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Vorreiterrolle

USA ergreift Initiative für Flüchtlinge

Washington, D.C.

Am 4. April 1938 traf Arthur Sweetser, Mitglied des Sekretariats des Völkerbunds, mit US-Präsident Franklin D. Roosevelt zusammen. Bei dem Treffen diskutierten die beiden Männer die Situation deutscher und österreichischer Juden, die dringend Wege zur Auswanderung suchten. Roosevelt erwähnte die Idee, eine internationale Konferenz abzuhalten. Sein Gedankengang war einfach: Nur unter der entschlossenen Führung der USA konnte das Problem gelöst und andere Länder überredet werden, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Es bleibt umstritten, ob die Idee einer gemeinsamen Diskussion der Situation der Juden unter dem Naziregime von Roosevelt selbst ausging oder von hochrangigen Beamten des US-Außenministeriums.

Karl Bonhoeffer empfiehlt

Der Vater von Klaus und Dietrich steht für eine Kollegin ein

„Sie besitzt außergewöhnliche diagnostische Fähigkeiten. Ihre Arbeitsenergie ist groß. Sie ist vertrauenswürdig und zuverlässig im medizinischen Dienst. Diese Eigenschaften sind es, die ihr die Bewunderung der Ärzte und das Vertrauen ihrer Patienten erwarben.“

Berlin

Prof. Karl Bonhoeffer, ein Psychiater und Neurologe sowie der Vater zweier prominenter Gegner des NS-Regimes, Klaus und Dietrich Bonhoeffer, lehrte an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin und leitete die Abteilung für psychische und Nervenkrankheiten an der Charité. In diesem Empfehlungsschreiben – in englischer Sprache zum Gebrauch im Exil abgefasst – lobt Bonhoeffer die herausragenden Leistungen seiner jüdischen Kollegin Dr. Herta Seidemann. Während seine Einstellung zu gewissen Programmen der Nazis (z.B. Zwangssterilisierung von Erbkranken und Euthanasie) umstritten ist, steht sein Einsatz für verschiedene jüdische Kollegen außer Zweifel.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herta Seidemann, AR 25060

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Ein zweites Salzburg?

Max Reinhardt baut sich eine neue Existenz in Kalifornien

Hollywood

Der österreichische Theater- und Filmregisseur Max Reinhardt emigrierte im Oktober in die Vereinigten Staaten, begleitet von seiner Frau, der Schauspielerin Helene Thimig. Durch technische Neuerungen und die Erhöhung des Status des Regisseurs spielte Reinhardt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des modernen Theaters. Mit seiner „Jedermann“-Inszenierung wurde er 1920 zum Mitbegründer der Salzburger Festspiele. Kurz nachdem er sich in den Vereinigten Staaten niedergelassen hatte, kamen Pläne auf, in Kalifornien ein „zweites Salzburg“ zu gründen – diesmal „unter günstigeren klimatischen und politischen Bedingungen, und vielleicht mit größeren finanziellen Mitteln“, wie er – auf Englisch – an Toscanini schrieb. Unter seinen Errungenschaften in den USA waren die Inszenierung von Werfels „The Eternal Road“ (englische Version von „Der Weg der Verheißung“) und die Einrichtung des Max Reinhardt Workshop for Stage, Screen and Radio, einer Theater- und Filmakademie in Hollywood (1937-39). Vom amerikanischen Publikum hielt er nicht viel.

So weit weg wie möglich

Die Auswanderungsanträge im australischen Konsulat in Österreich erreichen einen neuen Höchststand

„The British consulate general admitted the would-be emigrants in groups of a hundred, giving out applications for visas and information on requirements for settlement in all parts of the British empire“.

Wien

Mehr als zwei Wochen waren seit der Machtübernahme der Nazis in Österreich vergangen. Nach dem anfänglichen Schock und der Fassungslosigkeit unter den Juden des Landes griffen Verzweiflung und Panik um sich. Viele reagierten, indem sie sich über Visabestimmungen für Länder wie die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Australien erkundigten, die Sicherheit und ausreichende Distanz zu der dramatischen neuen Situation in Österreich versprachen. Zwischen dem 24. und dem 28. März gingen allein beim australischen Konsulat 6000 Einwanderungsanträge ein – eine Zahl, die die offizielle Einwanderungsquote des Landes bei Weitem überstieg.

In der Heimat verloren

Österreichische Juden und das US-Konsulat in Wien

„Hunderte kamen in der Annahme, die Vereinigten Staaten seien bereit, die Überfahrt von 20.000 Einwanderern zu genehmigen und zu finzieren. Vertreter des Konsulats wandten sich an Gruppen von Antragstellern, um ihnen den tatsächlichen Sachverhalt zu erklären“.

