verwaist. Wie müssen uns mit ihrer Auflösung befassen. Ehrwürdige Gotteshäuser müssen ihrer Bestimmung entzogen und verkauft werden.“ [aus der Neujahresansprache des Synagogengemeindeverbandes für Oberschlesien]

GLIWICE

Zu Rosch Haschana wünschte sich Arthur Kochmann für den Synagogenverband für Oberschlesien zweierlei: Dass sich im neuen Jahr die Wünsche eines jeden Gemeindemitglieds erfüllen mögen, aber auch, dass die Juden in Oberschlesien „die innere Geschlossenheit jederzeit erhalten.“ Zwei Wünsche, die sich im Herbst 1938 leider oftmals widersprechen mussten. Die Zahl der Auswanderer aus Gleiwitz war in den vergangenen Monaten extrem gestiegen. Arthur Kochmann verweist auf die dramatischen Folgen für viele kleinere Synagogen in und um Gleiwitz: Viele müssten geschlossen und verkauft werden. Lange noch hatte ein Minderheitenschutz aus dem Jahr 1922 viele Juden in Gleiwitz vor offiziellen antisemitischen Gesetzen der Nazis geschützt, mit seinem Auslaufen 1937 aber war es mit der Gnadenfrist vorbei.

QUELLE

Institution:

The United States Holocaust Memorial Museum

Original:

Auf Deine Hilfe hoffe ich, Gott, in: Jüdisches Gemeindeblatt, vol. 3, no. 18, p. 1. Courtesy of USHMM

Netzwerke

Kurt Grossmann und die Flüchtlingshilfe

„Wenn in den nächsten Tagen Ihnen ein Gesuch von Frau Erna Winter (und Kind), die bisher von der Demokratischen Flüchtlingsfürsorge in Prag unterstützt wurde, vorgelegt werden sollte, so bitte ich Sie, dieses Gesuch mit Wohlwollen zu behandeln.“

PARIS

Die jüdischen Flüchtlingsorganisation waren weit vernetzt. Zu verdanken war das auch einzelnen Personen wie Kurt Grossmann, die stetig neue Kontakte knüpften und die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene ausbauten. Kurt Grossmann, Journalist und von 1926 bis 1933 Generalsekretär der Deutschen Liga für Menschenrechte, war bereits 1933 vor einer Verhaftung aus Berlin nach Prag geflohen. Dort hatte er die Demokratische Flüchtlingsfürsorge mit aufgebaut und diese maßgeblich geprägt. Grossmann wusste sein Netzwerk für die steigende Zahl jüdischer Flüchtlinge, die Prag erreichten, zu nutzen. Noch aus Paris, wo er seit 1938 lebte, warb er bei den lokalen Hilfsorganisationen um Unterstützung. In einem Brief Grossmanns vom 19. September 1938 etwa bittet er M. Gaston Kahn vom Pariser Comité d’Assistance aux Réfugiés juifs mit Nachdruck, Erna Winter und ihrem Kind zu helfen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt Grossmann, AR 25032

Original:

Archivbox 1, Ordner 8

Schlechte Aussichten

Flüchtlinge in der Tschechoslowakei

„Keiner der Flüchtlinge darf natürlich arbeiten. Unter ihnen sind Geschäftsleute, Fachkräfte und Handwerker, von denen viele früher wohlhabend waren. Ohne materielle Rücklagen, oft abgeschnitten von Familie und Freunden, die sie zurücklassen mussten, vor sich eine unsichere Zukunft, wird diese Flüchtlingkolonie bald zu einem psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Problem.“

Brünn

Die Jewish Telegraphic Agency beschrieb die Situation österreichischer Flüchtlinge in der Tschechoslowakei mit Weitsicht: Ändere sich nichts an ihren prekären Umständen (Arbeitsverbot, Mittellosigkeit, fehlende Bleibe-Perspektiven…), würde die Situation schon bald „zum psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Problem“ werden. Die JTA ging davon aus, dass sich Mitte September 1938 mehr als 1.000 Flüchtlinge in der Tschechoslowakei aufhielten, die meisten von ihnen in Brünn, knapp 50 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Nun sah eine Polizeimaßnahme vor, für Personen, die bereits länger als zwei Monate in der Tschechoslowakei waren, eine Kaution von 2.000 tschechischen Kronen (70 Dollar) zu verlangen – sonst drohte ihnen eine Abschiebung. Wer das Geld auslegen sollte, war vollkommen unklar. Weder die jüdische Gemeinde Brünns noch die Liga der Menschenrechte hatten die Mittel dazu.

