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Von jetzt auf gleich: staatenlos

Die Zahl der Ausbürgerungen steigt an

Berlin

Alfred Basch, geboren am 27. September 1915 in Magdeburg, war fortan staatenlos. Mit der Veröffentlichung seines Namens im deutschen Reichsanzeiger wurde Alfred Basch die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Grundlage dafür war das „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit“. Es galt bereits seit fünf Jahren. Doch in den vergangenen Monaten waren die Ausbürgerungszahlen deutlich angestiegen, oftmals traf es Personen und Familien, die nach dem Ersten Weltkrieg dank der vergleichsweise liberalen Einbürgerungspolitik der Weimarer Republik deutsche Staatsbürger geworden waren. Allein im September 1938 waren es 116 Familien, die auf Grundlage dieses Gesetzes vom einen Tag auf den anderen zu Staatenlosen gemacht wurden. Und damit nicht genug: Die Veröffentlichung ihrer vollen Namen, Geburtsorte und -daten machte sie zu einer Zielscheibe für Diskriminierung, die normales Weiterleben, und sei es auch nur vorübergehend, unmöglich machten.

Netzwerke

Kurt Grossmann und die Flüchtlingshilfe

„Wenn in den nächsten Tagen Ihnen ein Gesuch von Frau Erna Winter (und Kind), die bisher von der Demokratischen Flüchtlingsfürsorge in Prag unterstützt wurde, vorgelegt werden sollte, so bitte ich Sie, dieses Gesuch mit Wohlwollen zu behandeln.“

PARIS

Die jüdischen Flüchtlingsorganisation waren weit vernetzt. Zu verdanken war das auch einzelnen Personen wie Kurt Grossmann, die stetig neue Kontakte knüpften und die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene ausbauten. Kurt Grossmann, Journalist und von 1926 bis 1933 Generalsekretär der Deutschen Liga für Menschenrechte, war bereits 1933 vor einer Verhaftung aus Berlin nach Prag geflohen. Dort hatte er die Demokratische Flüchtlingsfürsorge mit aufgebaut und diese maßgeblich geprägt. Grossmann wusste sein Netzwerk für die steigende Zahl jüdischer Flüchtlinge, die Prag erreichten, zu nutzen. Noch aus Paris, wo er seit 1938 lebte, warb er bei den lokalen Hilfsorganisationen um Unterstützung. In einem Brief Grossmanns vom 19. September 1938 etwa bittet er M. Gaston Kahn vom Pariser Comité d’Assistance aux Réfugiés juifs mit Nachdruck, Erna Winter und ihrem Kind zu helfen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt Grossmann, AR 25032

Original:

Archivbox 1, Ordner 8

Schlechte Aussichten

Flüchtlinge in der Tschechoslowakei

„Keiner der Flüchtlinge darf natürlich arbeiten. Unter ihnen sind Geschäftsleute, Fachkräfte und Handwerker, von denen viele früher wohlhabend waren. Ohne materielle Rücklagen, oft abgeschnitten von Familie und Freunden, die sie zurücklassen mussten, vor sich eine unsichere Zukunft, wird diese Flüchtlingkolonie bald zu einem psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Problem.“

Brünn

Die Jewish Telegraphic Agency beschrieb die Situation österreichischer Flüchtlinge in der Tschechoslowakei mit Weitsicht: Ändere sich nichts an ihren prekären Umständen (Arbeitsverbot, Mittellosigkeit, fehlende Bleibe-Perspektiven…), würde die Situation schon bald „zum psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Problem“ werden. Die JTA ging davon aus, dass sich Mitte September 1938 mehr als 1.000 Flüchtlinge in der Tschechoslowakei aufhielten, die meisten von ihnen in Brünn, knapp 50 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Nun sah eine Polizeimaßnahme vor, für Personen, die bereits länger als zwei Monate in der Tschechoslowakei waren, eine Kaution von 2.000 tschechischen Kronen (70 Dollar) zu verlangen – sonst drohte ihnen eine Abschiebung. Wer das Geld auslegen sollte, war vollkommen unklar. Weder die jüdische Gemeinde Brünns noch die Liga der Menschenrechte hatten die Mittel dazu.

Dringend gesucht: Bürgen

Bürgschaften von mindestens zwei Verwandten, dazu Dokumente von Banken, Polizeibehörden...Kurt hat mit den hohen Einwanderungs-Hürden zu kämpfen

„Es versteht sich, dass wir an alle nur irgendwie Bekannten in aller Welt schrieben und schreiben, ohne jedoch bisher etwas Positives erreicht zu haben.“

Genua/East Springfield, Pennsylvania

Keinen langen Brief, nur eine eng beschriebene Postkarte erhielt Ludwig Guckenheimer von seinem alten Freund Kurt – doch diese paar Zeilen zeichnen eine lebendige Momentaufnahme der Situation, in der sich sein Freund gerade befand. Abgeschickt hatte Kurt die Karte am 14. September in Genua. Von hier aus versuchte er bereits seit einiger Zeit, seine Emigration vorzubereiten. Kurt wusste,„dass es anfängt zu eilen.“ Bislang scheiterte es für ihn einerseits am fehlenden Geld, vor allem aber an fehlenden Bürgen. Viele Länder hatten die finanziellen und bürokratischen Hürden zur Immigration in den lezten Jahren enorm erhöht. Die Vereinigten Staaten etwa erwarteten neben zahlreichen offiziellen Bescheinigungen Bürgschaften mindestens zweier enger Angehöriger. Kurt aber ließ sich nicht entmutigen. Bemühungen seines Schwagers in Dallas stimmten ihn hoffnungsvoll.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gertrude Guckenheimer, AR 10042

