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Ein totalitäres Regime fürchtet die freie Presse

Opfer nationalsozialistischer Berufsverbote begegnen einander im Exil

„Wenn er [Dr. Selmar Aschheim] nicht die Erlaubnis zum Praktizieren erhält, will er sich mit Bally oder anderer Pharmacie zusammentun, ihnen seinen Namen zur Verfügung stellen und damit Geld verdienen.“

Paris

Eine der ersten Amtshandlungen der neuen nationalsozialistischen Machthaber im Jahr 1933 war die Ausschaltung der unabhängigen Presse. Bereits im Februar wurde die Pressefreiheit aufgehoben, ab Oktober wurden nur noch solche Personen zu journalistischen Berufen zugelassen, die politisch zuverlässig waren und „arische“ Abkunft nachweisen konnten. Ernst Feder (geb. 1881), Jurist und einst Ressortleiter für Innenpolitik beim Berliner Tageblatt, genügte keiner dieser Anforderungen. Im Pariser Exil nahm er als einer der Gründer der Exilzeitung „Pariser Tageblatt“ (1933-36) und als Freischaffender seine journalistische Tätigkeit wieder auf. Auf den Seiten seines Tagebuches behandelt er eine Fülle von Themen, vom Persönlichen bis hin zum Philosophischen und Politischen. Unter seinen Freunden und Mit-Exilanten war der Gynäkologe und Endokrinologe Dr. Selmar Aschheim (geb. 1878). Wie Feder am 30. Dezember in seinem Tagebuch notiert, suchte der berühmte Arzt und Wissenschaftler nach alternativen Einkommensquellen, für den Fall, dass ihm die Möglichkeit verweigert würde, in Frankreich zu praktizieren. Besonders ältere Auswanderer hatten oft große Widerstände zu überwältigen, um im Ausland wieder Fuß zu fassen. Sprachbarrieren und Zulassungsprüfungen, für die Jahrzehnte der Berufspraxis nicht als Ersatz betrachtet wurden, erschwerten die Situation zusätzlich.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Ernst Feder, AR 7040 / MF 497

Original:

Archivbox 1, Tagebuch, Bd. 13, 1938

Nicht das Land ihrer Träume

Emigranten haben keine Wahl

„Ich bemühe mich aber ausserdem noch weiter um U.S.A. und England, und werde dann in Ruhe entscheiden, wo es für mich am besten sein wird. Ich habe nicht viel Lust in Pal. zu bleiben.“

Siena/Turin

Von dem Gedanken, in Palästina zu leben, war Stella nicht begeistert. Wie ihre Freundin Anneliese Riess, der sie am 28. Dezember ihre Gefühle mitteilte, war sie nach Italien geflohen. Aber auch hier war sie als Jüdin nicht willkommen: Laut der neuen Rassengesetze waren nicht in Italien geborene Juden verpflichtet, das Land innerhalb eines halben Jahres zu verlassen. Die 2000 unter den 10000 ausländischen Juden, die sich bereits vor 1919 in Italien niedergelassen hatten, waren von der Bestimmung ausgenommen. Wenigstens hatte Stella ein von der Mandatsregierung ausgestelltes Einwanderungs-Zertifikat für Palästina, und in einer Tel Aviver Klinik wartete auf sie eine unbezahlte Stelle, die freie Wohnung und Verpflegung versprach. Dennoch bemühte sie sich weiter um eine Einreisegenehmigung nach England oder in die USA. Tatsächlich war selbst eine unbezahlte Stelle mehr als viele eingewanderte Ärzte in Palästina erhoffen konnten: seit 1936 herrschte ein Überschuss an Ärzten im Land, und eine neue Einwanderungswelle nach der Annexion Österreichs im Februar 1938 („Anschluss“) hatte die Situation noch verschärft.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Anneliese Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, ordner 10