Dringend gesucht: Bürgen

Bürgschaften von mindestens zwei Verwandten, dazu Dokumente von Banken, Polizeibehörden...Kurt hat mit den hohen Einwanderungs-Hürden zu kämpfen

„Es versteht sich, dass wir an alle nur irgendwie Bekannten in aller Welt schrieben und schreiben, ohne jedoch bisher etwas Positives erreicht zu haben.“

Genua/East Springfield, Pennsylvania

Keinen langen Brief, nur eine eng beschriebene Postkarte erhielt Ludwig Guckenheimer von seinem alten Freund Kurt – doch diese paar Zeilen zeichnen eine lebendige Momentaufnahme der Situation, in der sich sein Freund gerade befand. Abgeschickt hatte Kurt die Karte am 14. September in Genua. Von hier aus versuchte er bereits seit einiger Zeit, seine Emigration vorzubereiten. Kurt wusste,„dass es anfängt zu eilen.“ Bislang scheiterte es für ihn einerseits am fehlenden Geld, vor allem aber an fehlenden Bürgen. Viele Länder hatten die finanziellen und bürokratischen Hürden zur Immigration in den lezten Jahren enorm erhöht. Die Vereinigten Staaten etwa erwarteten neben zahlreichen offiziellen Bescheinigungen Bürgschaften mindestens zweier enger Angehöriger. Kurt aber ließ sich nicht entmutigen. Bemühungen seines Schwagers in Dallas stimmten ihn hoffnungsvoll.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gertrude Guckenheimer, AR 10042

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Schoenbergs Exil

Gleichzeitig unverstanden und bewundert

Los Angeles

Arnold Schoenberg war ein Pionier moderner Kompositionstechniken. Aber seine Musik spaltete auch die Geister – von den einen wurde sie frenetisch gefeiert, von anderen als Lärm zurückgewiesen. Am 13. September feierte der gebürtige Wiener (*1874) seinen 62. Geburtstag. Der Musiker lebte zu diesem Zeitpunkt schon fast fünf Jahre in den Vereinigten Staaten. Schoenberg, Sohn jüdischer Eltern, hatte kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten seinen Posten an der Preußischen Akademie der Künste verloren. Er floh daraufhin zunächst nach Paris und emigrierte dann in die Vereinigten Staaten. In Los Angeles konnte er seine Lehrtätigkeit an der University of Carlifornia wieder aufnehmen.

Falsche Großzügigkeit

Zwang zur Ausreise aus dem Burgenland

„Zweihundert jüdische Einwohner des Burgenlandes wurden ,eingeladen‘, Österreich unterstützt von einem Auswanderer-Schleuser-Projekt zu verlassen.“

Eisenstadt

„Kostenlos“ – Es mag wie ein generöses Angebot daherkommen, aber hinter dem „kostenlosen“ Angebot steckte eiskalte Kalkulation: Nach dem Willen der Nazis sollten alle noch verbliebenen Juden im österreichischen Burgenland die Region verlassen. Säuberung hieß das im Nazi-Jargon. Das Burgenland war die erste österreichische Region, in der man damit begonnen hatte, die jüdische Bevölkerung nach dem „Anschluss“ systematisch zu enteignen und zu vertreiben. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 12. September, dass von den 3.800 Juden, die zuvor im Burgenland gelebt hatten, 1.900 bereits vertrieben, 1.600 Personen vorübergehend nach Wien geflohen und 300 weitere noch in Ghettos im Burgenland selbst interniert seien. Das „Angebot“ der Schleuser-Gruppe wurde laut JTA finanziell von der Gestapo unterstützt – mit 100.000 Mark aus dem Besitz der zuvor enteigneten Juden in der Region.

Ein ehemaliger Zufluchtsort

Wachsender Anti-Semitismus in Italien

Rom/Ostia Antica

Rom ist das Paradies eines jeden Althistorikers, eine Stadt, die nur so vor Geschichte strotzt. Für Herbert Bloch, seit 1935 Doktor der Römischen Geschichte, war sie aber auch noch mehr: ein Zufluchtsort vor dem nationalsozialistischen Deutschland. Der gebürtige Berliner war kurz nach der Machtergreifung Hitlers als Student an die Universtität von Rom gekommen. 1938 war er Teil des Ausgrabungsteams, das große Teile des Geländes von Ostia Antica, dem antiken Seehafen Roms, freilegte und untersuchte. Das Foto zeigt Bloch am 11. September 1938 vor Teilen der Ausgrabungen. 1938 war aber auch das Jahr, in dem der vorher schon latent greifbare Antisemitismus des faschistischen Italien offiziell zur Staatsräson wurde. Nur wenige Tage zuvor hatte Mussolini die ersten von vielen antisemitischen Rassengesetzen erlassen. Herbert Bloch trafen die „Maßnahmen zur Verteidigung der Rasse in der faschistischen Schule“ vom 5. September 1938 besonders hart. Das Gesetz schloss u.a. alle jüdischen Lehrkräfte aus Schulen und Universitäten aus. Rom konnte nicht länger Blochs Zufluchtsort sein.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herbert Bloch, AR 25628

Original:

Archivbox 2, Ordner 12

Und wieder einmal: warten

Die Einreise-Quoten sind strikt

„Es wird Ihnen mitgeteilt, dass die Quote jetzt erschöpft ist.“

Berlin/Breslau

Zeitpunkt: ungewiss. Das amerikanische Generalkonsulat Breslau nannte Carl Proskauer und seiner Familie noch nicht einmal ein Datum in weiter Ferne, an dem sie sich erneut um US-Visa hätten bewerben können. Die Quote sei ausgeschöpft. Gemeint war die amerikanische Quote, die festlegte, wie viele Personen pro Geburtsland (nicht Land der Staatsbürgerschaft!) jährlich in die USA einwandern durften. Und mit dem Jahr 1938 war die Anzahl von Visums-Bewerbungen aus Deutschland rasant gestiegen. Für individuelle Schicksale wie das von Curt Proskauer und seiner Familie bedeutet das im Einzelfall: ein weiteres Mal quälende Wartezeiten und aufreibender Papierkram. Denn viele der Dokumente, die der Breslauer Zahnarzt und Medizin-Historiker Curt Proskauer bereits im amerikanischen Generalkonsulat eingereicht hatte, verloren nach einer gewissen Zeit auch wieder ihre Gültigkeit. Ob sich Curt Proskauer bis dahin erneut um ein Visum bewerben wird können: ungewiss!

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Proksauer, AR 25641

Original:

Archivbox 2, Ordner 30

Eine Vollzeitbeschäftigung

Die aufwändigen Auswanderungs-Vorbereitungen

Basel

Hilde Lachmann-Mosse hatte in ihrem jungen Leben schon einige Umzüge hinter sich. Aufgewachsen war die 26-Jährige in Berlin. Weitere Stationen waren Woodbrooke/Grossbritannien (Schule), Freiburg (Medizin-Studium) und Basel (Promotion im Fach Medizin). Nun stand ihr ein weiterer Umzug bevor: in die Vereinigten Staaten. Die Arbeitsbescheinigung über ihre Zeit als gynaekologische Assistenzärztin in der Baseler Unversitätsklinik hatte sie bereits ins Englische übersetzen lassen – allerdings war dies nur ein Schritt von vielen. Auch wenn die eigentliche Bescheinigung nur wenige Zeilen lang ist: Allein drei Beglaubigungs-Stempel verschiedener Institutionen zeugen davon, wie viele Behördengänge für Hilde Lachmann-Mosse nötig gewesen sein müssen, um schließlich dieses Dokument in Händen halten zu können.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Mosse Familie, AR 25184

Original:

Archivbox 3, Ordner 35

Ratloser Völkerbund

550.000 weitere Flüchtlinge erwartet

„Weitere 550.000 Katholiken, Legitimisten und Nicht-Arier‘ werden gezwungen sein, das Großdeutsche Reich zu verlassen.“

Genf

Der Bericht des Völkerbundes war alarmierend. Sir Neill Malcom, der Hohe Kommissar für deutsche Flüchtlinge im Völkerbund, rechnete mit 550.000 weiteren Menschen, die in Kürze das Deutsche Reich würden verlassen müssen. Nicht-staatliche Flüchtlingsorganisationen seien bereits komplett überlastet. Was tun? Die Konferenz von Evian nur knapp zwei Monate zuvor war gescheitert. Große Aufnahmeländer wie etwa die USA hatten ihre Immigrations-Quoten nicht angepasst. Die JTA berichtete am 5. September über Sir Malcoms Vorschläge – und diese fielen angesichts der internationalen Lage karg aus: Länder, die Flüchtlingen bisher keine Arbeitserlaubnis gegeben hatten, wurden ermutigt, stärker zusamenzuarbeiten und den Menschen immerhin zu gestatten, sich eine geringe Summe für einen Neuanfang im Exil zu verdienen.

Widerstand durch Passfälschung

Der Postausweis des Felix Perls

Berlin

Der jüdische Kaufmann Felix Perls wird 1883 in Beuthen in Oberschlesien geboren. Zum 1. April 1938 muss er aufgrund von NS-Bestimmungen seine Tätigkeit als Direktor der Oberschlesischen Holzindustrie-Aktiengesellschaft aufgeben. Zwei Monate später ziehen er und seine Frau Herta nach Berlin-Grunewald, um den Anfeindungen in Beuthen zu entgehen. Perls‘ Postausweis aus dem Jahr 1938 wurde von ihm gefälscht: Er änderte das Ausgabedatum und die Gültigkeitsdauer. Postausweiskarten wurden für den Empfang vertraulicher Postsendungen benötigt, wurden aber auch außerhalb der Post als Ausweisdokument anerkannt.

Kontakte sind Geld wert

Agnes Graetz nutzt ihr Netzwerk, um ihrer Tochter die Auswanderung in die USA zu ermoeglichen

„Ich bitte Sie, mir, wenn irgend möglich in Kürze zu schreiben, ob Sie eine Möglichkeit sehen, die nicht - wie das jetzt üblich zu sein scheint - unwahrscheinlich hohe Garantien und Rechtsanwaltskosten erfordert.“

Luzern

Eine Krankheit auf Reisen zwang Wilhelm Graetz 1938, seinen Aufenthalt in der Schweiz auszudehnen. Angesichts der sich zuspitzenden Situation entschloss er sich, sein Zuhause in Berlin aufzugeben. Das vormals gut situierte Ehepaar konnte seinen vier erwachsenen Kindern finanziell nicht unter die Arme greifen, hatte aber den Vorteil weit verzweigter Kontakte: Wilhelm Graetz war Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gewesen und kannte als Leiter des deutschen „ORT“ vielerorts potentielle Helfer. Im August führte ihn eine Reise nach Ungarn. Am 27. nutzte seine Frau Agnes die Zeit, bei dem bekannten Territorialisten und „ORT“-Führer David Lvovicz um Hilfe für eine ihrer drei Töchter zu bitten, die dringend eine Bürgschaft brauchte, um nach Amerika auswandern zu können.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung William Graetz, AR 4121