Wien

In einem weiteren dramatischen Bericht aus Österreich beschreibt die „Jewish Telegraphic Agency“ verängstige Juden, die in der fehlgeleiteten Hoffnung auf Unterstützung in das Konsulat der Vereinigten Staaten strömten. Gerade prominente Juden mussten mit Schikanen und Festnahme durch die Gestapo rechnen. Führende Persönlichkeiten des österreichischen Judentums waren gezwungen, die Polizei über ihre Aktivitäten zu unterrichten, während es ihren deutschen Amtskollegen aufgrund eines Einreiseverbots für Juden unmöglich war, ihnen einen Solidaritätsbesuch abzustatten. Des Weiteren berichtet die JTA, die Situation tausender jüdischer Schauspieler sei mittlerweile dermaßen verzweifelt, dass selbst der nationalsozialistische Beauftragte des österreichischen Bühnenvereins eine Kampagne zu ihren Gunsten zulasse.

Soma Morgenstern

Ein Universalist lässt alles zurück und trifft im Exil auf einen alten Freund

Wien/Paris

Soma Morgenstern war promovierter Jurist, doch er zog es vor, seinen Lebensunterhalt als Schriftsteller und Journalist zu verdienen und schrieb Feulliettons über Musik und Theater. Der gebürtige Ost-Galizianer beherrschte mehrere Sprachen, darunter Ukrainisch und Jiddisch. Er schrieb in deutscher Sprache. Nach seiner Entlassung 1933 von der Frankfurter Zeitung, deren Kulturkorrespondent er gewesen war, hielt er sich mühsam mit journalistischen Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Die Annexion Österreichs an Nazi-Deutschland machte seine Situation vollends untragbar: In die Emigration gezwungen, hinterließ er seine Ehefrau, ein Kind und zahlreiche Manuskripte. Am 23. März war er bereits im sicheren Paris, wo er mit einem weiteren berühmten galizianer Exilanten, seinem alten Freund, dem Schriftsteller Joseph Roth, im Hôtel de la Poste wohnte.

Frauenrechte sind Menschenrechte

Der Jüdische Frauenbund berät junge Frauen bei der Ausreise

Berlin

Lange Zeit war die Sicherstellung der Würde und Unabhängigkeit jüdischer Frauen und ihr Schutz vor Menschenhändlern ein zentrales Anliegen des Jüdischen Frauenbundes. Der 1904 gegründete Verein unterstützte junge Frauen, in dem er es ihnen ermöglichte, eine Berufsausbildung absolvieren. Inzwischen hatten sich andere Themen in den Vordergrund gedrängt: Am 22. März lud die Gruppe berufstätiger Frauen innerhalb des Bundes, vertreten durch Käthe Mende, zu einem „Aussprache-Abend“ für weibliche Jugendliche ein, bei dem Berufs- und Auswanderungsfragen diskutiert werden sollten. Die Gastrednerin war Lotte Landau-Türk; Prof. Cora Berliner, eine frühere Angestellte im Reichswirtschaftsministerium und Professorin für Wirtschaftswissenschaften, die nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 aus dem Staatsdienst entlassen worden war, moderierte die Diskussion.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Sammlung:

Einladung zu einer Veranstaltung der Gruppe berufstätiger Frauen im Verband Berlin des Jüdischen Frauenbundes zum Thema „Berufs- und Auswanderungsfragen für die weibliche Jugend“

Original:

CJA, 1 C Fr 1, Nr. 31, #9835, Bl. 32

Annelieses Kampf im Alltag

Briefwechsel einer verstreuten Familie

„Ich würde Dir jedenfalls raten, Dich an die Dame zu wenden. Sie könnte doch die Möglichkeit haben, in ihrem Bekanntenkreis etwas für Dich zu finden“.

Berlin / Rom

Im März 1938 lebt Anneliese Riess noch immer in Rom. Zusätzlich zu ihrem Briefkontakt mit ihrer Schwester Else (s. Brief vom 5. Februar) korrespondiert sie mit ihren Eltern in Berlin. Wie bei anderen Familien, die über mehrere Länder verstreut sind, befassen sich die Briefe der Familie Riess mit alltäglichen Begebenheiten und praktischen Auskünften zur Emigration. Da ihr italienisches Visum kurz vor dem Ablaufen steht, versucht die junge Frau, einen neuen, sicheren Zufluchtsort zu finden. Durch ihren Freundeskreis hat ihre Mutter von der Möglichkeit einer Anstellung Annelieses in Lund, Schweden erfahren. In diesem Brief rät sie ihr, sich genauer darüber zu erkundigen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Anneliese Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, Folder 9

Der Name ist Programm

Das Kinderheim "Beit Ahawah" schenkt jüdischen Kindern Geborgenheit in Berlin—und darüber hinaus