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Schoenbergs Exil

Gleichzeitig unverstanden und bewundert

Los Angeles

Arnold Schoenberg war ein Pionier moderner Kompositionstechniken. Aber seine Musik spaltete auch die Geister – von den einen wurde sie frenetisch gefeiert, von anderen als Lärm zurückgewiesen. Am 13. September feierte der gebürtige Wiener (*1874) seinen 62. Geburtstag. Der Musiker lebte zu diesem Zeitpunkt schon fast fünf Jahre in den Vereinigten Staaten. Schoenberg, Sohn jüdischer Eltern, hatte kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten seinen Posten an der Preußischen Akademie der Künste verloren. Er floh daraufhin zunächst nach Paris und emigrierte dann in die Vereinigten Staaten. In Los Angeles konnte er seine Lehrtätigkeit an der University of Carlifornia wieder aufnehmen.

Nicht wegen Bettelns vorgemerkt

Ein polizeiliches Führungszeugnis im Jahr 1938

„…hiermit bestätigt, dass gegen ihn während der letzten fünf Jahre keinerlei bedenkliche, die Reise behindernden Tatsachen inbesondere auch nicht wegen Bettelns vorgemerkt sind.“

Wien

Es mag auf den ersten Blick abstrus erscheinen: Einem Versicherungsangestellten, dem Wiener Franz Resler, wird im polizeilichen Führungszeugnis bestätigt, er sei in der Vergangenheit inbesondere „nicht wegen Bettelns“ aufgefallen. Auf den zweiten Blick aber ist es genau die Betonung des Bettelns, die auf all die existenziellen Krisen verweist, in denen sich viele österreichische Juden 1938 zunehmend befanden. Mit dem „Anschluss“ hatten die Nazis den wirtschaftlichen Druck auf die in Österreich lebenden Juden enorm erhöht. „Arisierungen“ von Unternehmen und Berufsverbote entzogen zahlreichen Personen die Lebensgrundlage. Franz Resler und seine Frau Anna planten deswegen ihre Ausreise nach Argentinien, dort lebte Franz Reslers Schwester Fanny bereits seit den 1920er Jahren.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Polizeiliches Führungszeugnis für Franz Resler, zum Zweck der Ausreise nach Argentinien; Arch. Inv. Nr. 5769/3

Und wieder einmal: warten

Die Einreise-Quoten sind strikt

„Es wird Ihnen mitgeteilt, dass die Quote jetzt erschöpft ist.“

Berlin/Breslau

Zeitpunkt: ungewiss. Das amerikanische Generalkonsulat Breslau nannte Carl Proskauer und seiner Familie noch nicht einmal ein Datum in weiter Ferne, an dem sie sich erneut um US-Visa hätten bewerben können. Die Quote sei ausgeschöpft. Gemeint war die amerikanische Quote, die festlegte, wie viele Personen pro Geburtsland (nicht Land der Staatsbürgerschaft!) jährlich in die USA einwandern durften. Und mit dem Jahr 1938 war die Anzahl von Visums-Bewerbungen aus Deutschland rasant gestiegen. Für individuelle Schicksale wie das von Curt Proskauer und seiner Familie bedeutet das im Einzelfall: ein weiteres Mal quälende Wartezeiten und aufreibender Papierkram. Denn viele der Dokumente, die der Breslauer Zahnarzt und Medizin-Historiker Curt Proskauer bereits im amerikanischen Generalkonsulat eingereicht hatte, verloren nach einer gewissen Zeit auch wieder ihre Gültigkeit. Ob sich Curt Proskauer bis dahin erneut um ein Visum bewerben wird können: ungewiss!

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Proksauer, AR 25641

Original:

Archivbox 2, Ordner 30

Eine Vollzeitbeschäftigung

Die aufwändigen Auswanderungs-Vorbereitungen

Basel

Hilde Lachmann-Mosse hatte in ihrem jungen Leben schon einige Umzüge hinter sich. Aufgewachsen war die 26-Jährige in Berlin. Weitere Stationen waren Woodbrooke/Grossbritannien (Schule), Freiburg (Medizin-Studium) und Basel (Promotion im Fach Medizin). Nun stand ihr ein weiterer Umzug bevor: in die Vereinigten Staaten. Die Arbeitsbescheinigung über ihre Zeit als gynaekologische Assistenzärztin in der Baseler Unversitätsklinik hatte sie bereits ins Englische übersetzen lassen – allerdings war dies nur ein Schritt von vielen. Auch wenn die eigentliche Bescheinigung nur wenige Zeilen lang ist: Allein drei Beglaubigungs-Stempel verschiedener Institutionen zeugen davon, wie viele Behördengänge für Hilde Lachmann-Mosse nötig gewesen sein müssen, um schließlich dieses Dokument in Händen halten zu können.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Mosse Familie, AR 25184

Original:

Archivbox 3, Ordner 35

Nicht aufgeben

Der Arzt Max Wolf will dem drohenden Berufsverbot entgehen

„Ihrem Wunsch gemäß bestätigen wir Ihnen, dass Sie von 1924 bis 30. September 1938 ordentliches Mitglied der Gesellschaft der Ärzte in Wien waren.“

