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Wovon wird er in Amerika leben?

Ein Flüchtling ohne Englischkenntnisse und mit wenig Fachkönnen braucht Hilfe bei der Arbeitssuche

„Wir brauchen nicht darauf hinzuweisen, dass Herr Raskin bereits über das Alter hinaus ist, in dem hier Geborene Schwierigkeiten bei der Suche nach einer neuen Tätigkeit auf Schwierigkeiten stoßen. Herr Raskin spricht kaum Englisch. Er beherrscht kein Handwerk. Seine Erfahrung als Bonbonverkäufer ist bei Bewerbung um eine Stelle nicht besonders hilfreich.“

New York/Boston

Seit Anfang der 1880er Jahre schloss das Einwanderungsgesetz der Vereinigten Staaten eine Klausel ein, die darauf abzielte, Menschen fernzuhalten, bei denen die Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie der Öffentlichkeit zur Last fallen würden. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise bestätigte Präsident Hoover 1930 die Sperre. Hilfsorganisationen hatten es schwer, den Neuankömmlingen Arbeitsplätze zu verschaffen: am 26. Oktober schildert ein Mitarbeiter des Employment Department of the Greater New York Coordinating Committee for German Refugees Willy Nordwind vom Boston Committee for Refugees die Schwierigkeiten bei der Suche nach Arbeit für einen Mann, der es geschafft hatte, ins Land zu kommen, aber kaum Englisch sprach und außer seiner Tätigkeit als Bonbonverkäufer keine Arbeitserfahrung aufzuweisen hatte. Dennoch verspricht der Mitarbeiter, sich weiterhin um die Belange des Einwanderers zu bemühen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 26

Jahreschronik 1938

Die „Polenaktion“

Eine fotographische Momentaufnahme der Polenaktion.

Ende Oktober weisen die Nationalsozialisten etwa 17.000 polnische Juden aus dem Deutschen Reich aus. Die als „Polenaktion“ bezeichnete Massenabschiebung markiert den bisherigen Höhepunkt der Diskriminierungen der Nazis gegenüber den Juden. Das polnische Parlament hatte im März und Oktober Gesetze erlassen, die die Pässe von im Ausland lebenden jüdischen Polen schwächten. Unter anderem sollten im Ausland ausgestellte Pässe zum 30. Oktober nicht mehr zur Einreise nach Polen befugen, sofern sie nicht einen Prüfvermerk des polnischen Konsulats trugen. Die polnische Regierung wollte so eine Masseneinwanderung von polnischen Juden aus dem Deutschen Reich nach Polen verhindern. Als die Deutsche Botschaft in Warschau davon erfuhr, veranlassten die Nazis die „Polenaktion” binnen weniger Tage.

Zur Jahreschronik 1938

Diskriminierung von Mischehen

Entlassung nach 25 Dienstjahren

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BERLIN

Der schwer kriegsversehrte Berliner Kriminalpolizei-Angestellte Ernst Patzer verlor im März 1938 seine Stellung. Der Grund dafür war das 1937 erlassene Deutsche Beamtengesetz, das „jüdisch Versippten“ die Arbeit im Staatsdienst verbot – und Patzer war seit 1925 mit einer deutschen Jüdin verheiratet. Dieser weitere Schritt des NS-Regimes, Juden und ihre Angehörigen aus allen Bereichen des Lebens zu verdrängen, traf das Ehepaar Patzer sehr hart: Er war Alleinverdiener und verlor nach 25 Dienstjahren nicht nur seine Stellung, sondern auch alle Pensionsansprüche. Dieses Schreiben vom 24. Oktober 1938 zeigt, wie Ernst Patzer Schritt für Schritt von öffentlicher Teilhabe ausgeschlossen wurde. Vergebens schrieb er als ehemaliger Frontsoldat an Hitler und Göring, um eine Weiterbeschäftigung in einer Behörde zu erwirken. Die Ehe blieb bestehen und er fand schließlich Arbeit als Rechnungsprüfer bei der Firma AEG. Den Nationalsozialismus hat das Ehepaar Patzer überlebt.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Sammlung:

Inv.Nr. Do 89/102II

Widerstand von Juden im Exil

In the United States, Toni Sender warns of the dangers of National Socialism

BERLIN

Toni Sender ist seit 1920 SPD-Reichstagsabgeordnete in der Weimarer Republik. Sie bezieht bereits früh Stellung gegen den Nationalsozialismus und warnt vor den Gefahren für die Demokratie. Weil sie als Sozialdemokratin und Jüdin von den Nationalsozialisten angefeindet und bedroht wird, flüchtet sie im März 1933 erst in die Tschechoslowakei, dann nach Belgien, wo sie ihren Kampf gegen das NS-Regime im Exil fortsetzt. 1935 emigriert sie in die USA. Als Rednerin und Journalistin versucht sie auch dort, das Ausland über den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus aufzuklären. Wie das Schreiben der Gestapo an den Ermittlungsrichter des Volksgerichtshofs vom 22. Oktober 1938 belegt, bleibt ihr Widerstand nicht unbemerkt.

QUELLE

Institution:

Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Original:

Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde; R3018 NJ-15413

Das Ende eines Familienbetriebes

Das Ende eines Familienbetriebs nach drei Generationen

„Pucki hat seine Tätigkeit in der Fabrik beendet. Ich folge in den nächsten Tagen nach. Mein Privatleben wird aber durch Kochen und Plätten zu Hause wohl auch ganz ausgefüllt sein.“

Neustadt, Oberschlesien/Brünn

Hans Joseph Pinkus‘ Urgroßvater hatte im 19. Jahrhundert in die Familie Fränkel in Neustadt, Oberschlesien, eingeheiratet. Mit vereinten Kräften betrieben die zwei Familien die Firma „S. Fränkel“, eine erfolgreiche Textilfabrik, die zu einem der größten Leinenproduzenten der Welt wurde. Unter gewöhnliche Umständen wäre Hans Joseph wohl den drei Generationen männlicher Vorfahren gefolgt und hätte die Geschicke der Firma gelenkt, aber er war erst 16 Jahre alt und im Internat, als diese „arisiert“ wurde: am 20. Oktober 1938 ließ ihn seine Stiefmutter Lili wissen, sein Vater stünde kurz davor, seinen Posten zu verlassen und sie würde es ihm in Kürze nachtun. Sie ließ nicht durchblicken, ob „Kochen und Plätten zu Hause“ eine attraktive Alternative für sie darstellte und behielt ihre Gefühle für sich.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung John Peters Pinkus Domuenten, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 16

Es kommt noch schlimmer

Nach dem Tod ihres Mannes ist die Sängerin Amalia Carneri gezwungen, ihren Besitz zu verkaufen, und bei fremden Menschen einzuziehen.