Berlin

Das als übermäßig autoritär bekannte preußische Erziehungssystem hatte traditionell auf Gehorsamkeit und Pflichterfüllung abgezielt, wobei den Kindern oft frühzeitig die Flügel gebrochen wurden. Im Kinderheim „Ahawah“ (hebr. für „Liebe“) auf der Auguststraße in Berlin-Mitte herrschte ein anderer Geist: Die Kinder durften in einem „Kinderrat“ mitentscheiden, sie sollten zu Staatsbürgern, nicht zu Untertanen erzogen werden. Körperliche Bestrafung war verboten und alle Mitarbeiter waren dazu angehalten, die Atmosphäre eines echten Zuhauses zu schaffen. Beate Berger, eine Krankenschwester und Leiterin des Heims seit 1922, nahm eine Gruppe von Kindern mit sich, als sie 1934 nach Palästina emigrierte und kehrte in den folgenden Jahren oft nach Deutschland zurück, um weitere Kinder zu retten. Die Fotos zeigen kostümierte Kinder bei der Purimfeier des Heims.

Anlernwerkstatt und Auswanderungspläne

Ein Frankfurter Lehrer sucht Hilfe bei einem Kollegen

„Wir wollen drüben mit Menschen zusammen kommen, mit denen wir auch über unsere Pläne - nicht über unsere persönlichen, sondern über die jüdisch-sozialen - sprechen können. Die Situation für die jüdische Jugend wird doch von Tag zu Tag ernster, und wir halten uns für verpflichtet, alle Möglichkeiten, die wir drüben sehen, auszunutzen.“

Frankfurt am Main/Bonn

Kaum hatte er seine Karriere als Lehrer am Goethe-Gymnasium in Frankfurt am Main begonnen, verlor Hans Epstein 1933 nach der Machtergreifung seine Stelle. Nach einem kurzen Intermezzo als Lehrer am berühmten „Philanthropin“ in Frankfurt am Main, einer progressiven jüdischen Schule mit dem Wahlspruch „Für Aufklärung und Humanität“, wurde er zum Mitbegründer der „Anlernwerkstatt“, die jüdische Kinder auf die Emigration in die USA vorbereitete. Der Mathematiker Otto Toeplitz, ein passionierter Pädagoge, unterrichtete nun Kinder und organisierte die Auswanderung von Studenten in die Vereinigten Staaten. In diesem Brief bittet Epstein Toeplitz um ein Empfehlungsschreiben und um Kontakte in den USA, die seinen Bemühungen förderlich sein könnten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Hans Epstein, AR 6362

Original:

Archivbox 1, Ordner I.13

Ein Geschmack von Heimat

Eine deutsch-jüdische Auswandererzeitung bewirbt "echte, gute, deutsche Wurst"

„Endlich das, was Sie sich wünschen: die echte, gute, deutsche Wurst, hergestellt aus prima Rind- und Kalbfleisch zu den billigsten Tagespreisen“

New York

Nach den Strapazen ihres erzwungenen Abschieds von der Heimat, oft begleitet von einem Verlust an Status, Besitz und elementarem Vertrauen in die Menschheit, schienen die deutschen Juden wenig Grund zu Heimweh zu haben. Diese Anzeige aus dem „Aufbau“, der deutsch-jüdischen Zeitung mit Sitz in New York, die damals als Mitteilungsblatt des „German Jewish Club“ diente, zeigt, dass jüdische Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland sich dennoch nicht unbedigt eilten, ihre mitgebrachten Essgewohnheiten zu ändern.

Diskriminierungen und Verhaftungen

Einen Tag nach dem Anschluss eskalieren die Feindseligkeiten

Wien

Nach ihrem triumphalen Einzug in Österreich verloren die Nazis keine Zeit, die jüdische Bevölkerung des Landes einzuschüchtern und sie aus einflussreichen Stellungen und aus dem gesellschaftlichen Leben zu verdrängen: Prominente Bankiers und Geschäftsmänner wurden verhaftet, andere Juden – besonders solche, die in Bereichen tätig waren, die als „jüdisch“ galten, wie die Presse und das Theater – wurden entlassen und durch „Arier“ ersetzt. Die Atmosphäre in Österreich Juden gegenüber wurde zunehmend feindselig. In Organisationen, deren Ziel es war, die Auswanderung von Juden nach Palästina zu fördern, fanden Razzien statt. Gleichzeitig hatte man die Annullierung der Pässe „gewisser Leute“ angekündigt. Erwähnenswert ist, dass die Zahl der Juden in Österreich im März 1938 etwa 206.000 betrug, womit sie gerade 3% der Gesamtbevölkerung ausmachten.