Wien

Dr. Max Wolf hatte sein Fachgebiet schon vor Jahren gefunden: Seit 1922 arbeitete Wolf als Dermatologe in der Wiener Poliklinik, nebenher publizierte er zahlreiche Fachaufsätze. Studiert hatte der gebürtige Wiener noch zur Zeit des Ersten Weltkrieges, kurz darauf hatte er an der italienischen Front als Lazarett-Arzt gedient. Nun aber stand seine Karriere vor dem Aus. Nach dem „Anschluss“ hatten die Nazis bereits jüdische Anwälte und Richter in Österreich mit einem Berufsverbot belegt, ein Verbot für jüdische Ärzte stand kurz bevor. Max und seine Frau Margarata Wolf bereiteten indessen ihre Emigration vor. Die Bescheinigung über Wolfs Mitgliedschaft in der Wiener Gesellschaft der Ärzte lässt erahnen: Max Wolf hatte nicht vor, seinen Beruf im Exil aufzugeben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Manx und Margareta Wolf, AR 10699

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Ratloser Völkerbund

550.000 weitere Flüchtlinge erwartet

„Weitere 550.000 Katholiken, Legitimisten und Nicht-Arier‘ werden gezwungen sein, das Großdeutsche Reich zu verlassen.“

Genf

Der Bericht des Völkerbundes war alarmierend. Sir Neill Malcom, der Hohe Kommissar für deutsche Flüchtlinge im Völkerbund, rechnete mit 550.000 weiteren Menschen, die in Kürze das Deutsche Reich würden verlassen müssen. Nicht-staatliche Flüchtlingsorganisationen seien bereits komplett überlastet. Was tun? Die Konferenz von Evian nur knapp zwei Monate zuvor war gescheitert. Große Aufnahmeländer wie etwa die USA hatten ihre Immigrations-Quoten nicht angepasst. Die JTA berichtete am 5. September über Sir Malcoms Vorschläge – und diese fielen angesichts der internationalen Lage karg aus: Länder, die Flüchtlingen bisher keine Arbeitserlaubnis gegeben hatten, wurden ermutigt, stärker zusamenzuarbeiten und den Menschen immerhin zu gestatten, sich eine geringe Summe für einen Neuanfang im Exil zu verdienen.

auswege-schwinden

Die Härte schweizerischer Flüchtlingspolitik

„Begründung: Widerrechtliche Einreise“

Zürich

Die Begründung war kurz und knapp, „Widerrechtliche Einreise“ stand auf dem Polizeibericht, der Kurt Kelman mit einer einjährigen Einreisesperre in die Schweiz und Liechtenstein belegte. Bei Verstoß drohten dem 19-jährigen Studenten aus Wien bis zu sechs Monate Gefängnis und eine hohe Geldstrafe. Kurt Kelman war zuvor von Österreich in die Schweiz eingereist und schließlich von der Zürcher Polizei verhaftet worden. Schon kurz nach dem „Anschluss“ hatte die Schweiz eine Visumspflicht für Österreicher eingeführt. Und in den vorangegangenen Wochen hatte sie ihre bislang schon restriktive Einwanderungspolitik nochmals verschärft: Grenzkontrollen und vermehrte Zurückweisungen an der Grenze wurden Alltag. Besonders hart traf es österreichische Juden wie den Studenten Kurt Kelman. Denn seit dem „Anschluss“ hatten die Nazis den Druck auf Juden, zu emigrieren, enorm erhöht.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt Kelman, AR 11292

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Ein Verräter!

Harsches Urteil über Schuschnigg

„Nach wie vor […] halte ich Schuschnigg für einen Verräter und käme er heute in meine Hände statt in die Hitlers wäre sein Schicksal noch grausamer.“

Paris

„Ein Verräter!“ Der Journalist und Schriftsteller Joseph Bornstein liess keinen Zweifel an seiner Haltung gegenüber dem ehemaligen österreichischen Kanzler Kurt Schnuschnigg aufkommen. Zwar in freundlichen, aber ebenso scharf pointierten Worten machte er seinem Freund Bosch in einem Brief klar, dass Boschs „Glaube an den guten Glauben an Schuschnigg“ komplett falsch sei. Lange noch hatten viele Juden in Österreich Hoffnungen auf Schuschnigg gesesetzt, da er versucht hatte, den Einfluss des nationalsozialistischen Deutschland auf Österreich abzuwehren. Nachdem der Absender dieses Briefes, Joseph Bornstein, 1933 seine deutsche Staatsbürgerschaft verloren hatte, war er nach Paris immigriert. Hier trat er schon bald den intellektuellen Kreisen anderer deutscher Exil-Journalisten und Autoren bei. Er arbeitete erneut gemeinsam mit Leopold Schwarzschild und war bis 1938 als Chefredakteur für das intellektuelle Magazin „Das neue Tagebuch“ tätig.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

Original:

Archivbox 2, Ordner 1

Ma’ayan Tsvi

Makkabi-Bewegung bereitete in Deutschland Gruendungsmitglieder der Siedlung aus

Ma'ayan

Der wachsende Zustrom europäischer Juden auf der Flucht vor den Nazis nach Palästina führte zum Widerstand seitens der palästinensischen Araber: 1936 brach eine bewaffnete Revolte aus. Während dieser Zeit machten sich jüdische Siedler ein Gesetz aus der Zeit des Osmanischen Reiches zunutze, laut dem ein nicht genehmigter Bau nicht abgerissen werden durfte, sobald er ein Dach besaß: Sie errichteten im Schutz der Nacht aus vorgefertigten Teilen einen von einer Palisade umgebenen Zaun, so dass im Fall der Entdeckung durch Beamte der britischen Mandatsmacht nichts dagegen unternommen werden konnte. Gleichzeitig war ein Bau dieser Art sofort verteidigungsfähig gegenüber Angriffen lokaler Araber. Eine dieser Siedlungen war Ma’ayan (später bekannt als Ma’ayan Tsvi), westlich von Sichron Jaakow auf der nördlichen Küstenebene gelegen. Ihre 70 Gründungsmitglieder waren als Mitglieder der Makkabi-Bewegung in Deutschland (und ab 1935 in Palästina selbst) auf das Pionierleben im Lande vorbereitet worden.