Auf Güte anderer angewiesen

Düstere Aussichten

„Wie uns bei all dem Bevorstehenden zumute ist, brauche ich Euch nicht zu schildern. Auflösung alles Bestehenden-der Familie, der Wohnung-das Verpflanzen in fremde, unbekannte Verhältnisse-überall auf Güte anderer angewiesen-Eltern und Kinder auseinandergerissen, ohne zu wissen, ob es ein Wiedersehen giebt [sic]-man hat kaum die Kraft, es im voraus auszudenken.“

Berlin/Buenos Aires

Als Ehefrau eines erfolgreichen Architekten hatte Anna Nachtlicht gesellschaftliches Prestige und Jahre des materiellen Wohlstands erlebt. 1932 jedoch zwang die Weltwirtschaftskrise das Ehepaar, seine Kunstsammlung zu versteigern, und 1933 verlor Leo seine Anstellung. Schließlich blieb dem Ehepaar keine andere Wahl als Zimmer zu vermieten. Die erwachsenen Töchter der Nachtlichts, Ursula (geb. 1909) and Ilse (geb. 1912), trugen zum Haushalt bei. Doch die Situation wurde unhaltbar. Wie Anna Nachtlicht am 17. Dezember an ihren Bruder Max in Argentinien schreibt, hatte die Familie „alle Ursache,“ nun auch noch mit dem Verlust der Wohnung in Berlin-Wilmersdorf zu rechnen. Während realistische Hoffnung darauf bestand, dass die Töchter in England Stellen bekommen würden, waren Anna und Leos Bemühungen, im Ausland Zuflucht zu finden, fast vollkommen erfolglos geblieben. Verwandte Leos in Frankreich hatten immerhin zugesagt, das Ehepaar vorübergehend unterzubringen, bis ein drittes Land ihnen ein dauerhaftes Zuhause anböte. Anna Nachtlicht bat offensichtlich nicht gern um Hilfe und beklagte die Abhängigkeit von anderen, doch die ständige Verschlechterung der Lage und dunkle Vorahnungen ließen ihr keine Wahl. Sie hatte gehört, Argentinien sei im Begriff, seine Einwanderungspolitik zu ändern und es möglich zu machen, Geschwister anzufordern. Mit unverhohlener Verzweiflung bittet sie ihren Bruder in Buenos Aires, sofort die Zusammenführung mit ihr zu beantragen und damit ihre Emigration zu ermöglichen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Familie Nachtlicht, AR 25031

Original:

Archivbox 1, Ordner 7

Die reine Wahrheit

Berufsverbot für Rechtsanwälte

„[...] ich muss immer wieder sagen, so sehr Ihr uns fehlt und so gross die Sehnsucht ist, so sind wir doch glücklich und zufrieden, dass es Euch so gut geht.“

Hamburg/Broadstairs, Kent

Julie Jonas in Hamburg und ihre Töchter Elisabeth und Margarethe hatten einander geschworen, wahrheitsgemäß über ihr seelisches Wohlbefinden Bericht zu erstatten. Fast täglich wurden Postkarten ausgetauscht. Seit wenigen Wochen waren beide Mädchen in England. Ihr Vater, der Rechtsanwalt Julius Jonas, hatte verschiedene NS-Gesetze, deren Ziel die Verdrängung von Juden und Regimegegnern aus juristischen Berufen war, überdauert. Doch mit Inkraften der „Fünften Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ am 30. November 1938 wurde er aus der Anwaltschaft ausgeschlossen. Der 15. Dezember war sein Geburtstag. Schon am Vortag hatte Julie Jonas den Kindern geschrieben, ihre Nerven seien „recht dünn“ geworden und es sei ihnen gar nicht nach Geburtstag zumute. Trotzdem bemühte sie sich tapfer, ihre Freude über das gute Befinden der Mädchen zu zeigen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Samlung Elizabeth Melamid, AR 25691

Original:

Archivbox1, Ordner 1

Mit dem Segen der Nazis

Eine jüdisches Presseerzeugnis mit dem Segen des Propagandaministeriums

„R.M.f.V.u.P. [Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda] (Abt. 2A) Gegen das Erscheinen dieser Ausgabe (Nr. 6 vom 13.XII.38) bestehen keine Bedenken. Das ,Jüdische Nachrichtenblatt‘ ist zur Verbreitung im jüdischen Bevölkerungsteil des deutschen Reichsgebietes genehmigt.“ Berlin, den 12.XII.38 gez. Hinkel (aus der Berliner Ausgabe des Jüdischen Nachrichtenblatts)

WIEN

Bis 1938 gelang es Dutzenden jüdischer Periodika, dem zunehmenden Druck des Regimes standzuhalten. Bereits ab 1935 waren sie allerdings nicht mehr im öffentlichen Verkauf erhältlich, und ab 1937 unterlag die Freiheit der Berichterstattung erheblichen Einschränkungen. Nach der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November wurde mit einem umfassenden Verbot die über 130jährige Geschichte der jüdischen Presse in Deutschland abrupt beendet. Um dennoch durch ein spezifisch an Juden gerichtetes Blatt amtliche Verlautbarungen verbreiten zu können, wurde das „Jüdische Nachrichtenblatt“ ins Leben gerufen, dessen erste Ausgabe am 23. November in Berlin herauskam. Zwar von Juden redigiert, unterlag es der völligen Kontrolle durch das Reichministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Am 13.12. erschien erstmals die Wiener Ausgabe.

Banken als Komplizen

Deutsche Banken sperren jüdische Konten

„Selbst das Kind habe ich weggeschickt. Die Angst und Unsicherheit im eigenen Haus ist zu gross. Ich sitze und schreibe an Patienten und bitte die Rechnung zu bezahlen. Zum ersten Mal in meinem Leben muss ich um Geld bitten.“

Berlin

Als Doppelverdienern ging es den Nathorffs jahrelang materiell recht gut: die Kinderärztin Hertha Nathorff war Leiterin eines vom Roten Kreuz betriebenen Kinder- und Säuglingsheimes in Berlin-Charlottenburg, ihr Mann Erich Internist am Krankenhaus Moabit. Daneben führte das Ehepaar eine private Praxis. Kurz nach Machtantritt der Nazis verloren beide ihre Stellen, führten aber weiter die gemeinsame Praxis, bis im September 1938 allen jüdischen Ärztinnen und Ärzten die Approbation entzogen wurde. Erich Nathorff war unter den wenigen, die als sogenannte „Krankenbehandler“ ausschließlich jüdische Patienten versorgen durften. Doch während der Novemberpogrome wurde er festgenommen und im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert. Am 4. Dezember vertraute Hertha Nathorff ihrem Tagebuch an, sie habe wegen der Unsicherheit der Lage den Sohn „weggeschickt“ und stecke in finanziellen Schwierigkeiten: Infolge der Politik der Nazis, die Konten von Juden zu sperren, die materiell zur Auswanderung in der Lage waren, hatte sie keinen Zugriff auf ihr Geld.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Hertha Nathorff, Reichstagsbrand, ME 460

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Berufsverbot in allen Künsten

Ungeeignet für die Förderung deutscher Kultur

„Nach dem Ergebnis meiner Überprüfung der in Ihren persönlichen Verhältnissen begründeten Tatsachen besitzen Sie nicht die erforderliche Eignung und Zuverlässigkeit, an der Förderung deutscher Kultur in Verantwortung gegenüber Volk und Reich mitzuwirken.“

Berlin/Dresden

Die Arbeiten des expressionistischen Malers und Grafikers Bruno Gimpel waren im Dritten Reich als „entartete Kunst“ eingestuft. Weder sein freiwilliger Dienst als Lazarettgehilfe im Ersten Weltkrieg noch seine „Mischehe“ mit einer „arischen“ Frau ersparten ihm die üblichen Repressalien: Am 22. November 1938 erhielt er einen Brief von der Reichskammer der bildenden Künste, die ihm erneut die Mitgliedschaft verweigerte und ihm Berufsverbot in allen Sparten seines Metiers erteilte. 1935 hatte diese Institution des Dritten Reiches schon einmal ein Aufnahmegesuch des Dresdner Künstlers abgeschlagen. Seit 1937 blieb ihm zum Broterwerb nichts anderes übrig, als jüdischen Kindern Zeichenunterricht zu erteilen.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Sammlung:

Schreiben des Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste mit der Ablehnung des Antrages auf Mitgliedschaft von Bruno Gimpel

Neue Hoffnung auf Hilfe

Die Feldsteins in Wien hoffen auf Hilfe von den Feldsteins in Los Angeles

„Es hat mich sehr gefreut zu hören, dass Sie uns helfen werden, nach Amerika zu kommen. Ich hoffe Ihre Kinder sind im selben Alter wie ich, und ich werde gute Freunde haben.“

Wien/Los Angeles

19 Jahre lang hatte Fritz Feldstein zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten bei einer Wiener Bank gearbeitet. Doch 1938, nachdem Deutschland das benachbarte Österreich annektiert hatte, verlor er seine Stelle. Am 5. Juli ließ sich die Familie beim Amerikanischen Generalkonsulat registrieren, aber zur Einwanderung wurden Bürgschaften benötigt. Nach Monaten zutiefst beunruhigender politischer Veränderungen wagte Fritz Feldstein einen ungewöhnlichen Schritt: Am 16. Oktober wandte er sich an einen Julius Feldstein in Los Angeles, von dem er hoffte, er sei ein Verwandter, und appellierte an “die wohlbekannte amerikanische Hilfsbereitschaft”. Bald entwickelte sich ein Briefaustausch, an dem auch Fritz’ Ehefrau Martha und die gemeinsame Tochter Gerda beteiligt war. Die Elfjährige war nicht nur eine geschickte Klavierspielerin, sie hatte offenbar auch ein ausgesprochenes Sprachtalent: Am 20. November schreibt sie den Feldsteins zum ersten Mal – auf Englisch.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Fritz Feldstein Familie, AR 3250

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Vom Regen in die Traufe

Schwindender Freundeskreis

Seit 14 Tagen sind die alten Goldmanns sang- und klanglos verschwunden. Wir wissen nicht, wo sie sind.

BERLIN

Schon einmal hatten die Intrators fliehen müssen: Die judenfeindliche Atmosphäre in ihrer polnischen Heimat hatte Rachel (Rosa) und Jakob Intrator 1905 veranlasst, ihren Wohnsitz nach Berlin zu verlegen. Der im selben Jahr geborene Sohn Alexander wurde ein erfolgreicher Konzertgeiger. Der fünf Jahre jüngere Gerhard studierte Jura, doch kaum waren die Nazis an die Macht gebracht worden, begannen sie, systematisch jüdische Juristen zu verdrängen. Angesichts der Aussichtslosigkeit einer juristischen Karriere in Deutschland emigrierte der 27jährige 1937 in die Vereinigten Staaten. Nun war er massiv bemüht, die Eltern nachzubringen. Am 19.11. berichtete ihm sein Vater Jakob vom Erhalt der zur Einwanderung nötigen Bürgschaft (“affidavit”). Allerdings sei in näherer Zukunft nicht mit Visen zu rechnen. Unterdessen wurde der Kreis der Verwandten und Freunde immer kleiner: Manche wurden von den Nazis zur Rückkehr nach Polen gezwungen. Andere verschwanden einfach.

QUELLE

Institution:

Mit freundlicher Genehmigung von Joanne Intrator

Sammlung:

Brief von Jakob Intrator an Gerhard Intrator

Glück im Unglück

Totale Zerstörung und ein bisschen Glück

„Es ist bei uns nicht ein Stück ganz geblieben. Alles Geschirr kaputt, alles Essbare auf den Boden geschmissen, Mehl, Zucker etc., alles zerstreut, zum Teil noch zertrampelt, wie Kuchen etc., man kann sich das nicht vorstellen.“