Fassungslosigkeit

„Was heut geschehen ist, kommt einem Tode gleich“

„Was ich gestern noch für einen kaum fassbaren Gedanken hielt, ja ihn von mir stieß, damit er mir nur nicht zu Bewusstsein käme, ist mir heute keine Frage des Bangens und der Trauer mehr: die Auswanderung“

Wien

Trotz zahlreicher Signale einer politischen Kursänderung in Österreich kam der „Anschluss“ am 12. März für viele jüdische Österreicher überraschend. Einer von ihnen war der 25-jährige Jurist Paul Steiner. Wie viele andere Zeugen umwälzender historischer Ereignisse erfasste er die Größenordnung der Veränderung nicht, bis sie vollends eingetreten war. Am Tag des „Anschlusses“ brachte er in seinem Tagebuch seine Fassungslosigkeit zum Ausdruck. Innerhalb weniger Stunden nach der historischen Umwälzung schlugen Steiners Liebe und Bindung an Österreich in Gleichgültigkeit um. Da ihm die neue politische Realität in Österreich hoffnungslos erschien, fasste er den schnellen aber rationalen Entschluss, die Heimat so schnell wie möglich zu verlassen.

 

Verfolgen Sie eine 24-Stunden-Rekonstruktion der Machtergreifung des Nationalsozialismus in Österreich online unter www.zeituhr1938.at

Live im Internet vom 11. März 2018, 18:00 Uhr bis 12. März 2018, 18:00 Uhr

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Steiner, AR 25208

Original:

Archivbox 1, Ordner 7

Jahreschronik 1938

Der Anschluss Österreichs

Österreichische Frauen bejubeln den Einmarsch deutscher Soldaten während des Anschluss.

Der Österreichische Bundespräsident Wilhelm Miklas bestellt nach deutschen Drohungen das sogenannte Anschlusskabinett ein, das vom 11. – 13. März regiert. Wehrmacht, SS und Polizeieinheiten marschieren am 12. März in Österreich ein. Die nationalsozialistische Bundesregierung führt am 13. März 1938 im Auftrag von Adolf Hitler den „Anschluss“ durch. Er bewirkt sukzessive das völlige Aufgehen Österreichs im Deutschen Reich. Die Herrschaft des Nationalsozialismus währt in Wien und Umgebung bis zum Vorrücken der Roten Armee Mitte April 1945. Der „Anschluss“ wird in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 für „null und nichtig“ erklärt. In vielen anderen Landesteilen Österreichs endet das NS-Regime erst mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Mai 1945.

Zur Jahreschronik 1938

Stimmen in London

Das Zionistische Aktionskomittee berät zur Lage der Juden in Europa

London

„Die Stimme“ galt als das offizielle Organ des zionistischen Landeskomittees für Österreich. In ihrer Ausgabe vom 9. März zitiert sie eine Meldung der „Jewish Telegraphic Agency“ über die Konferenz des Zionistischen Aktionskomittees in London. Während die Spannung in Österreich stieg, standen auf der Tagesordnung der Konferenz andere dringende Angelegenheiten, wie z.B. die Einwanderung nach Palästina und die Veränderung der britischen Haltung zu diesem Thema. Als besonders wichtig wurden Vorschläge eingestuft, in verschiedenen osteuropäischen Staaten den Preis des Schekels zu senken und Koordinationsräte für zionistische Aktivitäten einzurichten.

Familienbande

Eine Bürgschaft vom Onkel

„Sobald ich all diese Angaben von Dir bekomme, stelle ich die erforderlichen Bürgschaften und schicke die Angaben an Dr. Pollak, der ebenfalls seine Bürgschaften schicken wird, so dass Du und Deine Familie kommen könnt.“

Newark, New Jersey/Baden

Charles Manshel, ein wohlhabender, selbst aus Österreich stammender Geschäftsmann, verspricht seiner Cousine Irene Ehrlich in Baden bei Wien, er werde Bürgschaft für sie und ihre Familie übernehmen, sobald er die erforderlichen persönlichen Daten bekäme. Der Brief zeigt Manshels aufrichtiges Bemühen, seinen Angehörigen nicht nur den Weg zur Einwanderung zu bahnen, sondern auch etwas für die berufliche Integration des Ehemanns seiner Nichte, Dr. Eduard Ehrlich, zu tun. Unbeschadet seines Erfolges später im Leben war Manshel Not nicht fremd: Als Sechzehnjähriger war er durch den Tod des Vaters gezwungen gewesen, zum Ernährer seiner Familie zu werden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung George und Paul Ehrlich, AR 11418

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Harold MacMichael

Ein neuer britischer Hochkommissar für Palästina

Jerusalem

Diese Radierung des deutsch-jüdischen Künstlers Hermann Struck zeigt den fünften britischen Hochkommissar für Palästina, Harold MacMichael, der am 03. März 1938 sein Amt antrat. Zuvor hatte MacMichael verschiedene Posten in Afrika innegehabt. Der Hochkommissar war der höchstrangige Vertreter des Empire in Palästina zur Zeit des Völkerbundmandats. Der Schöpfer des Portraits, Hermann Struck, orthodox und früh dem Zionismus zugewandt, war bereits 1923 nach Palästina ausgewandert und hatte sich in Haifa niedergelassen. Er war besonders für seine meisterhaften Radierungen bekannt. Künstler wie Chagall, Liebermann und Ury hatten sich von ihm in dieser Technik unterweisen lassen.