QUELLE

Institution:

Courtesy of Kedem Auction House

Original:

Photograph Album – Establishment of Ma'ayan Tzvi Kibbutz

„Illegale“ Einwanderin

Gisella Jellinek wird in Palästina zu Nadja

„Ich gratuliere Dir nachträglich zu Deinem 18. Geburtstage und wünsche Dir, das, was Du Dir wünschst, ein recht langes Leben, Gesundheit, Heldentum, Mut, gute Chawera zu sein und dass Dein Ideal in Erfüllung geht und nicht vergessen (...) recht viel Arbeit.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Unter abenteuerlichen Umständen war Gisella Jellinek im Juni 1938 nach Palästina gelangt. Als Teil einer Gruppe von mehreren hundert Jugendlichen war sie in das Mandatsgebiet eingeschmuggelt worden. Um zu verhindern, von den britischen Mandatsbehörden als illegale Einwanderin aufgespürt zu werden, musste sie sich vom Augenblick des Landgangs in Palästina an die Hebräischkenntnisse zunutze machen, die sie im zionistischen landwirtschaftlichen Ausbildungslager in Österreich erworben hatte. Etwa zwei Monate nach ihrer Ankunft in Palästina wurde Gisella, die sich jetzt Nadja nannte, 18 Jahre alt. In diesem nachträglichen Geburtstagsbrief wünscht ihr ihre Schwester Berta „Heldentum, Mut und eine gute Chawerah (Kibbutz-Mitglied) zu sein“.

Kontakte sind Geld wert

Agnes Graetz nutzt ihr Netzwerk, um ihrer Tochter die Auswanderung in die USA zu ermoeglichen

„Ich bitte Sie, mir, wenn irgend möglich in Kürze zu schreiben, ob Sie eine Möglichkeit sehen, die nicht - wie das jetzt üblich zu sein scheint - unwahrscheinlich hohe Garantien und Rechtsanwaltskosten erfordert.“

Luzern

Eine Krankheit auf Reisen zwang Wilhelm Graetz 1938, seinen Aufenthalt in der Schweiz auszudehnen. Angesichts der sich zuspitzenden Situation entschloss er sich, sein Zuhause in Berlin aufzugeben. Das vormals gut situierte Ehepaar konnte seinen vier erwachsenen Kindern finanziell nicht unter die Arme greifen, hatte aber den Vorteil weit verzweigter Kontakte: Wilhelm Graetz war Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gewesen und kannte als Leiter des deutschen „ORT“ vielerorts potentielle Helfer. Im August führte ihn eine Reise nach Ungarn. Am 27. nutzte seine Frau Agnes die Zeit, bei dem bekannten Territorialisten und „ORT“-Führer David Lvovicz um Hilfe für eine ihrer drei Töchter zu bitten, die dringend eine Bürgschaft brauchte, um nach Amerika auswandern zu können.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung William Graetz, AR 4121

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Neuankömmlinge

Das Boston Committee for Refugees tut, was es kann

„ISAAC BIRNBAUM, Alter 53, Tabak- und Kleiderhändler, spricht überhaupt kein Englisch.“

Boston

Das Boston Committee for Refugees war die erste der amerikanisch-jüdischen Selbsthilfegruppen, die Juden halfen, Europa zu verlassen und in den Vereinigten Staaten ein neues Leben aufzubauen. 1933 gegründet, bestand es ausschließlich aus Freiwilligen. Unter der Führung Walter H. Bieringers und Willy Nordwinds bemühte sich das Committee in erster Linie darum, angehenden Einwanderern Bürgschaften zu verschaffen und für ihre Beschäftigung nach ihrer Ankunft im Land zu sorgen. Seit der Weltwirtschaftskrise war das Außenministerium angehalten, Menschen fernzuhalten, bei denen „die Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie der Öffentlichkeit zur Last fallen” würden, und es war von größter Wichtigkeit, den Lebensunterhalt der Flüchtlinge sicherzustellen. Die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland (der „Anschluss“) und das monumentale Versagen der Konferenz von Évian verstärkten die Dringlichkeit der Unterstützung der verzweifelten Asylsuchenden. Am 26. August 1938 schickte der amtierende Geschäftsführer der Organisation Bieringer diese Liste von Neuankömmlingen, die der Vermittlung bedurften.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 38

Not macht erfinderisch

Intellektuelle planen Wohnkolonie in USA für arbeitslose jüdische Ärzte

„Sie wissen, dass wir alle vom 1. Oktober an nicht mehr Ärzte sind; die deutsche Approbation ist allen unseres Glaubens entzogen. Es gibt natürlich eine Menge, die dann nicht wissen, wovon zu leben und auch hier nicht weiter leben können.“

BERLIN/NEW YORK

Die Existenzkrise jüdischer Ärzte in Deutschland, die verschiedene Stadien (Ausschluss aus dem öffentlichen Gesundheitswesen und aus Krankenkassen, Verbot der Zusammenarbeit zwischen jüdischen und „arischen“ Ärzten etc.) durchlaufen hatte und durch das Berufsverbot im Juli 1938 eskalierte, machte schöpferische Lösungsansätze erforderlich. Am 25. August schrieb Dr. Felix Pinkus, ein renommierter Berliner Dermatologe, an seinen Freund Sulzberger in Amerika, um ihn als Mitstreiter für ein Hilfsprojekt zu gewinnen: Der Soziologe und Nationalökonom Franz Oppenheimer war darauf gekommen, in den Vereinigten Staaten eine Art Wohnkolonie für ehemalige Ärzte einzurichten, deren Finanzierung durch Spenden amerikanisch-jüdischer Ärzte bestritten werden sollte. Laut Oppenheimers Berechnungen wäre damit zu rechnen, dass etwa 1000 Ärzte diese Lösung in Anspruch nehmen würden. (Dr. Pinkus schätzte, es wären eher 3000.)