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Not macht erfinderisch

Intellektuelle planen Wohnkolonie in USA für arbeitslose jüdische Ärzte

„Sie wissen, dass wir alle vom 1. Oktober an nicht mehr Ärzte sind; die deutsche Approbation ist allen unseres Glaubens entzogen. Es gibt natürlich eine Menge, die dann nicht wissen, wovon zu leben und auch hier nicht weiter leben können.“

BERLIN/NEW YORK

Die Existenzkrise jüdischer Ärzte in Deutschland, die verschiedene Stadien (Ausschluss aus dem öffentlichen Gesundheitswesen und aus Krankenkassen, Verbot der Zusammenarbeit zwischen jüdischen und „arischen“ Ärzten etc.) durchlaufen hatte und durch das Berufsverbot im Juli 1938 eskalierte, machte schöpferische Lösungsansätze erforderlich. Am 25. August schrieb Dr. Felix Pinkus, ein renommierter Berliner Dermatologe, an seinen Freund Sulzberger in Amerika, um ihn als Mitstreiter für ein Hilfsprojekt zu gewinnen: Der Soziologe und Nationalökonom Franz Oppenheimer war darauf gekommen, in den Vereinigten Staaten eine Art Wohnkolonie für ehemalige Ärzte einzurichten, deren Finanzierung durch Spenden amerikanisch-jüdischer Ärzte bestritten werden sollte. Laut Oppenheimers Berechnungen wäre damit zu rechnen, dass etwa 1000 Ärzte diese Lösung in Anspruch nehmen würden. (Dr. Pinkus schätzte, es wären eher 3000.)

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Felix Pinkus Familie, AR 25456

Original:

Archivbox 1, Ordner 41

Tagesgeschehen zum 18. Geburtstag

Hugo Jellinek gratuliert seiner Tochter und kommentiert die aktuellen Entwicklungen

„Böhmen ist eine harte Nuss, an der sich diese Räuberbande die Zähne ausbrechen werden [sic] oder sagen wir eine Buchtel, an der diese wahnsinnig gewordenen Teufel ersticken werden. Trotz der vielen hiesigen deutschen Hochverräter ist [sic] Regierung und Volk einig in dem unerschütterlichen Willen, die Freiheit und demokratischen Errungenschaften bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Hugo Jellinek war stolz auf seine Tochter Gisella, die während der Hachschara zu einer glühenden Zionistin geworden und wenige Monate zuvor als Teil einer Gruppe wagemutiger Jugendlicher nach Palästina eingewandert war. Zum 18. Geburtstag schickte er seiner erstgeborenen Tochter nicht nur Glückwunsche, sondern ließ sie auch ausführlich an seinen Gedanken zum Tagesgeschehen teilhaben: Deutsche Manöver entlang der tschechoslowakischen Grenze beunruhigten ihn sehr, doch er war überzeugt, anders als im Fall Österreichs würde die Wehrmacht mit scharfem Widerstand zu rechnen haben. Das Misstrauen und der Mangel an Solidarität wohlhabender Brünner Juden gegenüber jüdischen Flüchtlingen erfüllten ihn mit Bitterkeit. Auch war er sehr besorgt wegen der Räumungsbescheide, die bei österreichischen Juden eingingen. Bei allen Sorgen und Klagen verschaffte eine neue Damenbekanntschaft einen Lichtblick.

650 Reichsmark und 50 Pfennige

Mit der Columbus nach New York

„Schiffskarten - Eisenbahnkarten - Flugkarten nach allen Ländern“

Berlin/Bremen/New York

Nur wenige Häuser vom Palästina-Amt der Jewish Agency for Palestine entfernt, auf der Meinekestraße 2 in Berlin, befand sich das Reisebüro „Palestine & Orient Lloyd“, das in enger Zusammenarbeit mit der Agency stand und vielen Tausenden von Juden bei der Auswanderung aus Nazi-Deutschland behilflich war – durchaus nicht nur nach Palästina. Einer dieser Auswanderer war Dr. Rolf Katzenstein. Am 20. August 1938 stellte ihm der „Palestine & Orient Lloyd“ diese Rechnung für die Überfahrt nach New York aus, die am 27.8. an Bord der Columbus von Bremen aus starten sollte.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Sammlung:

Rechnung "Palestine & Orient Lloyd" für Rolf Katzenstein, Jüdisches Museum Berlin, Sammlung Ruth Gützlaff geb. Katzenstein

Nach Haifa? Nicht jetzt.