Verheißung wird wahr

Kurt Weill feiert seinen 38. Geburtstag in New York

New York

Als Jude, Sozialist und Komponist von Musik, die vom Regime als „entartet“ eingestuft wurde, unerwünscht in Nazi-Deutschland, konnte Kurt Weill seinen 38. Geburtstag am 2. März in Sicherheit feiern: Nach Angriffen durch die Nazi-Presse und gezielten Protestaktionen gegen ihn war Weill bereits 1933 nach Frankreich emigriert. Die Proben zur Uraufführung seiner Oper „Der Weg der Verheißung“ (Libretto: Franz Werfel, engl. Version „The Eternal Road“) in New York gaben ihm Gelegenheit, in die USA zu reisen. Aufgrund zahlreicher technischer Probleme musste die Premiere bis 1937 verschoben werden. Weill ergriff die Gelegenheit, in Amerika zu bleiben. Bis 1938 war neben der genannten Oper auch das Musical „Johnny Johnson“ in New York zur Aufführung gelangt.

Uruguay als gelobtes Land

Der Elektriker Wainstein plant die Emigration nach Montevideo

Berlin

Im Frühjahr 1938 traf der Berliner Elektroinstallateur Moses Wainstein Vorbereitungen, um sich dem steten Strom jüdischer Emigranten anzuschließen. Ziel war das ferne Montevideo. Der geplante Reiseweg sollte von Berlin nach Marseille führen, von wo aus er sich nach Südamerika einschiffen wollte. Das nötige französische Transitvisum wurde ihm am 1. März erteilt. Uruguay galt als Land mit starken demokratischen Traditionen, wenig Druck zur Anpassung auf die Neuankömmlinge und guten Aussichten für Handwerker. Jüdische Hilfsorganisationen und Reiseagenturen berieten Emigrationswillige bei der Wahl der neuen Heimat, zur bestmöglichen Route und bei der Beschaffung der notwendigen Papiere.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Sammlung:

Transitbescheinigung der Reederei „Chargeurs Réunis & Sud Atlantique“ für Moses Wainstein zur Durchreise durch Frankeich

Original:

Inv. Nr. Do2 89/1008.6

Flucht von Köln nach Kenia

Autoschlosser Paul sucht Sicherheit in Ostafrika

„Besond. Kennzeichen: keine“

Köln/Ol Kalou

Trotz der restriktiven Einwanderungspolitik der britischen Kolonialmacht gelingt dem zwanzigjährigen Autoschlosser Paul Egon Cahn aus Köln mit diesem Pass die Flucht nach Kenia. Pauls Schwestern Erika und Inge schaffen es, sich in England beziehungsweise Australien in Sicherheit zu bringen. Die Eltern der Geschwister, Siegfried und Renate Cahn, bleiben in Deutschland zurück. In vielen Fällen mussten die Emigranten nicht nur den Verlust von Heimat und Besitz und die Trennung von ihren Angehörigen verkraften, sondern sich auch den Herausforderungen fremder Klimazonen und Kulturen stellen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Egon Cahn, AR 25431

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Liebeskummer

Ein Freund spendet Trost angesichts der drohenden Trennung von der Geliebten

„Ich sage es ist gut, wenn man sich lange nicht sieht, erst dann kann man erkennen, wie sehr oder wie wenig Menschen sich geändert haben.“

Hamburg/Meran

1938 war Familie Hirsch aus Hamburg bereits nach Italien ausgewandert. Angesichts der instabilen Situation in Europa hatten mehrere Familienmitglieder begonnen, nach Möglichkeiten der Emigration in die Vereinigten Staaten oder nach Südamerika Ausschau zu halten. Julius Hirsch hatte Elisabeth Schiff 1935 bei einem Besuch in Belgien kennengelernt und sich in sie verliebt. Familie Schiff hatte keine Pläne, Europa zu verlassen, und als Visen für El Salvador für Julius und andere Familienangehörige beschafft worden waren, muss ihn der Gedanke der Trennung von seiner Geliebten geschmerzt haben: In diesem Brief versichert ihm ein Freund aus Hamburg, eine vorübergehende Trennung sei keine schlimme Sache. Die Vereinigten Staaten verweigerten ihm das notwendige Transit-Visum, und Julius musste in Italien zurückbleiben. Schließlich kam er in England wieder mit seiner Elisabeth zusammen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Julius und Elisabeth Hirsch, AR 25585

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Tel Aviv, Bauhaus, und „Die Große Illusion“