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Felix Pinkus Familie, AR 25456

Original:

Archivbox 1, Ordner 41

Neues von den Kleinman(n)s

Kurt in der Schweiz, Schwester und Schwager mögen folgen

„Mein jüdischer Name ist Elke, und da ich Jiddisch spreche und Du Deutsch, sollten wir einander sehr gut verstehen können.“

NEW YORK/BASEL

Der Wiener Kurt Kleinmann und die New Yorkerin Helen Kleinman waren einander nie persönlich begegnet. Nachdem Kurt die kreative Idee hatte, eine Familie ähnlichen Namens in New York zu kontaktieren, in der Hoffnung, die amerikanischen Namensvettern wären vielleicht bereit, ihm bei der Beschaffung einer Bürgschaft behilflich zu sein, entwickelte sich eine zunehmend intensive Korrespondenz zwischen dem jungen Mann und der Tochter der Kleinmans. Helen nahm die Angelegenheit entschlossen in die Hand: Drei Monate nach Kurts erster Kontaktaufnahme mit den Kleinmans, als Helen diesen Brief schrieb, war nicht nur Kurts Auswanderung in Bearbeitung. Sie hatte auch eine Tante aktiviert, für seinen Cousin eine Bürgschaft zu übernehmen, mit dem ihm in der Zwischenzeit die Flucht in die Schweiz gelungen war. Außerdem bestand Hoffnung, dass eine andere Tante dasselbe für Kurts Schwester und Schwager tun würde, die noch in Wien festsaßen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt und Helen Klenmann, AR 10738

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Zugzwang

Joachim Weinert erlebt Drängen und Warten im Kampf mit der Bürokratie

„Ich behalte mir strafrechtliche Maßnahmen gemäß § 33 Dev.V.O. vor und setze ihnen zur Erledigung eine Frist von 3 Tagen.“

WIEN

Innerhalb der ersten Monate nach der Annexion Österreichs durch die Nazis hatte Dr. Joachim Weichert, ein in der Tschechoslowakei geborener Rechtsanwalt, den größten Teil seiner Klienten verloren. Er hatte keine Wahl, als mit der Zusammenstellung der für die Emigration notwendigen Dokumente zu beginnen. Im Juni wurde die Familie vom Generalkonsulat der Vereinigten Staaten benachrichtigt, gültige Bürgschaften und andere Dokumente für sie seien für sie aus Amerika eingetroffen. Da jedoch die tschechische Quote für den Augenblick erschöpft war, wurden sie auf eine Warteliste gesetzt. Außerdem wurde ihnen Mitteilung gemacht, dass innerhalb der nächsten acht Monate nicht mit dem Erhalt der Visen zu rechnen sei. Am 22. August war es fast zwei Wochen her, dass Dr. Weichert von der Devisenstelle in Wien aufgefordert worden war, innerhalb einer Woche eine detaillierte Liste seines Besitzes aufzustellen. In dieser offiziellen Mitteilung vom 22. August wird ihm ein Ultimatum von drei Tagen gestellt, nach dessen Ablauf er mit strafrechtlichen Massnahmen rechnen müsse.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Weichert Familie, AR 25558

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Tagesgeschehen zum 18. Geburtstag

Hugo Jellinek gratuliert seiner Tochter und kommentiert die aktuellen Entwicklungen

„Böhmen ist eine harte Nuss, an der sich diese Räuberbande die Zähne ausbrechen werden [sic] oder sagen wir eine Buchtel, an der diese wahnsinnig gewordenen Teufel ersticken werden. Trotz der vielen hiesigen deutschen Hochverräter ist [sic] Regierung und Volk einig in dem unerschütterlichen Willen, die Freiheit und demokratischen Errungenschaften bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Hugo Jellinek war stolz auf seine Tochter Gisella, die während der Hachschara zu einer glühenden Zionistin geworden und wenige Monate zuvor als Teil einer Gruppe wagemutiger Jugendlicher nach Palästina eingewandert war. Zum 18. Geburtstag schickte er seiner erstgeborenen Tochter nicht nur Glückwunsche, sondern ließ sie auch ausführlich an seinen Gedanken zum Tagesgeschehen teilhaben: Deutsche Manöver entlang der tschechoslowakischen Grenze beunruhigten ihn sehr, doch er war überzeugt, anders als im Fall Österreichs würde die Wehrmacht mit scharfem Widerstand zu rechnen haben. Das Misstrauen und der Mangel an Solidarität wohlhabender Brünner Juden gegenüber jüdischen Flüchtlingen erfüllten ihn mit Bitterkeit. Auch war er sehr besorgt wegen der Räumungsbescheide, die bei österreichischen Juden eingingen. Bei allen Sorgen und Klagen verschaffte eine neue Damenbekanntschaft einen Lichtblick.

Nach Haifa? Nicht jetzt.