Wien/New York

Amalia Carneri hatte bessere Tage gesehen: einst eine gefeierte Opern- und Konzertsängerin, musste sie nun gleichzeitig mit dem Tod ihres Ehemanns, des Mineninspektors Heinrich Pollak, der Notwendigkeit, das langjährige Zuhause der Familie in Wien aufzugeben und der Besorgnis erregenden politischen Situation fertig werden. In diesem Brief vom 19. Oktober 1938 an den älteren ihrer beiden Söhne, Fritz, der nach Amerika geflohen war, beschreibt sie in großem Detail ihre Schwierigkeiten beim Verkauf ihres Besitzes: selbst mit der Unterstützung eines wohl etwas unseriösen Helfers muss sie unter Wert verkaufen. Ungewiss, was sie an Witwenpension zu erwarten hat und mit nur einer vagen Hoffnung, sich eines Tages Fritz in Amerika anzuschließen, ist sie in einem Zustand spürbarer Unruhe, und ihre Söhne sind ihr einziger Trost.

QUELLE

Institution:

Courtesy of Nancy Polk, Woodbridge, Connecticut

Original:

Brief von Amalia Cameri an ihrem Sohn, Fritz Pollak

Fluch der Bürokratie

Warten auf ein "Kapitalistenzertifikat"

„Zur Zeit gibt es überhaupt keinen Vorzugs-Zertifikatstransfer. Auf dem letzten Vorzugstransfer sind im ganzen 27 Familien nach Palästina hereingekommen. Eine neue Transfertranche soll im Winter aufgelegt werden, aber man wird nicht damit rechnen können, dass Ledige dabei irgendwie berücksichtigt werden können, insbesondere, wenn sie sich schon im Ausland aufhalten.“

Konstanz/Zürich

Nach seinem Studium in Deutschland war Dr. Herbert Mansbach, ein junger Zahnarzt aus Mannheim, in die Schweiz gegangen, um zu promovieren und sich auf Kieferorthopädie zu spezialisieren. Dies, so glaubte er, war eine gesuchte Fähigkeit in Palästina, wohin er auszuwandern hoffte. Die Einwanderung nach Palästina war jedoch durch die Briten erheblichen Einschränkungen unterworfen: Dr. Mansbachs Freund Alfred Rothschild, ein Justizrat im Ruhestand, teilte ihm mit, es seien zur Zeit keine Vorzugs-Einwanderungszertifikate zu haben und das Zulassungsverfahren für ein „Kapitalistenzertifikat“ (eine Art von Zertifikat, dessen Vergabe davon abhängig war, ob der Antragsteller den Besitz von mindestens £1000 nachweisen konnte und keiner Quotierung unterlag) liefe noch. Die Angelegenheit war sehr dringend, denn Mitte Oktober war Dr. Mansbachs Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz abgelaufen. Rothschild rechnete damit, dass falls der Antrag auf ein gewöhnliches Zertifikat erfolgreich sein würde, die Schweizer Behörden seinem Freund gestatten würden, einstweilen im Land zu bleiben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herbert Joseph Mansbach, AR 7073

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Neues Unternehmen, altes Netzwerk

Was bedeutet Auswanderung für einen Unternehmer?

„Erlauben Sie mir im Bezug auf meine Bürgschaft noch auszuführen, dass ich mein jährliches Einkommen nicht angegeben habe, weil die Hochhauser Leather Co Inc. erst vor kurzer Zeit gegründet wurde.“

NEW YORK/WIEN

In Wien war Hans Hochhauser gemeinsam mit seinem Bruder erfolgreicher Inhaber eines Ledermanufaktur- und Exportunternehmens gewesen. Doch bereits einen Tag nach dem „Anschluss“ hatte er alle Zelte abgebrochen und war mit seiner Frau Greta und seiner Tochter Ilse auf abenteuerlichem Wege aus Österreich geflohen: abgewiesen an der tschechischen Grenze, gelangte die Familie mit dem Zug in die Schweiz und von dort mit einem gecharterten Flugzeug nach England, von wo aus sie schließlich ihren Weg in die Vereinigten Staaten fand. In New York angekommen, musste Hans Hochhauser von vorn beginnen: seine neue Firma hieß „Hochhauser Leather Co Inc.“ In einem Schreiben an das amerikanische Generalkonsulat in Wien vom 14. Oktober 1938, mit dem er eine Bürgschaft für seinen Cousin Arthur Plowitz übermittelte, wies er darauf hin, dass er mit seiner neuen Firma zwar noch am Anfang stehe, aber auf große Teile seines alten Handelsnetzwerks zurückgreifen könne.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Hans und Grete Hochhauser, AR 12070

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Vom Arzt zum „Krankenbehandler“

Diskriminierende Vorschriften für jüdische Ärzte

Die NS-Behörden nannten jüdische Ärzte fortan nur noch “Krankenbehandler” und zwangen sie, ihre Praxisschilder klar zu kennzeichnen.

BERLIN

3 ½ cm soll die Dreieckshöhe des Davidssterns betragen, den jüdische „Krankenbehandler“ künftig an ihrem Praxisschild anzubringen haben. Die Vorgaben im Schreiben der Berliner Reichsärztekammer vom 12. Oktober 1938 sind peinlich genau – und sie hören nicht bei Milimeterangaben auf: „Himmelblau“ solle die Hintergrundfarbe des Schildes sein, der Davidstern in der linken oberen Ecke die Farbe „zitronengelb“ haben. Mit dem 30. September war laut Reichsbürgergesetz die Approbation jüdischer Arzte erloschen; wenigen nur wurde erlaubt, als „Behandler“ ausschließlich jüdischer Patienten weiter zu praktizieren. Dass die Gängelung ihren Höhepunkt jedoch noch nicht erreicht hat, deuten die Verfasser dieses Schreibens ebenfalls noch an: um den Forderungen des „Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen“ (Inkrafttreten 1. Januar 1939) Rechnung zu tragen, sei es ratsam, seinen Namen auf dem Praxisschild doch am besten schon jetzt mit „Israel“ oder „Sara“ ergänzen – so könne man spätere Unkosten vermeiden.