Die Ben-Jehuda-Straße in Tel Aviv

Tel-Aviv

Diese Ansicht der Ben-Jehuda-Straße in Tel-Aviv zeigt im Hintergrund einige der typischen Gebäude, denen es den Beinamen „Die weiße Stadt“ verdankt: Seit 1933 und besonders nach dem Inkrafttreten des „Reichsbürgergesetzes“ 1935 hatten sich Architekten im Land angesiedelt, die zum Teil im Bauhaus ausgebildet worden waren und nun Tel-Aviv ihren Stempel aufdrückten – entweder durch eigene Schöpfungen oder durch ihren Einfluss auf Kollegen. Dominiert wird das Foto durch das Migdalor-Gebäude, das 1935 errichtet wurde und das erste klimatisierte Kino der Stadt beherbergte. Auf der Außenwand ist Werbung für Jean Renoirs 1937 entstandenen Film „Die große Illusion“ zu sehen, der aufgrund seiner pazifistischen Botschaft in Deutschland verboten war.

Jahreschronik 1938

Eröffnung des Hafens von Tel Aviv

Eröffnung des Tel-Aviver Hafens. Nationale Fotografische Sammlung Israels.

Der Hafen Tel Avivs wird fertiggestellt und offiziell eingeweiht. Als das arabische Jaffa seinen Hafen 1936 als Gegenreaktion auf die steigende Zahl jüdischer Immigranten schloss, eröffnete Tel Aviv Sha’ar Zion, das Zionstor. Der Hafen operierte die ersten zwei Jahre in begrenztem Umfang. Seine logistische und symbolische Bedeutung für die vor den Nationalsozialisten fliehenden Juden kann jedoch nicht überschätzt werden. Im April 1938 geht nach Monaten der Frachtnutzung der erste Passagier an Land. Zwei Jahre später, als eine Flucht aus Deutschland kaum mehr möglich ist und der Zweite Weltkrieg begonnen hatte, wird der Hafen auschliesslich militärisch genutzt.

Zur Jahreschronik 1938

Kaffeeklatsch im Frankfurt am Hudson

Ein neues Leben in Washington Heights, NYC

Bei Kaffee, Kuchen und Kartenspiel und einem gemütlichen Unterhaltungsprogramm werden die Anwesenden Gelegenheit haben, darüber zu sprechen, was sie bewegt.

New York

Zwischen der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 und dem Jahr 1938 waren etwa 16.000 Juden in die Vereinigten Staaten eingewandert. Viele deutsche Juden hatten sich in New York angesiedelt, vor allem im Stadtteil Washington Heights im Norden Manhattans, was ihm den Scherznamen „Frankfurt am Hudson“ einbrachte. Der Veranstaltungskalender des „German Jewish Club“ für den Monat Februar verzeichnet einen „Familienabend mit Kaffee-Klatsch“, der „künstlerische und musikalische Einlagen“ bietet. Die Veranstaltung ist auf die Bedürfnisse der älteren Mitglieder der Gemeinschaft abgestimmt als „Ersatz für Loge, Liederkranz, Resource und andere Vereine“ und verspricht den Teilnehmern die Gelegenheit, über die Dinge zu sprechen, die sie bewegen. Zusätzlich zu den kulturellen Veranstaltungen führt der massive Zustrom deutscher Juden zur Gründung zahlreicher neuer Synagogengemeinden, angefangen mit „Tikvoh Chadoshoh“: „Neue Hoffnung“.

Ohne Gesundheit keine Sicherheit

Ein Gesundheitszeugnis von der kolumbianischen Botschaft

Berlin/Breslau

Angesichts der drohenden Gefahr erwog der junge Breslauer Jazzmusiker Werner Dambitsch verschiedene Optionen der Auswanderung. Wie viele andere auch betrachtete er Kuba – ein Zielland, für das es bedeutend leichter war, ein Visum zu bekommen – als eine Art „Wartezimmer“ auf dem Weg zum Ziel so Vieler, den Vereinigten Staaten. Während der Antrag zur Einwanderung nach Kuba lief, scheint Dambitsch zur Sicherheit auch bei der kolumbianischen Botschaft in Berlin ein Visum beantragt zu haben. Bei dem hier gezeigten Dokument handelt es sich um das Gesundheitattest, das vom Arzt der kolumbianischen Botschaft ausgestellt wurde und dem zukünftigen Einwanderer beste Gesundheit bescheinigt – eine der unabdingbaren Voraussetzungen zum Erhalt eines Visums.