Onkel Alfred rät Neffen ab von Besuch

„Der Zeitpunkt, zu dem wir hierherkommen sollen, wird nach meiner Auffassung von weit höherer Seite bestimmt, das Schicksal wird uns zeigen, wenn wir hierherkommen sollen. Ich habe noch niemals so viele unglückliche Menschen in einem Land konzentriert gesehen, wie hier.“

Haifa/Meran

Nach sechs Jahren in Palästina war Alfred Hirschs Urteil eindeutig: Angesichts der politischen, klimatischen und wirtschaftlichen Struktur des Landes könnten selbst ausgesprochen intelligente, ausdauernde Menschen nicht viel erreichen. Bei seinem Versuch, seinem Neffen Ulli das Kommen auszureden, nahm er kein Blatt vor den Mund. Im sehr säkularen Haifa ansässig, war Alfred Hirsch überzeugt, für einen jungen orthodoxen Juden wie Ulli wäre das Leben in Palästina zum gegenwärtigen historischen Zeitpunkt eine große Enttäuschung. Zwischen der Atmosphäre, die durch das kollektive Elend einer großen Anzahl entwurzelter, bedrückter Menschen erzeugt wurde und den politischen Unruhen, die ernsthafte wirtschaftliche Probleme hervorriefen, erschien Onkel Alfred der Zeitpunkt nicht richtig. (Mit politischer Unruhe gemeint sind der Arabische Aufstand in Reaktion auf den massiven Zustrom europäischer Juden und die Aussicht auf die Errichtung einer Nationalen Heimstätte für die Juden, wie durch die Balfour-Erklärung 1917 vereinbart.)

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Julius und Elisabeth Hirsch, AR 25585

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Fragebogen

Antisemitismus im sächsischen Merseburg treibt Bernhard Taitza ins Ausland

„Mittel für den Existenzaufbau unter der Voraussetzung, dass die Mitnahme bewilligt wird; Mittel für Reisespesen: ‘Keine. RM 8000.- in Deutschland beschlagnahmt, um deren Freigabe ich mich bemühe. Andernfalls stellen die Verwandten in Amerika genügend Existenzmittel zur Verfügung.’”

Prag

Die unbedeutende Anzahl von Juden im sächsischen Merseburg (50 Personen bei einer Gesamtbevölkerung von 31.576 im Jahr 1933) brachte die Nationalsozialisten vor Ort nicht davon ab, sie in Angst und Schrecken zu versetzen: Bereits 1934 berichtete Bernhard Taitza, ein Kaufmann, von der Qual jüdischer Einwohner, an deren Wohnungen Nazi-Formationen vorbeimarschierten und antisemitische Lieder sangen. Schließlich wurde die Situation so unerträglich, dass er 1938 Deutschland verließ und nach Prag ging. Tage später, am 18. August, reichte er diesen Fragebogen bei der HICEM ein, einer Organisation, die 1927 durch einen Zusammenschluss der Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS), der Jewish Colonization Association und Emigdirect, einer weiteren jüdischen Migrationsorganisation, entstanden war. Glücklicherweise hatte Taitza zwei Kinder in Amerika und war bereits mit einer Bürgschaft ausgestattet, so dass er sich nicht allzu sehr sorgen musste, ob er das Geld, das die Nazis konfisziert hatten, je wiederbekommen würde.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Bernhard Taitza, früher Merseburg, trifft in der CSR ein.

Ellis Levy, Anwalt der Einwanderer

New Yorker Jurist baut Bildungsbrücke für Flüchtlinge

„Ich glaube nun, dass ihre Zulassung zu den Colleges der Stadt New York nicht nur einen Akt der Güte darstellen, sondern gleichzeitig auch einen Schritt in der gebotenen Richtung bedeuten würde, den Leuten zu helfen, nützliche und gebildete Mitglieder unserer Demokratie zu werden.“

NEW YORK

Ellis Levy, ein jüdischer Jurist, der in New York lebte, beschloss, sich die Sache der Einwanderer zu eigen zu machen, die vor der Verfolgung durch die Nazis flohen. In einem Brief an Bürgermeister LaGuardia, der auszugsweise in der August-Ausgabe des „Aufbau“ veröffentlicht wurde, wies er darauf hin, dass viele der Neuankömmlige vollkommen mittellos ins Land kämen, in vielen Fällen, nachdem sie zum Abbruch ihres Studiums oder ihrer Berufsausbildung gezwungen worden seien. Kurz später sollte vor dem „Ausschuss für Höhere Bildung“ eine Gesetzesvorlage eingebracht werden, in der es um die Möglichkeit der Öffnung städtischer Colleges in New York für Nicht-Staatsbürger ging. Der Jurist bat Bürgermeister LaGuardia, seinen Einfluss auf den Ausschuss geltend zu machen, um eine positive Entscheidung zu bewirken. Dies, so argumentierte er, würde sowohl den Bedürfnissen der Einwanderer als auch dem Interesse der Demokratie in den Vereinigten Staaten entgegenkommen. Tatsächlich wurde beschlossen, mit Wirkung vom 1. September des laufenden Jahres ernsthaften Anwärtern auf US-Staatsbürgerschaft mit angemessener Vorbildung ein solches Studium zu ermöglichen.