 

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Sammlung:

Rundschreiben der Reichsärztekammer über die Bestimmungen für "Jüdische Behandler", Sammlung Familie Hirschberg

Zurückgewiesen

Keine Einreisegenehmigung für Anneliese Riess

GENF/TURIN

Eigentlich war Anneliese Riess Archäologin. Doch nach ihrer Promotion in Rom im November 1936 hatte sie als Ausländerin keine Chance, in ihrem Traumberuf angestellt zu werden. 1937 absolvierte sie daher in Genf einen Kurs als Kinderschwester und kehrte dann nach Rom zurück. Als die faschistische Regierung in Italien im Herbst 1938 ausländische Juden aufforderte, innerhalb eines halben Jahres das Land zu verlassen, erklärte sich die Schwesternschule in Genf bereit, Anneliese bis zur Ankunft ihres Visums für die Vereinigten Staaten als Praktikantin aufzunehmen. Aufgrund der fremdenfeindlichen und antisemitischen Einwanderungspolitik der Schweiz verweigerte man der jungen Frau jedoch die Einreise. In einem Brief der Schule vom 10. Oktober wurde ihr mitgeteilt, Fälle dieser Art seien unter den Schülerinnen derartig häufig, dass sich die Leiterin der Schule, Frl. Borsinger, ihr nicht zu einer Aufenthaltsgenehmigung verhelfen könne. Sie habe aber ein Schreiben an das Konsulat beigelegt, das bestätige, Anneliese Riess werde dringend in der Krankenpflegeschule erwartet – allerdings als Schülerin. Dies, so schrieb man, sei die einzige Möglichkeit für sie, ins Land gelassen zu werden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Annelise Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Endlich Antwort!

Wichtige Kommunikationsnetze

„Zu meiner unendlichen Erleichterung habe ich eben Deine Karten vom 30. September und 2. Oktober erhalten. Besten Dank! Ich bin sehr froh, dass du wohl und munter bist.“

Neustadt, Oberschlesien/Brünn

Wie wichtig der persönliche Briefverkehr für eine Familie sein konnte, die ganz verstreut lebte, zeigt die Korrespondenz zwischen Lili Pinkus und ihren Verwandten. So hielt sie etwa mit wöchentlichen Briefen den Kontakt zu ihrem 16-jährigen Stiefsohn Hans Joseph, genannt Pippo, aufrecht, der eine Schule in ihrem Heimatort Brünn in der Tschechoslowakei besuchte. Die gleiche Regelmäßigkeit erwartete sie im Gegenzug allerdings auch von ihrem Stiefsohn. Ihr Brief vom 10. Oktober verdeutlicht, was es bedeutet haben muss, wenn seine Antworten länger ausblieben: „Unendliche Erleichterung“ habe sie gespürt, als nach längerer Zeit endlich zwei erlösende Postkarten des 16-Jährigen eintrafen. Lili Pinkus berichtet ihrem Stiefsohn vom Alltag der Familie – spart dabei aber die Sorgen aus, mit denen sie und ihr Mann gekämpft haben müssen. Die Textilfabrik der Familie im oberschlesischen Neustadt („S. Fränkel“) war einer der größten Leinen-Produzenten der Welt. Lili Pinkus‘ Mann, Hans Hubert, leitete das Familienunternehmen seit 1926. Nun aber stand der Familie die „Arisierung“ des Betriebs bevor.

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung John Peters Pinkus Dokumente, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 16

Au revoir Paris?

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

„Es ist mir unerhört wichtig, dass er mir die Erlaubnis gibt noch zehn Kameraden nach Mexiko hereinzubringen.“

Paris/Mexiko

Der Brief, den Joseph Roth an seinen Vetter Michael Grübel in Mexiko schickt, ist kurz. Zwar in vertrautem Ton, ansonsten aber auf die wichtigsten organisatorischen Angelegenheiten beschränkt, dankt Roth ihm für die Vermittlung eines Kontaktes zu einem Herrn Dor. Com. Silvio Pizzarello de Helmsburg. Dieser soll Roth dabei helfen, „zehn Kameraden nach Mexiko hereinzubringen.“ Wen genau Roth hier im Blick hat, bleibt offen. Außerdem bittet Roth seinen Vetter, sich auch um eine Einreisebewilligung für ihn selbst zu bemühen. 1933 war der berühmte Schriftsteller und Journalist nach Paris emigiert. Von dort aus hatte er seither zahlreiche Novellen und Essays veröffentlicht und für die Emigrantenpresse in verschiedenen Ländern geschrieben. Nun aber schien auch Roth mit dem Gedanken zu spielen, Europa zu verlassen.

 

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

Original:

Archivbox 2, Ordner 4

Umwälzungen erreichen Wohnung und Arbeitsplatz

Suche nach Wohnung und Arbeit

„Jetzt stell dir vor, zu all diesem Elend noch die Aussicht auf meine ,großen Ferien,‘ für mich als Muttels Ernährerin. Da kam gestern ein Lichtblick, ich habe vom Landesverband in Berlin die Erlaubnis engl. Unterrichts-Kurse in der Provinz abzuhalten.“

BRESLAU/BERLIN

Im August 1938 begann Irma Umlaufs Leben, aus den Fugen zu geraten: man benachrichtigte sie, dass die in jüdischen Händen befindliche Firma in Breslau, für die sie arbeitete, liquidiert und sie in die Arbeitslosigkeit entlassen werden sollte, und ihr Vermieter kündigte ihr. Obwohl es im Oktober 1938 kein Gesetz gab, laut dem Nichtjuden keine jüdischen Mieter haben durften, waren manche eifrig dabei, sich ihrer zu entledigen. In Irma Umlaufs Fall war das Problem, dass ihre jüdischen Mitbewohner die Miete nicht länger aufbringen konnten und auszogen. Der nichtjüdische Vermieter fürchtete sich nun laut Irma, neue jüdische Mieter anzunehmen, und da Juden und Nichtjuden nicht länger gemeinsamen Wohnraum teilen durften, hatte sie keine Wahl als auszuziehen. Unter den anderen Themen, die sie in diesem Brief an ihre Freundin Hilde Liepelt in Berlin anschneidet, ist ihre berufliche Situation: glücklicherweise hat ihr der Landesverband in Berlin Erlaubnis erteilt, in den jüdischen Gemeinden Münsterberg und Fraustadt, beide nicht zu weit von Breslau entfernt, Sprachunterricht zu erteilen, wodurch sie eine neue Existenzgrundlage erhält und weiter für den Unterhalt ihrer Mutter sorgen kann. Ein Zubrot verdient sie sich als Sängerin.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Brief von Irma Umlauf, Breslau, an ihre Freundin Hilde Liepelt in Berlin; 7.379, Bl. 14