Alles in Ordnung im Gefängnis

Die Briefe des Häftlings Alfred Rahn

„Es geht mir den Verhältnissen entsprechend gut und wenn ihr euch keine Sorgen macht, dann werde ich alles doppelt so leicht tragen können.“

Nürnberg/Fürth

Da er das Familienunternehmen nicht aufgeben wollte und in der Hoffnung, die Situation der Juden werde sich mit der Zeit wieder bessern, hatte Alfred Rahn zunächst gezögert, an Emigration zu denken. 1937 jedoch besorgte sich die Familie Visen für die Vereinigten Staaten und verkaufte das Geschäft an einen Nicht-Juden. Da die Nazis dem Verkauf nicht offiziell zugestimmt hatten, bezichtigten sie Rahn der versuchten Unterschlagung und er wurde zu einer 14-monatigen Haftstrafe verurteilt. Aus der Haft schreibt Rahn seiner Frau Lilli in sachlichem Ton von seiner Hoffnung auf Verlegung in eine andere Abteilung, von der ihm auferlegten Arbeit und von seiner Lektüre und erweckt den Eindruck, alles sei in bester Ordnung.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Rahn Familie, AR 25538

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Verschonung in Italien?

Italienischer Antisemitismus richtet sich nicht gegen lokale Juden, laut Bericht

„Die in Italien existierende antisemitische Bewegung sei nicht gegen die italienischen Juden, sondern gegen das bekanntermaßen antifaschistische Weltjudentum gerichtet. Die Bewegung trage überdies einen mehr politischen als rassefeindlichen Charakter.“

Rom

Die orthodoxe „Jüdische Presse“ zitiert eine beruhigende Einschätzung der Amtlichen Nachrichtenstelle zur Situation der Juden in Italien: wohl gebe es dort „wie überall anderswo“ eine antisemitische Bewegung, doch sei diese sehr gemäßigt, und anstatt die italienischen Juden ins Visier zu nehmen, stelle es sich dem „Weltjudentum“ entgegen, das bekanntermaßen antifaschistisch sei. Interessanterweise wird der gemäßigte Charakter der antisemitischen Bewegung auf die Abwesenheit einer „jüdischen Bewegung“ zurückgeführt: Tatsächlich hatte der Zionismus in Italien sehr wenige Anhänger und zwischen 1926 und 1938 waren nur 151 italienische Juden nach Palästina ausgewandert.

„Nur keine Angst, ich werde es schon schaffen!“

Mit der Jugend-Alija treten Kinder die Reise nach Palästina an

“Joy and pain are fighting against each other, as are courage and fear, mourning and hopefulness. One cries, the other laughs. Here the pain of separation is stronger, there the self-painted picture of the future outshines all grief of separation.”

Berlin

Kaum waren die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 an die Macht gekommen, gründete Recha Freier in Berlin die „Jüdische Jugendhilfe“, die bald unter dem Namen „Jugend-Alija“ bekannt wurde. Das Ziel der Organisation war, jüdische Kinder, die die Grundschule hinter sich hatten, in Palästina in Sicherheit zu bringen. In der Jugendbeilage des „Israelitischen Familienblattes“ vom 17. Februar 1938 werden die Gefühle der Kinder beim Aufbruch nach Eretz Israel beschrieben: Nicht nur mussten sie mit dem Abschied von Eltern und Familie fertigwerden, sondern auch mit der Ungewissheit, was die Zukunft bringen würde.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

“Aufbruch der Jugend”, B1032

Original:

Jg. 4, Nr. 2

Kibbutz Giv’at Brenner

Deutsche Juden finden ein neues Zuhause in Palästina

Giv'at Brenner

Der Kibbutz „Giv’at Brenner” wurde 1928 von jungen Einwanderern aus Polen und Litauen errichtet, denen sich kurz später eine Gruppe aus Deutschland anschloss. Wie in vielen Kibbutzim waren die Lebensbedingungen in Giv’at Brenner zunächst schwierig, was einige Mitglieder dazu veranlasste, den Kibbutz zu verlassen. In den dreißiger Jahren wuchs der Kibbutz durch die Aufnahme von Neueinwanderern. Im Laufe der Zeit entwickelten sich eine erfolgreiche Landwirtschaft und verschiedene industrielle Unternehmen, wie eine Konservenfabrik und eine Fabrik für Bewässerungsanlagen. Das Bild zeigt die Schreinerei des Kibbutz im Jahr 1938. Eine Besonderheit war „Beit Jescha“, ein vegetarisches Genesungsheim, das Mitte der dreißiger Jahre eingerichtet wurde und das erste seiner Art in einem Kibbutz war.

Zwischen Täuschung, Lüge und Propaganda

SS-Presseorgan verzerrt die Wirklichkeit der Juden in Deutschland

In zwanzig Jahren wird Deutschland vom größten Teil seiner jüdischen Bevölkerung frei sein, erklärt „Das Schwarze Korps“, das Organ von Kanzler Hitlers Elitetruppe, in seiner aktuellen Ausgabe in einem Leitartikel und beschuldigt die Juden, nicht auswandern zu wollen.