Einzelhachscharah in England

Die 17-jährige Marianne leidet allein in der Fremde

„Jetzt zu dem Punkt, der Dir momentan am wichtigsten ist. Papi hat Dir ja schon seine Ansicht geschrieben, es ist uns sehr darum zu tun, dass Du in England bleibst und so leid Du uns tust, dass Du Dich doch irgendwie durchfressen musst.“

Teplitz

Im Juli 1938 reiste die 17jährige Marianne Pollak ganz allein von Teplitz (Tschechoslowakei) nach England. Nicht an das dortige Klima gewöhnt, holte sich das junge Mädchen Rheuma und war rundherum in elender Verfassung. Alle paar Tage erhielt sie von ihrer Mutter fürsorgliche, liebevolle Briefe. Während Mariannes unglückliche Situation sie eindeutig bedrückte, führten ihr Frau Pollak und ihr Mann vor Augen, wie wichtig es sei, dass sie in England bleibe. Anscheinend war Marianne auf Einzelhachscharah, d.h., sie eignete sich Fähigkeiten an, die sie auf das Pionierleben in Palästina vorbereiten sollten. In Osteuropa hatte die Pionierbewegung „HeChaluz“ bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts zukünftigen Siedlern Schulungskurse angeboten. Eine deutsche Zweigstelle wurde 1923 eröffnet, aber die Bewegung gewann in Westeuropa erst während der Weltwirtschaftskrise an Boden und erlangte ihre größte Reichweite während der Jahre der Verfolgung durch die Nazis. Anstatt sich auf Lehrhöfen kollektiv vorbereiten zu lassen, konnten die jungen Leute ihre Ausbildung auch individuell bekommen, was bei Marianne der Fall gewesen zu sein scheint.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung John Peters Pinkus, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 22

Alfred Döblin im Exil

Als französischer Staatsbürger feiert der Schriftsteller seinen 60. Geburtstag

Paris

Knapp einen Monat nach dem Zusammenbruch der Weimarer Republik, einer „Demokratie ohne Gebrauchsanweisung“, wie er sie in „Der deutsche Maskenball“ nannte, und einen Tag nach dem Reichstagsbrand hatte der Schriftsteller und Sozialdemokrat Alfred Döblin Deutschland verlassen. Nach kurzem Intermezzo in der Schweiz war er im September 1933 mit seiner Frau und seinen drei Söhnen nach Paris gezogen. Gelegentliche Publikationen im deutschsprachigen Exil-Verlag Querido (Amsterdam) warfen minimalen finanziellen Gewinn ab, und Döblins mangelnde Französischkenntnisse standen seinem beruflichen Fußfassen erheblich im Wege. Seit 1936 waren die Döblins französische Staatsbürger. Der 10. August 1938 war der 60. Geburtstag des Autors.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Porträt von Alfred Döblin

Original:

F 2087A

Fluchtplanung mit touristischem Abstecher

Ein Reisebüro aus New York hilft Ursula Meseritz bei ihrer Reise in die USA

„Im Anschluss an ihren heutigen Besuch in unserem Bureau gestatten wir uns, Ihnen nachstehend Reiseplan und Abrechnung zu übersenden.“

New York

Als einziges Mitglied ihrer Familie hatte die 18jährige Ursula Meseritz Deutschland im Juli verlassen und sich auf der R.N.S. „Britannic“ von Le Havre aus nach New York eingeschifft. Adolf Floersheim, ein ehemaliger Nachbar, der seit 1937 in den Vereinigten Staaten ansässig war, hatte die Bürgschaft übernommen. Ihre Eltern, Olga und Fritz Meseritz, die die Ausreise in die Wege geleitet hatten, blieben in Hamburg zurück. Ein offenbar von deutsch-jüdischen Einwanderern geführtes Reisebüro, Plaut Travel auf der Madison Avenue in New York, hatte die Route für Ursulas Weiterreise an die Westküste – mit einem touristischen Abstecher in die Hauptstadt – ausgearbeitet und am 8. August an sie abgeschickt.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Ursula Meseritz Elgart Familie, AR 25544

Original:

Archivbox 1, Ordner 14

Wir sehen uns in Genf

Mit neuen Rassengesetzen ist Rom keine Option mehr für Anneliese

„Bitte schreib mir nur nach Genf, wann wir uns sehen können. Ich freue mich schon sehr auf unser Wiedersehen.“

Biel/Villars-sur-Ollon

Bis 1933 spielte ihre jüdische Identität kaum eine Rolle im Leben von Anneliese Riess, einer vollkommen säkularen Studentin der klassischen Archäologie. Sobald jedoch die Nazis an die Macht kamen, war ihr klar, dass sie als Jüdin in Deutschland keine Zukunft hatte. Sie entschloss sich, nach Italien auszuwandern, wo sie promovierte (Rom, 1936). Da die Chancen, in Italien in ihrem Bereich Arbeit zu finden, äußerst gering waren, belegte die junge Frau 1937 einen anspruchsvollen Kurs für Kinderpflegerinnen in Genf. Nach einer Operation im Juni 1938 verbrachte sie mehrere Monate in Villars-sur-Ollon. Im Juli wurde in Italien das Generaldirektorium für Demographie und Rasse eingerichtet, das damit beauftragt war, die Rassengesetze des Landes zu formulieren. Somit fiel Rom als möglicher Zufluchtsort weg. Im selben Monat war der Vater in Amerika angekommen und bemühte sich nun, auch ihr die Einwanderung zu ermöglichen. Diese Postkarte, datiert vom 7. August und an Anneliese in Villars adressiert, war erfrischend frei von jedem Bezug auf die prekären Entwicklungen in Europa und verschaffte ihr die willkommene Aussicht auf ein Wiedersehen mit einem Freund inmitten aller Unsicherheit.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Anneliese Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, Ordner 9