Entfernt verwandt

FREITAG

„Ich appelliere an Ihre Menschlichkeit und Ihren Sinn für Blutsverwandtschaft, wenn ich mir die Freiheit nehme, Sie zu bitten, mir bei meiner Immigration in die Staaten zu helfen und mir die notwendige Bürgschaft auszustellen.“

Wien/New York

Es muss Überwindung gekostet haben: Eva Metzger-Hohenberg schrieb dem entfernten Verwandten, aber ihr eigentlich völlig unbekannten Leo Klauber in Manhattan einen flehenden Brief. Ihre Lage sei prekär, für Juden sei in Deutschland kein Platz mehr. Maria Metzger-Hohenberg appellierte an Leo Klaubers „Menschlichkeit“ und seinen „Sinn für Blutsverwandtschaft“ und bat ihn, ihr und ihrer Familie Bürgschaften auszustellen. Dieser Brief aus Wien zeigt nicht nur, welche verzweifelten Maßnahmen manche jüdische Familien ergreifen mussten, um ihre Auswanderung zu ermöglichen. Er zeichnet auch ein lebendiges Bild von der Situation, in der sich viele Juden im Herbst 1938 befanden. Marias Eltern und ihr Bruder hatten ihr Fleisch-Geschäft aufgeben müssen. Der Großhandel ihres Ehemanns, der mehr als 140 Mitarbeiter beschäftigte, wurde „arisiert“. Faktisch bedeutete dies, dass er weit unter Wert verkauft werden musste. Das Schicksal der Metzger-Hohenbergs steht exemplarisch für das unzähliger jüdischer Familien in dieser Zeit.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Laura und Leonard Yaffe Korrespondenze, AR 11921

Original:

Archivbox 2, Ordner 3

Source available in English

Paragraphen, Paragraphen

Vorherige mündliche und schriftliche Anfragen und Gesuche sind zwecklos.

Vorherige mündliche und schriftliche Anfragen und Gesuche sind zwecklos.

WIEN

Das Leben vieler Juden in Österreich war innerhalb eines halben Jahres aus den Angeln gehoben worden. Berufsverbote, Arisierung, Enteignungen oder der Entzug der Staatsbürgerschaft. Nach dem „Anschluss“ fanden sich viele österreichische Juden in unsicheren und chaotischen Zuständen wieder. Umso zynischer mag es vielen von ihnen erschienen sein, mit einer komplizierten, teils pedantischen Visums-Bürokratie konfrontiert zu werden. Ein Schreiben vom 27. September 1938 des amerikanischen Generalkonsulates an Tony (Antonie) und Kurt Frenkl verdeutlicht dies: Ihr Visums-Antrag könne frühestens in Monaten entgegengenommen werden. Die Quoten für mitteleuropäische Einwanderer seien erschöpft. Um auf eine Warteliste für Visen gesetzt zu werden, mussten die Antragsteller einen Vormerkbogen ausfüllen. Und um „Verzögerungen zu vermeiden“, solle jeweils pro Person eine Bürgschaft eingereicht werden. Tony und Kurt mussten also weiter warten – und sich auf die nächsten bürokratischen Hürden gefasst machen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Tony Frenkl, AR 11032

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Jahreschronik 1938

Berufsverbot für jüdische Rechtsanwälte

Diese antisemitische Karikatur zeigt einen jüdischen Anwalt der deutsche Bauern um Geld und Güter betrügt. Elvira Bauer, Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud auf seinem Eid (Nuremberg: Stürmer Verlag, 1936). Leo Baeck Institute.

Die berufliche und finanzielle Situation für jüdische Anwälte und Juden, die in anderen rechtlichen Berufen tätig waren, verschlechtert sich zusehends. Viele von ihnen sind gezwungen, ihre Anwaltskanzleien zu schliessen, da sich ihre Klienten abwenden oder, wenn sie jüdisch sind, fliehen. Zu Beginn des Jahres 1938 arbeiteten noch rund 1750 „nichtarische“ Rechtsgelehrte in Deutschland. Am 27. September verhängen die Nazis ein Berufsverbot für alle noch praktizierenden jüdischen Anwälte. Das Verbot tritt am 30. November in Kraft, in Österreich am 31. Dezember. Von nun an sind nur noch einige wenige jüdische Rechtsanwälte aktiv. Als sogenannte Konsulenten konnten sie – ausschliesslich jüdische – Klienten beraten und vertreten.

Zur Jahreschronik 1938

Wenn das Private politisch wird

Ein jüdischer Arzt soll seine Schweigepflicht brechen

„... mir möglichst umgehend eine Mitteilung darüber zukommen zu lassen, ob Sie während der Italienerbesuche in Stuttgart deutsche Mädchen oder Frauen an Geschlechtskrankheiten behandelt haben, die angaben, von Italienern angesteckt worden zu sein.“

Stuttgart

Dr. Ernst Schaumberger war Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, ein eigentlich unpolitischer Beruf. Die nationalsozialistische Rassen- und Sittenideologie allerdings hatte den Geschlechtsverkehr zum Objekt politischen Interesses erklärt, und damit wurde auch Dr. Schaumbergers Arbeitsfeld politisch. Das vertrauliche Gesuch, das er am 20. September 1938 vom NS-Amt für Volksgesundheit in Stuttgart erhielt, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Er sollte mitteilen, ob er Mädchen und Frauen wegen Geschlechtskrankheiten behandelt habe, die sie sich beim Verkehr mit Italienern angesteckt hatten. Die sogenannte „Rassenhygiene“ im Nationalsozialismus schreckte also nicht davor zurück, ärztliche Schweigepflichten zu hintergehen. Als Dr. Schaumberger dieses Schreiben erhielt, waren seine Tage als praktizierender Arzt bereits gezählt. Schon im Juli hatte man ihn öffentlich als „jüdischen Arzt“ gekennzeichnet und eine Novelle des NS-Reichsbürgergesetzes erlassen, dass mit dem 30. September 1938 die Zulassungen jüdischer Ärzte erlöschen sollten. Trotzdem wurde von ihm erwartet, mit den Nazis zu kooperieren.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Irene Shomberg, AR 6256