Onkel Alfred rät Neffen ab von Besuch

„Der Zeitpunkt, zu dem wir hierherkommen sollen, wird nach meiner Auffassung von weit höherer Seite bestimmt, das Schicksal wird uns zeigen, wenn wir hierherkommen sollen. Ich habe noch niemals so viele unglückliche Menschen in einem Land konzentriert gesehen, wie hier.“

Haifa/Meran

Nach sechs Jahren in Palästina war Alfred Hirschs Urteil eindeutig: Angesichts der politischen, klimatischen und wirtschaftlichen Struktur des Landes könnten selbst ausgesprochen intelligente, ausdauernde Menschen nicht viel erreichen. Bei seinem Versuch, seinem Neffen Ulli das Kommen auszureden, nahm er kein Blatt vor den Mund. Im sehr säkularen Haifa ansässig, war Alfred Hirsch überzeugt, für einen jungen orthodoxen Juden wie Ulli wäre das Leben in Palästina zum gegenwärtigen historischen Zeitpunkt eine große Enttäuschung. Zwischen der Atmosphäre, die durch das kollektive Elend einer großen Anzahl entwurzelter, bedrückter Menschen erzeugt wurde und den politischen Unruhen, die ernsthafte wirtschaftliche Probleme hervorriefen, erschien Onkel Alfred der Zeitpunkt nicht richtig. (Mit politischer Unruhe gemeint sind der Arabische Aufstand in Reaktion auf den massiven Zustrom europäischer Juden und die Aussicht auf die Errichtung einer Nationalen Heimstätte für die Juden, wie durch die Balfour-Erklärung 1917 vereinbart.)

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Julius und Elisabeth Hirsch, AR 25585

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Selbst ist die Frau

Eine unabhängige Unternehmerin muss um Hilfe bitten

„Ich glaube, ich schreibe an die Kinder von Emanuel und Victoria Magen, und ich flehe Euch an, uns zu helfen, nach Amerika zu kommen.“ ”

Berlin

Die Berlinerin Gusty Bendheim hatte den amerikanischen Zweig ihrer Familie nie kennengelernt. 42 Jahre alt und geschieden, hatte sie keine andere Wahl, als sich an ihre Verwandten in Übersee zu wenden. Sie bat die quasi Fremden um Hilfe, ihr und ihren Kindern Ralph (13) und Margot (17) die Auswanderung zu ermöglichen. Gusty war ein unternehmerischer Typ: Zum Zeitpunkt ihrer Heirat mit Arthur Bendheim, einem Kaufmann aus Frankfurt am Main, hatte sie bereits das dritte Knopfgeschäft gegründet. Nach der Hochzeit übernahm Arthur die Geschäftsleitung, und Gusty wurde zur Hausfrau. Trotz der zunehmend besorgniserregenden anti-jüdischen Maßnahmen des Naziregimes war Arthur nicht gewillt, das Land zu verlassen. Nach der Scheidung des Paares 1937 nahm Gusty die Dinge selbst in die Hand: In diesem Brief vom 14. August 1938 an ihre unbekannten Verwandten ergänzt sie ihre Bitte um Hilfe durch die Versicherung, ihr geschiedener Mann sei bereit, die Reisekosten für sie und die Kinder in die Vereinigten Staaten zu übernehmen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Margot Friedlander, AR 11397

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Ellis Levy, Anwalt der Einwanderer

New Yorker Jurist baut Bildungsbrücke für Flüchtlinge

„Ich glaube nun, dass ihre Zulassung zu den Colleges der Stadt New York nicht nur einen Akt der Güte darstellen, sondern gleichzeitig auch einen Schritt in der gebotenen Richtung bedeuten würde, den Leuten zu helfen, nützliche und gebildete Mitglieder unserer Demokratie zu werden.“

NEW YORK

Ellis Levy, ein jüdischer Jurist, der in New York lebte, beschloss, sich die Sache der Einwanderer zu eigen zu machen, die vor der Verfolgung durch die Nazis flohen. In einem Brief an Bürgermeister LaGuardia, der auszugsweise in der August-Ausgabe des „Aufbau“ veröffentlicht wurde, wies er darauf hin, dass viele der Neuankömmlige vollkommen mittellos ins Land kämen, in vielen Fällen, nachdem sie zum Abbruch ihres Studiums oder ihrer Berufsausbildung gezwungen worden seien. Kurz später sollte vor dem „Ausschuss für Höhere Bildung“ eine Gesetzesvorlage eingebracht werden, in der es um die Möglichkeit der Öffnung städtischer Colleges in New York für Nicht-Staatsbürger ging. Der Jurist bat Bürgermeister LaGuardia, seinen Einfluss auf den Ausschuss geltend zu machen, um eine positive Entscheidung zu bewirken. Dies, so argumentierte er, würde sowohl den Bedürfnissen der Einwanderer als auch dem Interesse der Demokratie in den Vereinigten Staaten entgegenkommen. Tatsächlich wurde beschlossen, mit Wirkung vom 1. September des laufenden Jahres ernsthaften Anwärtern auf US-Staatsbürgerschaft mit angemessener Vorbildung ein solches Studium zu ermöglichen.

Einzelhachscharah in England

Die 17-jährige Marianne leidet allein in der Fremde

„Jetzt zu dem Punkt, der Dir momentan am wichtigsten ist. Papi hat Dir ja schon seine Ansicht geschrieben, es ist uns sehr darum zu tun, dass Du in England bleibst und so leid Du uns tust, dass Du Dich doch irgendwie durchfressen musst.“