Grüße und Küsse

Eine liebe Nachricht an Oma in Breslau

„Hoffentlich sind Deine Schmerzen schon besser geworden. Viele herzliche Grüße und Küsse und einen guten שבת [Schabbes], auch an Blumenthals, Dein Enkelkind Michael“

Oldenburg/Breslau

Nach Handschrift und Stil zu urteilen, war Michael Seidemann recht klein, als er seiner Großmutter Louise Seidemann in Breslau diese Postkarte schickte. Interessanterweise war die Adresse, von der aus er schrieb, identisch mit der der Synagoge des Orts, Oldenburg. Obwohl die ersten Zeugnisse jüdischer Präsenz in Oldenburg aus dem 14. Jahrhundert stammen, sollte es bis 1855 dauern, bis die Gemeinde ihre erste zu diesem Zweck erbaute Synagoge eröffnete. Im Zuge der Emanzipation begannen Juden, zum Handel der Stadt beizutragen, indem sie unter anderem Schuhe, Bücher, Fahrräder und Musikinstrumente verkauften, aber auch als Viehhändler und in der Landwirtschaft. Ihr Anteil an der Bevölkerung ging selten über 1% hinaus. Dennoch kam es schon in den zwanziger Jahren zu Angriffen antisemitischer Schläger auf jüdische Geschäfte. 1933 hatte die Stadt 279 jüdische Einwohner aus einer Gesamtbevölkerung von 66.951. Als Michael diese Postkarte schrieb, waren von Dutzenden jüdischer Geschäfte und Betriebe nur zwei übrig geblieben.

Die Hilfsstelle der Liga für Menschenrechte

„Diese Hunde von Hitler und Göring werden niemals gewinnen“

„Es stirbt halt nicht der jüd. Wohltätigkeitssinn aus und es wird diesen Hunden von Hitler und Göring nicht gelingen, dass die Emigranten in der Gosse krepieren.“

Brünn/Rischon LeZion

Hugo Jellinek war ein vielseitig begabter Mann. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwang ihn, sein Medizinstudium abzubrechen. Als Soldat wurde er in Samarkand schwer verwundet und verliebte sich in die Krankenschwester, die ihn pflegte und später seine Frau und die Mutter seiner drei Töchter wurde. Das Paar siedelte sich in Taschkent (Usbekistan) an. Nach dem Tod seiner noch jungen Frau im Jahr 1926 floh er 1930 aus der Sowjetunion und kehrte schließlich nach Wien zurück. Dort machte er sich die acht Sprachen, die er beherrschte, als Übersetzer zunutze und arbeitete als freiberuflicher Jornalist. Dank einer Warnung bezüglich seiner bevorstehenden Festnahme gelang es ihm im Juni 1938, nach Brünn zu entkommen. Seine älteste Tochter Gisella Nadja brach am selben Tag nach Palästina auf. In diesem schillernden Brief zeigt Hugo väterliche Sorge um Nadjas Wohlbefinden, diskutiert aber auch ausführlich die eigenen Nöte als Flüchtling und vergisst nicht zu berichten, dass der Sohn seines Cousins im Konzentrationslager Dachau interniert sei. Mit Genugtuung erwähnt er die Arbeit der von ihm so genannten „Liga“ (gemeint ist wohl die Hilfsstelle der Liga für Menschenrechte), die sich um die Flüchtlinge kümmerte und damit Hitlers teuflischen Plänen trotzte. Letztendlich jedoch käme es vor allem darauf an, für einen eigenen Staat zu kämpfen.

Brot für Fremde

Ein Geschäftsmann vom Rhein sieht die USA als Ort der Großzügigkeit

„Unsere Hauptsorge bleibt der Hausverkauf, das Geschäft können wir zweimal verkaufen, oder auch auflösen. Darüber brauchen wir uns also weniger Gedanken zu machen.“

Neuwied am Rhein/New York

Ohne viel Drama schildert der Kaufmann Isidor Nassauer, wohnhaft in Neuwied am Rhein, der befreundeten Familie Moser, die bereits in Amerika ist, seine Situation: Unaufgefordert hat ihm sein Schwager eine Bürgschaft geschickt, die wegen einer fehlenden Unterschrift nicht verwendbar war und zurückgeschickt werden musste. Während er auf das unterschriebene Dokument wartet, nimmt er Englischstunden. Obwohl er keine Ahnung hat, wovon er in Amerika leben soll, erfüllt ihn die Tatsache, dass dort schon „so viel Brot für Fremde gebacken“ wurde, mit Zuversicht. Ein Grund zur Sorge ist für ihn jedoch der Verkauf des Hauses, während es leicht zu sein scheint, das Geschäft (eine Bürstenfabrik) zu verkaufen oder zu liquidieren. In der Regel waren Juden gezwungen, ihren Besitz weit unter Wert zu verkaufen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Betty and Morris Moser Sammlung, AR 25497