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Netzwerke

Kurt Grossmann und die Flüchtlingshilfe

„Wenn in den nächsten Tagen Ihnen ein Gesuch von Frau Erna Winter (und Kind), die bisher von der Demokratischen Flüchtlingsfürsorge in Prag unterstützt wurde, vorgelegt werden sollte, so bitte ich Sie, dieses Gesuch mit Wohlwollen zu behandeln.“

PARIS

Die jüdischen Flüchtlingsorganisation waren weit vernetzt. Zu verdanken war das auch einzelnen Personen wie Kurt Grossmann, die stetig neue Kontakte knüpften und die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene ausbauten. Kurt Grossmann, Journalist und von 1926 bis 1933 Generalsekretär der Deutschen Liga für Menschenrechte, war bereits 1933 vor einer Verhaftung aus Berlin nach Prag geflohen. Dort hatte er die Demokratische Flüchtlingsfürsorge mit aufgebaut und diese maßgeblich geprägt. Grossmann wusste sein Netzwerk für die steigende Zahl jüdischer Flüchtlinge, die Prag erreichten, zu nutzen. Noch aus Paris, wo er seit 1938 lebte, warb er bei den lokalen Hilfsorganisationen um Unterstützung. In einem Brief Grossmanns vom 19. September 1938 etwa bittet er M. Gaston Kahn vom Pariser Comité d’Assistance aux Réfugiés juifs mit Nachdruck, Erna Winter und ihrem Kind zu helfen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt Grossmann, AR 25032

Original:

Archivbox 1, Ordner 8

Vom Schwur, niemandem zu schaden

Ein jüdischer Arzt sorgt sich wegen beruflicher Konsequenzen der Nazi-Gesetze

„Mir geht in diesen Wochen oft ein lateinischer Vers des Horaz durch den Kopf, der in deutscher Übertragung etwa so lautet: Und wenn die Welt zusammenstürzt, wird sie einen unerschütterten Mann erschlagen.“

KÖLN

Erstaunlich viele deutsche Ärzte hatten anscheinend nicht nur keine Skrupel, sich durch das Nazi-Regime vereinnahmen zu lassen, sondern unterstützten aktiv dessen rassistische und eugenische Grundsätze, wobei sie bequem außer Acht ließen, dass sie doch vorgeblich dem Hippokratischen Eid mit seiner Forderung, keinen Schaden zuzufügen, verpflichtet waren. Nicht genug damit, dass sie eine Ideologie verbreiteten, die Juden zu einer „Gefahr für die deutsche Rasse“ erklärte, schlossen medizinische Organisationen in Deutschland Juden aus und machten es ihnen zunehmend schwerer, ihren Unterhalt zu verdienen. Unter diesen Umständen überrascht es nicht, dass Dr. Max Schönenberg, ein Kölner Arzt, und seine Frau Erna, eine Musikerin, die Auswanderung ihres Sohnes Leopold 1937 nach Palästina unterstützt hatten, obwohl der Junge zu dem Zeitpunkt erst 15 Jahre alt war. In diesem Brief an seinen Sohn vom 18. September 1938 spricht Dr. Schönenberg verschiedene gewichtige Themen an, darunter die gerade erfolgte Entscheidung des Regimes, jüdischen Ärzten die Approbation zu entziehen und seine Ungewissheit hinsichtlich seiner beruflichen Zukunft (manche jüdischen Ärzte erhielten Erlaubnis, jüdische Patienten zu behandeln).

QUELLE

Institution:

NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Original:

Best. 46

Und wieder einmal: warten

Die Einreise-Quoten sind strikt

„Es wird Ihnen mitgeteilt, dass die Quote jetzt erschöpft ist.“

Berlin/Breslau

Zeitpunkt: ungewiss. Das amerikanische Generalkonsulat Breslau nannte Carl Proskauer und seiner Familie noch nicht einmal ein Datum in weiter Ferne, an dem sie sich erneut um US-Visa hätten bewerben können. Die Quote sei ausgeschöpft. Gemeint war die amerikanische Quote, die festlegte, wie viele Personen pro Geburtsland (nicht Land der Staatsbürgerschaft!) jährlich in die USA einwandern durften. Und mit dem Jahr 1938 war die Anzahl von Visums-Bewerbungen aus Deutschland rasant gestiegen. Für individuelle Schicksale wie das von Curt Proskauer und seiner Familie bedeutet das im Einzelfall: ein weiteres Mal quälende Wartezeiten und aufreibender Papierkram. Denn viele der Dokumente, die der Breslauer Zahnarzt und Medizin-Historiker Curt Proskauer bereits im amerikanischen Generalkonsulat eingereicht hatte, verloren nach einer gewissen Zeit auch wieder ihre Gültigkeit. Ob sich Curt Proskauer bis dahin erneut um ein Visum bewerben wird können: ungewiss!

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Proksauer, AR 25641

Original:

Archivbox 2, Ordner 30

Nicht aufgeben

Der Arzt Max Wolf will dem drohenden Berufsverbot entgehen

„Ihrem Wunsch gemäß bestätigen wir Ihnen, dass Sie von 1924 bis 30. September 1938 ordentliches Mitglied der Gesellschaft der Ärzte in Wien waren.“

Wien

Dr. Max Wolf hatte sein Fachgebiet schon vor Jahren gefunden: Seit 1922 arbeitete Wolf als Dermatologe in der Wiener Poliklinik, nebenher publizierte er zahlreiche Fachaufsätze. Studiert hatte der gebürtige Wiener noch zur Zeit des Ersten Weltkrieges, kurz darauf hatte er an der italienischen Front als Lazarett-Arzt gedient. Nun aber stand seine Karriere vor dem Aus. Nach dem „Anschluss“ hatten die Nazis bereits jüdische Anwälte und Richter in Österreich mit einem Berufsverbot belegt, ein Verbot für jüdische Ärzte stand kurz bevor. Max und seine Frau Margarata Wolf bereiteten indessen ihre Emigration vor. Die Bescheinigung über Wolfs Mitgliedschaft in der Wiener Gesellschaft der Ärzte lässt erahnen: Max Wolf hatte nicht vor, seinen Beruf im Exil aufzugeben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Manx und Margareta Wolf, AR 10699