Teplitz

Im Juli 1938 reiste die 17jährige Marianne Pollak ganz allein von Teplitz (Tschechoslowakei) nach England. Nicht an das dortige Klima gewöhnt, holte sich das junge Mädchen Rheuma und war rundherum in elender Verfassung. Alle paar Tage erhielt sie von ihrer Mutter fürsorgliche, liebevolle Briefe. Während Mariannes unglückliche Situation sie eindeutig bedrückte, führten ihr Frau Pollak und ihr Mann vor Augen, wie wichtig es sei, dass sie in England bleibe. Anscheinend war Marianne auf Einzelhachscharah, d.h., sie eignete sich Fähigkeiten an, die sie auf das Pionierleben in Palästina vorbereiten sollten. In Osteuropa hatte die Pionierbewegung „HeChaluz“ bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts zukünftigen Siedlern Schulungskurse angeboten. Eine deutsche Zweigstelle wurde 1923 eröffnet, aber die Bewegung gewann in Westeuropa erst während der Weltwirtschaftskrise an Boden und erlangte ihre größte Reichweite während der Jahre der Verfolgung durch die Nazis. Anstatt sich auf Lehrhöfen kollektiv vorbereiten zu lassen, konnten die jungen Leute ihre Ausbildung auch individuell bekommen, was bei Marianne der Fall gewesen zu sein scheint.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung John Peters Pinkus, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 22

Alfred Döblin im Exil

Als französischer Staatsbürger feiert der Schriftsteller seinen 60. Geburtstag

Paris

Knapp einen Monat nach dem Zusammenbruch der Weimarer Republik, einer „Demokratie ohne Gebrauchsanweisung“, wie er sie in „Der deutsche Maskenball“ nannte, und einen Tag nach dem Reichstagsbrand hatte der Schriftsteller und Sozialdemokrat Alfred Döblin Deutschland verlassen. Nach kurzem Intermezzo in der Schweiz war er im September 1933 mit seiner Frau und seinen drei Söhnen nach Paris gezogen. Gelegentliche Publikationen im deutschsprachigen Exil-Verlag Querido (Amsterdam) warfen minimalen finanziellen Gewinn ab, und Döblins mangelnde Französischkenntnisse standen seinem beruflichen Fußfassen erheblich im Wege. Seit 1936 waren die Döblins französische Staatsbürger. Der 10. August 1938 war der 60. Geburtstag des Autors.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Porträt von Alfred Döblin

Original:

F 2087A

Fluchtplanung mit touristischem Abstecher

Ein Reisebüro aus New York hilft Ursula Meseritz bei ihrer Reise in die USA

„Im Anschluss an ihren heutigen Besuch in unserem Bureau gestatten wir uns, Ihnen nachstehend Reiseplan und Abrechnung zu übersenden.“

New York

Als einziges Mitglied ihrer Familie hatte die 18jährige Ursula Meseritz Deutschland im Juli verlassen und sich auf der R.N.S. „Britannic“ von Le Havre aus nach New York eingeschifft. Adolf Floersheim, ein ehemaliger Nachbar, der seit 1937 in den Vereinigten Staaten ansässig war, hatte die Bürgschaft übernommen. Ihre Eltern, Olga und Fritz Meseritz, die die Ausreise in die Wege geleitet hatten, blieben in Hamburg zurück. Ein offenbar von deutsch-jüdischen Einwanderern geführtes Reisebüro, Plaut Travel auf der Madison Avenue in New York, hatte die Route für Ursulas Weiterreise an die Westküste – mit einem touristischen Abstecher in die Hauptstadt – ausgearbeitet und am 8. August an sie abgeschickt.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Ursula Meseritz Elgart Familie, AR 25544

Original:

Archivbox 1, Ordner 14

Wir sehen uns in Genf

Mit neuen Rassengesetzen ist Rom keine Option mehr für Anneliese

„Bitte schreib mir nur nach Genf, wann wir uns sehen können. Ich freue mich schon sehr auf unser Wiedersehen.“

Biel/Villars-sur-Ollon

Bis 1933 spielte ihre jüdische Identität kaum eine Rolle im Leben von Anneliese Riess, einer vollkommen säkularen Studentin der klassischen Archäologie. Sobald jedoch die Nazis an die Macht kamen, war ihr klar, dass sie als Jüdin in Deutschland keine Zukunft hatte. Sie entschloss sich, nach Italien auszuwandern, wo sie promovierte (Rom, 1936). Da die Chancen, in Italien in ihrem Bereich Arbeit zu finden, äußerst gering waren, belegte die junge Frau 1937 einen anspruchsvollen Kurs für Kinderpflegerinnen in Genf. Nach einer Operation im Juni 1938 verbrachte sie mehrere Monate in Villars-sur-Ollon. Im Juli wurde in Italien das Generaldirektorium für Demographie und Rasse eingerichtet, das damit beauftragt war, die Rassengesetze des Landes zu formulieren. Somit fiel Rom als möglicher Zufluchtsort weg. Im selben Monat war der Vater in Amerika angekommen und bemühte sich nun, auch ihr die Einwanderung zu ermöglichen. Diese Postkarte, datiert vom 7. August und an Anneliese in Villars adressiert, war erfrischend frei von jedem Bezug auf die prekären Entwicklungen in Europa und verschaffte ihr die willkommene Aussicht auf ein Wiedersehen mit einem Freund inmitten aller Unsicherheit.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Anneliese Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, Ordner 9

Wartenummer

Helina Mayer ist auf Platz 9443 der Warteliste für einen Termin im US-amerikanischen Konsulat

„Sie sind unter der Nummer 9443 in der Warteliste der Visumantragsteller [sic] eingetragen und sollten jede Adresseänderung [sic] prompt mitteilen.“