Ludwigshafen/New York

Richard Neubauer hatte Glück: Als während der Novemberpogrome, in der Nacht vom 9. auf den 10. November, Nazi-Schläger den Besitz seiner Verwandten in Deutschland zerstörten, war er bereits in New York, in Sicherheit. In diesem Brief beschreibt ihm sein Bruder Fritz in lebendigen Einzelheiten die schreckliche Zerstörung, die über die Juden und ihren Besitz gekommen war und den Schrecken, den das brutale Vorgehen der Nazis hervorgerufen hatte. Die Brüder hatten von ihrem Onkel die Druckerei Neubauer in Ludwigshafen geerbt, die infolge der Zerstörung der freien Presse durch die Gleichschaltung unter den Nazis sämtliche Geschäfte eingebüßt hatte. Dank einer Reihe glücklicher Zufälle waren Fritz, seine Frau Ruth und ihre beiden Kinder im Besitz von Fahrkarten, mit denen sie legal in die Schweiz einreisen konnten. Ruth hatte sie aus den Trümmern ihrer Wohnungseinrichtung gerettet.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Otto Neubauer, AR 25339

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Jahreschronik 1938

Die Novemberpogrome

Die in Brand gesetzte Synagoge in Bamberg in der Nacht vom 9. auf den 10. November.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November kommt es in Deutschland, Österreich und dem Sudentenland zu gewaltsamen Übergriffen auf die dort leben den Juden. Die Pogrome sind staatlich sanktioniert. Mehr als 90 Juden werden in dieser Nacht getötet. 267 Synagogen werden in Brand gesteckt oder auf andere Weise zerstört, Geschäften, die von Juden geführt werden, werden die Fenster eingeworfen, Gemeindezentren und Privathäuser werden geplündert und zerstört. Nationalsozialistische Randalierer schänden jüdische Friedhöfe, Krankenhäuser und Schulen. Polizei und Feuerwehr schauen tatenlos zu. Die „Kristallnacht“ stellt einen doppelten Wendepunkt dar im ohnehin schon schicksalsträchtigen Jahr 1938: Die antijüdischen Diskriminierungen der Nazis kennen keine Grenzen mehr. Für viele Juden sind die November-Pogrome das letzte Warnsignal, die Flucht zu ergreifen.

Zur Jahreschronik 1938

Rausschmiss mit Pensionsentzug

Martin Lachmann verliert seine Anstellung und die längst zugesicherte Pension

„Ich könnte aus diesem Bestand nicht diese Rente beziehen, da aus einem Bestand, der zum grössten Teil arisch genannt werden muss, ein Nicht-Ar. nicht Bezüge haben dürfte.“

BERLIN

Niemand zog Martin Lachmanns außergewöhnlichen Erfolg als Versicherungsagent im Dienst der Allianz in Zweifel. Dennoch beschloß die Gesellschaft „unter dem Druck der Verhältnisse“, ihm nach 31 Jahren engagierter Mitarbeit zu kündigen. In Anerkennung der Leistungen Lachmanns wurde versucht, ihn nach Zürich zu versetzen. Der Erfolg dieser Bemühungen war allerdings von den Schweizer Einwanderungsbehörden abhängig. Zu allem Unglück war Lachmann erklärt worden, er habe keinen Anspruch mehr auf die ihm vertraglich zugesicherte Pension. Es war unfassbar für ihn, dass ein Vertrag, der lange vor dem politischen Umbruch in Deutschland abgeschlossen wurde, nun plötzlich für ungültig erklärt werden konnte. Die Pension, die dem herausragenden Angestellten von der Allianz „freiwillig“ angeboten wurde, betrug gerade ein Drittel seines Gehalts und war weit davon entfernt, seine Bedürfnisse zu decken.

Vom Arzt zum „Krankenbehandler“

Diskriminierende Vorschriften für jüdische Ärzte

Die NS-Behörden nannten jüdische Ärzte fortan nur noch “Krankenbehandler” und zwangen sie, ihre Praxisschilder klar zu kennzeichnen.