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Hauptsache raus

Wachsende Demoralisierung der Juden drängt sie aus dem Land

„Der Arisierungsprozess geht unaufhaltsam weiter, da gibt es kein Halten mehr. Ob noch einmal die Wunder des Alten Testaments kommen werden? Wie war es doch so schön zu dieser Zeit! Der Durchzug durch das Rote Meer .....! Heuschreckenplage .....! Sterben der Erstgeborenen .....! usw. - aber wir liegen heute in der verkehrten Zone, und das Alte Testament darf nicht mehr gelesen werden.“

BONN/NEW YORK

In diesem Brief an seine Freunde Betty und Morris Moser in New York, geschrieben am 31. August 1938, nahm der Bonner Ludwig Gottschalk kein Blatt vor den Mund: Inzwischen seien die Juden in Deutschland dermaßen demoralisiert und lebten in einem so beständigen Zustand der Angst, dass der Wunsch, das Land zu verlassen, allgegenwärtig sei, egal, was „draußen“ zu erwarten sei. Seinen Informationen zufolge sei das US-Konsulat in Stuttgart durch die Vielzahl der Einwanderungsanträge derartig überlastet, dass neue Bürgschaften zur Zeit gar nicht bearbeitet würden. Die Gottschalks hatten bereits eine Nummer auf der Warteliste und rechneten damit, relativ bald emigrieren zu können. In der Zwischenzeit lernten sie Englisch. Ludwig spielte auf die Veränderungen, die sich seit der Abreise der Freunde in Deutschland ereignet hatte, an, indem er sie „Israel“ und „Sara“ nannte: Am 17. August war ein Erlass ergangen, der die Juden zwang, ihrem Vornamen je nach Geschlecht einen dieser Namen hinzuzufügen und damit ihre jüdische Identität unübersehbar zu machen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Betty und Morris Moser, AR 25497

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Ein Verräter!

Harsches Urteil über Schuschnigg

„Nach wie vor […] halte ich Schuschnigg für einen Verräter und käme er heute in meine Hände statt in die Hitlers wäre sein Schicksal noch grausamer.“

Paris

„Ein Verräter!“ Der Journalist und Schriftsteller Joseph Bornstein liess keinen Zweifel an seiner Haltung gegenüber dem ehemaligen österreichischen Kanzler Kurt Schnuschnigg aufkommen. Zwar in freundlichen, aber ebenso scharf pointierten Worten machte er seinem Freund Bosch in einem Brief klar, dass Boschs „Glaube an den guten Glauben an Schuschnigg“ komplett falsch sei. Lange noch hatten viele Juden in Österreich Hoffnungen auf Schuschnigg gesesetzt, da er versucht hatte, den Einfluss des nationalsozialistischen Deutschland auf Österreich abzuwehren. Nachdem der Absender dieses Briefes, Joseph Bornstein, 1933 seine deutsche Staatsbürgerschaft verloren hatte, war er nach Paris immigriert. Hier trat er schon bald den intellektuellen Kreisen anderer deutscher Exil-Journalisten und Autoren bei. Er arbeitete erneut gemeinsam mit Leopold Schwarzschild und war bis 1938 als Chefredakteur für das intellektuelle Magazin „Das neue Tagebuch“ tätig.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

Original:

Archivbox 2, Ordner 1

„Illegale“ Einwanderin

Gisella Jellinek wird in Palästina zu Nadja

„Ich gratuliere Dir nachträglich zu Deinem 18. Geburtstage und wünsche Dir, das, was Du Dir wünschst, ein recht langes Leben, Gesundheit, Heldentum, Mut, gute Chawera zu sein und dass Dein Ideal in Erfüllung geht und nicht vergessen (...) recht viel Arbeit.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Unter abenteuerlichen Umständen war Gisella Jellinek im Juni 1938 nach Palästina gelangt. Als Teil einer Gruppe von mehreren hundert Jugendlichen war sie in das Mandatsgebiet eingeschmuggelt worden. Um zu verhindern, von den britischen Mandatsbehörden als illegale Einwanderin aufgespürt zu werden, musste sie sich vom Augenblick des Landgangs in Palästina an die Hebräischkenntnisse zunutze machen, die sie im zionistischen landwirtschaftlichen Ausbildungslager in Österreich erworben hatte. Etwa zwei Monate nach ihrer Ankunft in Palästina wurde Gisella, die sich jetzt Nadja nannte, 18 Jahre alt. In diesem nachträglichen Geburtstagsbrief wünscht ihr ihre Schwester Berta „Heldentum, Mut und eine gute Chawerah (Kibbutz-Mitglied) zu sein“.

Kontakte sind Geld wert

Agnes Graetz nutzt ihr Netzwerk, um ihrer Tochter die Auswanderung in die USA zu ermoeglichen

„Ich bitte Sie, mir, wenn irgend möglich in Kürze zu schreiben, ob Sie eine Möglichkeit sehen, die nicht - wie das jetzt üblich zu sein scheint - unwahrscheinlich hohe Garantien und Rechtsanwaltskosten erfordert.“

Luzern

Eine Krankheit auf Reisen zwang Wilhelm Graetz 1938, seinen Aufenthalt in der Schweiz auszudehnen. Angesichts der sich zuspitzenden Situation entschloss er sich, sein Zuhause in Berlin aufzugeben. Das vormals gut situierte Ehepaar konnte seinen vier erwachsenen Kindern finanziell nicht unter die Arme greifen, hatte aber den Vorteil weit verzweigter Kontakte: Wilhelm Graetz war Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gewesen und kannte als Leiter des deutschen „ORT“ vielerorts potentielle Helfer. Im August führte ihn eine Reise nach Ungarn. Am 27. nutzte seine Frau Agnes die Zeit, bei dem bekannten Territorialisten und „ORT“-Führer David Lvovicz um Hilfe für eine ihrer drei Töchter zu bitten, die dringend eine Bürgschaft brauchte, um nach Amerika auswandern zu können.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung William Graetz, AR 4121