Berlin

Anfang 1938 war eine große Anzahl von Spekulationen hinsichtlich der Zukunft der Juden in Umlauf. Das offizielle SS-Organ „Das Schwarze Korps“ drückt beispielsweise die Vermutung aus, dass nach dem Ausschluss der Juden aus dem geistigen und politischen Leben der Nation die Möglichkeit einer räumlichen Trennung von der Mehrheit der Juden in etwa zwanzig Jahren kein bloßes Hirngespinst sei. Laut dieser Mitteilung, die durch die Jewish Telegraphic Agency (JTA) verbreitet wird, behauptet „Das Schwarze Korps“, die Juden seien nicht gewillt, Deutschland zu verlassen. Auch sei die „geringe Anzahl“ der jüdischen Auswanderer nicht etwa auf Devisen- und andere Probleme zurückzuführen sondern darauf, dass Juden in anderen Ländern keinen Finger zu krümmen bereit seien, um ihren Brüdern dort ein Zuhause zu geben. Tatsächlich hatten 1937 bereits etwa 130.000 Juden (von insgesamt etwa 600.000) das Land verlassen.

Familie transkontinental

Physische Ängste, wirtschaftliche Sorgen und emotionale Zwangslagen

„Nebenbei, hast Du zufällig Mutters Schmuck bei Dir? Mutter hat mich nämlich gefragt, ob ich Dir etwas davon gesagt hätte, denn ich habe ihnen geraten, ihn zu verkaufen, damit sie etwas haben, wovon sie leben können.“

Chelles/New York

Im Februar 1938 diskutieren zwei Brüder, die auf verschiedenen Kontinenten leben, Joszi Josefsberg in Europa (Chelles, Frankreich) und Arthur Josefsberg in Amerika (New York) in ihrer Korrespondenz, wie man Bürgschaften für die Eltern beschaffen könnte, um diese zu retten. Aber nicht nur die noch nicht sichergestellte Emigration der Eltern beunruhigt Joszi, den Schreiber des Briefes – auch um ihr materielles Überleben macht er sich Sorgen. Überlegungen dieser Art waren weit verbreitet unter Juden, die Eltern, Geschwister und oft auch Ehepartner zurückgelassen hatten. Während der jahrelangen Bemühungen der Nazis, Juden aus zahlreichen Berufen zu verdrängen, war es für die in Deutschland zurückgebliebenen immer schwierger geworden, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

 

Einige Monate nach Abschluss des 1938Projekts erfuhr das LBI, dass der Brief bei der Transkription falsch datiert wurde. Obwohl der Brief später als Februar 1938 geschrieben wurde, beschloss das LBI, ihn aufgrund des wichtigen Inhalts weiterhin im Projekt unter dem bisherigen Datum zu belassen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Korrespondenz von Arthur Josefsberg, AR 25590

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Vom Reichsbürger zum Staatsangehörigen zum Staatenlosen

Es braucht einen Durchbruch in der Flüchtlingskrise

Genf

Bereits 1936 hatte der Völkerbund mit Sir Neill Malcolm eigens einen „Hochkommissar für Flüchtlinge“ aus Deutschland eingesetzt. Angesichts des zunehmenden Flüchtlingsstroms aus Nazi-Deutschland wurde im Februar 1938 in Genf unter der Ägide des Völkerbundes eine Regierungskonferenz einberufen. Das orthodoxe Blatt „Der Israelit“ berichtet hier vom ersten Tag der Zusammenkunft, an der Delegierte aus 14 Ländern teilnahmen. Durch die Nürnberger Gesetze hatten Juden eine Herabstufung von „Reichsbürgern“ zu bloßen „Staatsangehörigen“ erfahren. Sobald sie Deutschland verließen, mussten sie mit dem Entzug ihrer Staatsangehörigkeit rechnen. Zwei Mitglieder des Verbindungsausschusses, Bentwich aus London und Seroussi aus Paris, forderten daher, den Flüchtlingsschutz auch auf Staatenlose auszudehnen.

Erschreckende Zahlen

Der demographische Wandel der Juden in Wien

Wien

Die Zahlen, die vom Matrikelamt der Jüdischen Kultusgemeinde Wien errechnet und in der jüdischen Zeitung „Die Stimme“ veröffentlicht wurden, zeichnen ein düsteres Bild: Zwischen 1923 und 1937 ist die Zahl der Juden in Wien von 201,208 auf zwischen 166.000 und 167.000 gesunken. Die Meldung hebt besonders die Auswanderung in den Jahren 1935 und 1936 hervor. Auch ist, wohl infolge der allgemeinen Unsicherheit und der Änderung der Altersstruktur der Gemeinde, die Anzahl der Geburten von 2733 im Jahr 1923 auf bloße 720 im Jahr 1937 zurückgegangen. Unter den 2824 Todesfällen im Jahr 1937 sind 105 Selbstmorde verbucht.

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