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Es wird einfacher werden

Zuspruch für eine Siebzehnjährige

„Natürlich dauert es ein bisschen, bis man miteinander warm wird, besonders, wenn man die Sprache nicht beherrscht.“

Teplitz

Frau Pollak in Teplitz (Tschechoslowakei) schwankte zwischen Erleichterung, zu wissen, dass ihre Tochter in sicherem Abstand vom Zugriff der Nazis war, und Sorge um das körperliche und seelische Wohlergehen der 17jährigen Marianne. Nach anfänglichen Plänen, mit der Jugend-Alija nach Palästina auszuwandern, war das junge Mädchen nun ganz allein in England. Die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland hatte in der Tschechoslowakei die Furcht vor einem ähnlichen Schicksal erweckt, und Juden hatten doppelten Grund zur Sorge – als Tschechen und als Juden. Während die Nachrichten aus Wien und Palästina düster waren und die Tschechoslowakei einer ungewissen Zukunft entgegenging, war Frau Pollak liebevoll darum bemüht, Marianne zu versichern, dass das Leben im neuen Land leichter werden würde.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

John Peters Pinkus Familie Sammlung, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 22

Rückenstärkung vom Arbeitgeber

Paul Schrag kann seine professionellen Optionen in den USA prüfen

„Es ist gut, dass ein Aufbruch so reich an täglichen Aufgaben ist, an Unannehmlichkeiten auch, dass man dabei wenig zum Nachdenken kommt. Niemals aber bin ich stärker von den Dämonen des Zweifels heimgesucht worden als jetzt, tags und nachts.“

Brüssel/Fribourg

Der deutsche Jurist Paul Schrag war am Institut d’Economie Européenne in Brüssel beschäftigt. Mit seiner jüdischen Ehefrau Suzanne und einem Kleinkind wollte er am 15. Juli von Le Havre aus in die Vereinigten Staaten aufbrechen. Am 2. Juli schrieb er einen Brief an Professor Max Gutzwiller in Fribourg in der Schweiz, der seinen Lehrstuhl für Deutsches Privatrecht und Römisches Recht an der Universität Heidelberg 1936 aufgegeben hatte, weil er ein scharfer Kritiker der Nazis und ebenfalls mit einer Jüdin verheiratet war. Schrag bittet ihn um eine Art Zeugnis oder Empfehlungsschreiben zur Verwendung in den Vereinigten Staaten. Schrag genoss offensichtlich die Wertschätzung seiner Arbeitgeber: Die Institutsleitung hatte sich bereit erklärt, ihm bis zum Jahresende die Position des Generaldirektors vorzubehalten und ihm sogar eine „Studienmission“ anvertraut, um ihm zu ermöglichen, ohne größeren Druck seine professionellen Aussichten in Amerika zu prüfen.

Ausweisung binnen 24 Stunden

Die Situation ist prekär für jüdische Immigranten in Jugoslawien

„Ich sage Euch das eine, der Antisemitismus macht nicht in Deutschland, oder Österreich, oder Ungarn, oder Rumänien, oder Jugoslavien halt, wenn nicht ein Wunder geschieht oder durch eine Katastrophe die Menschen aufgerüttelt werden.“

BELGRAD/NEW YORK

Während der Antisemitismus in Jugoslawien in keiner Weise ein neues Phänomen war – tatsächlich hatte seit Ende des Ersten Weltkriegs das gesamte politische Spektrum Anlässe zu judenfeindlichen Auslassungen gefunden – verschlechterte sich die Situation in den dreißger Jahren unter dem Einfluss der Ereignisse in Deutschland. Der Nürnberger Fritz Schwed hatte, was den vorläufigen Zufluchtsort seiner Familie betraf, keine Illusionen: In diesem langen Brief an seinen alten Freund aus Nürnberger Tagen, Fritz Dittmann, der nach New York geflohen war, beschreibt Schwed die prekäre Situation von Emigranten in Jugoslawien, die mit einer Vorwarnung von bloßen 24 Stunden ausgewiesen werden konnten. Selbst ältere und bereits längere Zeit im Lande ansässige Menschen waren von dieser grausamen Regelung nicht ausgeschlossen. Emigranten bekamen keine Arbeitserlaubnis, und wenn sie beim Übertreten des Verbots ertappt wurden, mussten sie mit sofortiger Ausweisung rechnen. Mit dem Fazit „Es ist für deutsche Juden kein Platz mehr in Jugoslawien und wie mir scheint, auch nirgends mehr in Europa“, begann Schwed, die Möglichkeit einer Emigration nach Australien oder Südamerika auszukundschaften.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gerda Dittmann, AR 10484

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

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