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Neuankömmlinge

Das Boston Committee for Refugees tut, was es kann

„ISAAC BIRNBAUM, Alter 53, Tabak- und Kleiderhändler, spricht überhaupt kein Englisch.“

Boston

Das Boston Committee for Refugees war die erste der amerikanisch-jüdischen Selbsthilfegruppen, die Juden halfen, Europa zu verlassen und in den Vereinigten Staaten ein neues Leben aufzubauen. 1933 gegründet, bestand es ausschließlich aus Freiwilligen. Unter der Führung Walter H. Bieringers und Willy Nordwinds bemühte sich das Committee in erster Linie darum, angehenden Einwanderern Bürgschaften zu verschaffen und für ihre Beschäftigung nach ihrer Ankunft im Land zu sorgen. Seit der Weltwirtschaftskrise war das Außenministerium angehalten, Menschen fernzuhalten, bei denen „die Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie der Öffentlichkeit zur Last fallen” würden, und es war von größter Wichtigkeit, den Lebensunterhalt der Flüchtlinge sicherzustellen. Die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland (der „Anschluss“) und das monumentale Versagen der Konferenz von Évian verstärkten die Dringlichkeit der Unterstützung der verzweifelten Asylsuchenden. Am 26. August 1938 schickte der amtierende Geschäftsführer der Organisation Bieringer diese Liste von Neuankömmlingen, die der Vermittlung bedurften.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 38

Not macht erfinderisch

Intellektuelle planen Wohnkolonie in USA für arbeitslose jüdische Ärzte

„Sie wissen, dass wir alle vom 1. Oktober an nicht mehr Ärzte sind; die deutsche Approbation ist allen unseres Glaubens entzogen. Es gibt natürlich eine Menge, die dann nicht wissen, wovon zu leben und auch hier nicht weiter leben können.“

BERLIN/NEW YORK

Die Existenzkrise jüdischer Ärzte in Deutschland, die verschiedene Stadien (Ausschluss aus dem öffentlichen Gesundheitswesen und aus Krankenkassen, Verbot der Zusammenarbeit zwischen jüdischen und „arischen“ Ärzten etc.) durchlaufen hatte und durch das Berufsverbot im Juli 1938 eskalierte, machte schöpferische Lösungsansätze erforderlich. Am 25. August schrieb Dr. Felix Pinkus, ein renommierter Berliner Dermatologe, an seinen Freund Sulzberger in Amerika, um ihn als Mitstreiter für ein Hilfsprojekt zu gewinnen: Der Soziologe und Nationalökonom Franz Oppenheimer war darauf gekommen, in den Vereinigten Staaten eine Art Wohnkolonie für ehemalige Ärzte einzurichten, deren Finanzierung durch Spenden amerikanisch-jüdischer Ärzte bestritten werden sollte. Laut Oppenheimers Berechnungen wäre damit zu rechnen, dass etwa 1000 Ärzte diese Lösung in Anspruch nehmen würden. (Dr. Pinkus schätzte, es wären eher 3000.)

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Felix Pinkus Familie, AR 25456

Original:

Archivbox 1, Ordner 41

Neues von den Kleinman(n)s

Kurt in der Schweiz, Schwester und Schwager mögen folgen

„Mein jüdischer Name ist Elke, und da ich Jiddisch spreche und Du Deutsch, sollten wir einander sehr gut verstehen können.“

NEW YORK/BASEL

Der Wiener Kurt Kleinmann und die New Yorkerin Helen Kleinman waren einander nie persönlich begegnet. Nachdem Kurt die kreative Idee hatte, eine Familie ähnlichen Namens in New York zu kontaktieren, in der Hoffnung, die amerikanischen Namensvettern wären vielleicht bereit, ihm bei der Beschaffung einer Bürgschaft behilflich zu sein, entwickelte sich eine zunehmend intensive Korrespondenz zwischen dem jungen Mann und der Tochter der Kleinmans. Helen nahm die Angelegenheit entschlossen in die Hand: Drei Monate nach Kurts erster Kontaktaufnahme mit den Kleinmans, als Helen diesen Brief schrieb, war nicht nur Kurts Auswanderung in Bearbeitung. Sie hatte auch eine Tante aktiviert, für seinen Cousin eine Bürgschaft zu übernehmen, mit dem ihm in der Zwischenzeit die Flucht in die Schweiz gelungen war. Außerdem bestand Hoffnung, dass eine andere Tante dasselbe für Kurts Schwester und Schwager tun würde, die noch in Wien festsaßen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt und Helen Klenmann, AR 10738

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Zugzwang

Joachim Weinert erlebt Drängen und Warten im Kampf mit der Bürokratie

„Ich behalte mir strafrechtliche Maßnahmen gemäß § 33 Dev.V.O. vor und setze ihnen zur Erledigung eine Frist von 3 Tagen.“

WIEN

Innerhalb der ersten Monate nach der Annexion Österreichs durch die Nazis hatte Dr. Joachim Weichert, ein in der Tschechoslowakei geborener Rechtsanwalt, den größten Teil seiner Klienten verloren. Er hatte keine Wahl, als mit der Zusammenstellung der für die Emigration notwendigen Dokumente zu beginnen. Im Juni wurde die Familie vom Generalkonsulat der Vereinigten Staaten benachrichtigt, gültige Bürgschaften und andere Dokumente für sie seien für sie aus Amerika eingetroffen. Da jedoch die tschechische Quote für den Augenblick erschöpft war, wurden sie auf eine Warteliste gesetzt. Außerdem wurde ihnen Mitteilung gemacht, dass innerhalb der nächsten acht Monate nicht mit dem Erhalt der Visen zu rechnen sei. Am 22. August war es fast zwei Wochen her, dass Dr. Weichert von der Devisenstelle in Wien aufgefordert worden war, innerhalb einer Woche eine detaillierte Liste seines Besitzes aufzustellen. In dieser offiziellen Mitteilung vom 22. August wird ihm ein Ultimatum von drei Tagen gestellt, nach dessen Ablauf er mit strafrechtlichen Massnahmen rechnen müsse.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Weichert Familie, AR 25558

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Tagesgeschehen zum 18. Geburtstag

Hugo Jellinek gratuliert seiner Tochter und kommentiert die aktuellen Entwicklungen