Stuttgart

Juden waren bei Weitem nicht die einzigen „Unerwünschten“, die mit dem US-Einwanderungsgesetz von 1924 aus dem Land ferngehalten werden sollten. Zum Zeitpunkt der Einführung des Gesetzes waren bereits seit einem halben Jahrhundert Bemühungen im Gang, gewisse Nationalitäten auszuschließen, besonders Chinesen, Japaner und andere Asiaten. Anfang der zwanziger Jahre wurde ein Quotensystem eingeführt, das Einwanderer aus Nordeuropa begünstigte. Trotz der schweren Flüchtlingskrise, die durch die Verfolgung der Juden durch Nazi-Deutschland ausgelöst wurde, erfuhr das System in den dreißiger Jahren keine Anpassung an die dramatischen Umstände. Selbst für Angehörige der bevorzugten Ursprungsländer war die Erfüllung aller bürokratischen Voraussetzungen höchst beschwerlich, und das Warten konnte demoralisierend sein. Wie durch diese vom Generalkonsulat der Vereinigten Staaten in Stuttgart an Helina Mayer aus Mainz ausgestellte Karte dokumentiert, konnten die Antragsteller erwarten, gemäß ihrer Wartenummer zu einer Untersuchung vorgeladen zu werden, gesetzt den Fall, sie hatten „zufriedenstellende Beweise“ vorgelegt, dass ihr Lebensunterhalt in den Vereinigten Staaten gesichert sei.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Joan Salomon Familie, AR 25380

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Faschismus in Amerika?

Jüdische Einwanderer warnen vor der Zerbrechlichkeit der Demokratie

„Aus dem hier Dargelegten ergibt sich für uns jüdische Einwanderer, die wir den Faschismus am eigenen Leib erfahren haben, dass wir alle Kräfte anspannen müssen, um den Fortbestand der USA als eines demokratischen Staatswesens zu sichern. Auch hier sind einflussreiche Gruppen am Werk, die Errungenschaften der Demokratie zu untergraben.“

NEW YORK

In der August-Ausgabe des Aufbau bekam eine Gruppe nicht näher identifizierter junger Einwanderer Gelegenheit, zum Schutz und zur Aktivierung der Demokratie in den Vereinigten Staaten aufzurufen: Laut ihrer Auffassung waren es durch ungezügelte Aufrüstung entstandene Wirtschaftskrisen in den faschistisch regierten Ländern Europas, die diesen in ihren eigenen Augen die Legitimation zur Konfiszierung jüdischen Vermögens verschafften. Während die Gruppe die Großzügigkeit der Administration und ihre Bereitschaft zu sozialen Reformen zum Nutzen der vor dem Faschismus Geflohenen lobte, warnte sie vor den reaktionären Kräften, die diese Politik angriffen und ihren Versuchen, die Demokratie in den Vereinigten Staaten zu untergraben. Die Redaktionsleitung achtete darauf, sich von der Position der Gruppe hinsichtlich der Rolle der Wirtschaft in der Geschichte zu distanzieren, erklärte aber dennoch, ihr gern den Raum zu geben, vor der aus Einwanderern bestehenden Leserschaft der Zeitung ihre Bedenken auszubreiten.

Nach sieben Tagen, Kanada

Anton Felix Perl erhält erzbischöfliche Hilfe

Stempel für zivile Begutachtung

Quebec

In den Augen der Nazis machte die Tatsache, dass die Eltern Anton Felix Perls zum Katholizismus übergetreten waren und er als Säugling getauft worden war, ihn nicht weniger jüdisch. Nach dem Besuch einer katholischen Schule in Wien, des Schottengymnasiums, studierte er Medizin und machte 1936 seinen Abschluss. Nach zwei Jahren als Assistenzarzt im Allgemeinen Krankenhaus wurde er aus „rassischen“ Gründen entlassen. In dieser spannungsreichen Situation trat Dr. Perl mit führenden katholischen Geistlichen in Kanada in Verbindung. Mit Hilfe der Erzbischöfe von Winnipeg und Regina wurde seine Einwanderung in die Wege geleitet. Nach einer sieben Tage langen Reise erreichte er Kanada und erhielt am 29. Juli 1938 den Stempel für zivile Begutachtung von den Einwanderungsbehörden in Quebec. Kanadas Einwanderungspolitik war extrem restriktiv, besonders gegenüber Menschen, die aus religiösen oder „rassischen“ Gründen verfolgt wurden. Diesmal erwies sich Dr. Perls Taufschein doch noch als hilfreich.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Perl Familie Sammlung, AR 25190

Original:

Archivox 1, Ordner 1

Évian enttäuscht

Keine Zugeständnisse seitens der internationalen Gemeinschaft

„Wie immer sind wir Juden lediglich Objekte, nirgends gleichberechtigte Partner. Das festzustellen, ist am 34. Jahrzeittage Theodor Herzls besonders schmerzlich, aber die Tatsache, dass in Évian an 40 jüdische Organisationen als Zaungäste aufmarschiert waren, kennzeichnet zur Genüge, wie wenig auch wir Juden - sogar in den Fragen unserer eigenen Existenz als Volk - Fortschritte gemacht haben.“

Évian-les-Bains

Nach dem „Anschluss“ wurde das Problem der Flüchtlinge aus Deutschland noch dringender. Um das Thema in Angriff zu nehmen, rief US-Präsident Franklin D. Roosevelt zu einer internationalen Konferenz auf, die im Juli 1938 in Évian gehalten werden sollte. Die Konferenz wurde von der jüdischen Öffentlichkeit in Deutschland mit großen Hoffnungen erwartet, doch infolge der Weigerung der internationalen Gemeinschaft, die Einwanderungsquoten den tatsächlichen Bedürfnissen anzupassen, war der Effekt von Évian äußerst begrenzt. Dennoch versuchte das Jüdische Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen, positive Resultate zu präsentieren, indem es beispielsweise auf die Bereitschaft einiger südamerikanischer Länder hinwies, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Ungeachtet des spürbaren Versuchs, die Hoffnung nicht aufzugeben, zeugt der unterschwellige Ton dieses Leitartikels in der Ausgabe des Jüdischen Gemeindeblatts vom 23. Juli nicht von übermäßigem Optimismus.

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