„Böhmen ist eine harte Nuss, an der sich diese Räuberbande die Zähne ausbrechen werden [sic] oder sagen wir eine Buchtel, an der diese wahnsinnig gewordenen Teufel ersticken werden. Trotz der vielen hiesigen deutschen Hochverräter ist [sic] Regierung und Volk einig in dem unerschütterlichen Willen, die Freiheit und demokratischen Errungenschaften bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Hugo Jellinek war stolz auf seine Tochter Gisella, die während der Hachschara zu einer glühenden Zionistin geworden und wenige Monate zuvor als Teil einer Gruppe wagemutiger Jugendlicher nach Palästina eingewandert war. Zum 18. Geburtstag schickte er seiner erstgeborenen Tochter nicht nur Glückwunsche, sondern ließ sie auch ausführlich an seinen Gedanken zum Tagesgeschehen teilhaben: Deutsche Manöver entlang der tschechoslowakischen Grenze beunruhigten ihn sehr, doch er war überzeugt, anders als im Fall Österreichs würde die Wehrmacht mit scharfem Widerstand zu rechnen haben. Das Misstrauen und der Mangel an Solidarität wohlhabender Brünner Juden gegenüber jüdischen Flüchtlingen erfüllten ihn mit Bitterkeit. Auch war er sehr besorgt wegen der Räumungsbescheide, die bei österreichischen Juden eingingen. Bei allen Sorgen und Klagen verschaffte eine neue Damenbekanntschaft einen Lichtblick.

Nach Haifa? Nicht jetzt.

Onkel Alfred rät Neffen ab von Besuch

„Der Zeitpunkt, zu dem wir hierherkommen sollen, wird nach meiner Auffassung von weit höherer Seite bestimmt, das Schicksal wird uns zeigen, wenn wir hierherkommen sollen. Ich habe noch niemals so viele unglückliche Menschen in einem Land konzentriert gesehen, wie hier.“

Haifa/Meran

Nach sechs Jahren in Palästina war Alfred Hirschs Urteil eindeutig: Angesichts der politischen, klimatischen und wirtschaftlichen Struktur des Landes könnten selbst ausgesprochen intelligente, ausdauernde Menschen nicht viel erreichen. Bei seinem Versuch, seinem Neffen Ulli das Kommen auszureden, nahm er kein Blatt vor den Mund. Im sehr säkularen Haifa ansässig, war Alfred Hirsch überzeugt, für einen jungen orthodoxen Juden wie Ulli wäre das Leben in Palästina zum gegenwärtigen historischen Zeitpunkt eine große Enttäuschung. Zwischen der Atmosphäre, die durch das kollektive Elend einer großen Anzahl entwurzelter, bedrückter Menschen erzeugt wurde und den politischen Unruhen, die ernsthafte wirtschaftliche Probleme hervorriefen, erschien Onkel Alfred der Zeitpunkt nicht richtig. (Mit politischer Unruhe gemeint sind der Arabische Aufstand in Reaktion auf den massiven Zustrom europäischer Juden und die Aussicht auf die Errichtung einer Nationalen Heimstätte für die Juden, wie durch die Balfour-Erklärung 1917 vereinbart.)

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Julius und Elisabeth Hirsch, AR 25585

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Ferienidylle

Ein sonniger Brief an den Vater

„Uns geht es gut. Die Sonne scheint seit zwei Tagen, so dass wir schwimmen gehen konnten, aber für morgen sagt das Radio Regen an.“

Nespeky/Prag

Hitlers Pläne für die Tschechoslowakei hätten eindeutiger nicht sein können: Am 30. Mai 1938 hatte er in einer Weisung an die Wehrmacht mitgeteilt, es sei sein „unabänderlicher Beschluss“, die Tschechoslowakei „in absehbarer Zeit“ zu zerschlagen. Schon Monate zuvor hatte er den Führer der seit Jahren teilweise von Nazideutschland finanzierten Sudetendeutschen Partei, Konrad Henlein, dazu angestachelt, durch nicht erfüllbare Forderungen für die deutsche Minderheit eine Konfrontation heraufzubeschwören. Unter dem Einfluss der Ereignisse in Deutschland hatte der Antisemitismus im Land zugenommen, hatte aber bisher nur in den überwiegend von Deutschen bewohnten Grenzgebieten Nord- und Westböhmens zu Boykotten und tätlichen Übergriffen geführt. Während sich im Hintergrund eine Krise zusammenbraute, war der Psychiater und Schriftsteller Josef Weiner mit seiner Frau Hanka und den zwei kleinen Töchtern im zentralböhmischen Städtchen Nespeky in Urlaub. Hankas Briefchen (in tschechischer Sprache) an ihren Vater, den renommierten Prager Rechtsanwalt Oskar Taussig, atmet reine Ferienidylle und verschont den rekonvaleszenten Empfänger vor allem Unerfreulichen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Winn Familie, AR 25493

Original:

Archivbox 1, ordner 5

Selbst ist die Frau

Eine unabhängige Unternehmerin muss um Hilfe bitten

„Ich glaube, ich schreibe an die Kinder von Emanuel und Victoria Magen, und ich flehe Euch an, uns zu helfen, nach Amerika zu kommen.“ ”

Berlin

Die Berlinerin Gusty Bendheim hatte den amerikanischen Zweig ihrer Familie nie kennengelernt. 42 Jahre alt und geschieden, hatte sie keine andere Wahl, als sich an ihre Verwandten in Übersee zu wenden. Sie bat die quasi Fremden um Hilfe, ihr und ihren Kindern Ralph (13) und Margot (17) die Auswanderung zu ermöglichen. Gusty war ein unternehmerischer Typ: Zum Zeitpunkt ihrer Heirat mit Arthur Bendheim, einem Kaufmann aus Frankfurt am Main, hatte sie bereits das dritte Knopfgeschäft gegründet. Nach der Hochzeit übernahm Arthur die Geschäftsleitung, und Gusty wurde zur Hausfrau. Trotz der zunehmend besorgniserregenden anti-jüdischen Maßnahmen des Naziregimes war Arthur nicht gewillt, das Land zu verlassen. Nach der Scheidung des Paares 1937 nahm Gusty die Dinge selbst in die Hand: In diesem Brief vom 14. August 1938 an ihre unbekannten Verwandten ergänzt sie ihre Bitte um Hilfe durch die Versicherung, ihr geschiedener Mann sei bereit, die Reisekosten für sie und die Kinder in die Vereinigten Staaten zu übernehmen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Margot Friedlander, AR 11397

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

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