BERLIN

3 ½ cm soll die Dreieckshöhe des Davidssterns betragen, den jüdische „Krankenbehandler“ künftig an ihrem Praxisschild anzubringen haben. Die Vorgaben im Schreiben der Berliner Reichsärztekammer vom 12. Oktober 1938 sind peinlich genau – und sie hören nicht bei Milimeterangaben auf: „Himmelblau“ solle die Hintergrundfarbe des Schildes sein, der Davidstern in der linken oberen Ecke die Farbe „zitronengelb“ haben. Mit dem 30. September war laut Reichsbürgergesetz die Approbation jüdischer Arzte erloschen; wenigen nur wurde erlaubt, als „Behandler“ ausschließlich jüdischer Patienten weiter zu praktizieren. Dass die Gängelung ihren Höhepunkt jedoch noch nicht erreicht hat, deuten die Verfasser dieses Schreibens ebenfalls noch an: um den Forderungen des „Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen“ (Inkrafttreten 1. Januar 1939) Rechnung zu tragen, sei es ratsam, seinen Namen auf dem Praxisschild doch am besten schon jetzt mit „Israel“ oder „Sara“ ergänzen – so könne man spätere Unkosten vermeiden.

 

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Sammlung:

Rundschreiben der Reichsärztekammer über die Bestimmungen für "Jüdische Behandler", Sammlung Familie Hirschberg

Antisemitismus auch in Italien

antisemitismus-auch-in-italien

„Die Ehe zwischen ,arischen‘ Italienern und Mitgliedern der hamitischen (nordafrikanischen), semitischen oder anderen ,nicht arischen‘ Rassen war verboten.“

Rom

Der faschistische Großrat Italiens – ein zentrales Organ des Mussolini-Regimes – veröffentlichte Anfang Oktober eine „Erklärung über die Rasse“, die an vielen Stellen an die Nürnberger Gesetze erinnert. Durch und durch antisemitisch, legte die Schrift zahlreiche Regelungen zur Ehe, zur italienischen Staatsbürgerschaft und zur Tätigkeit von Juden im italienischen Staatsdienst fest. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 9. Oktober, nur wenige Tage nach seiner Veröffentlichung, über das faschistische Regelwerk. Fortan sollten „Mischehen“ zwischen „arischen“ Italienern und „Mitgliedern der hamitischen (nordafrikanischen), semitischen oder anderen „nicht arischen“ Rassen“ verboten sein. Eine weitere Regel traf besonders auch diejenigen Juden hart, die aus Österreich und Deutschland nach Italien emigriert waren: Alle Juden, die sich nach 1919 in Italien niedergelassen hatten, sollten die italienische Staatsbürgerschaft verlieren und ausgewiesen werden.

 

 

Wenn das Private politisch wird

Ein jüdischer Arzt soll seine Schweigepflicht brechen

„... mir möglichst umgehend eine Mitteilung darüber zukommen zu lassen, ob Sie während der Italienerbesuche in Stuttgart deutsche Mädchen oder Frauen an Geschlechtskrankheiten behandelt haben, die angaben, von Italienern angesteckt worden zu sein.“

Stuttgart

Dr. Ernst Schaumberger war Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, ein eigentlich unpolitischer Beruf. Die nationalsozialistische Rassen- und Sittenideologie allerdings hatte den Geschlechtsverkehr zum Objekt politischen Interesses erklärt, und damit wurde auch Dr. Schaumbergers Arbeitsfeld politisch. Das vertrauliche Gesuch, das er am 20. September 1938 vom NS-Amt für Volksgesundheit in Stuttgart erhielt, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Er sollte mitteilen, ob er Mädchen und Frauen wegen Geschlechtskrankheiten behandelt habe, die sie sich beim Verkehr mit Italienern angesteckt hatten. Die sogenannte „Rassenhygiene“ im Nationalsozialismus schreckte also nicht davor zurück, ärztliche Schweigepflichten zu hintergehen. Als Dr. Schaumberger dieses Schreiben erhielt, waren seine Tage als praktizierender Arzt bereits gezählt. Schon im Juli hatte man ihn öffentlich als „jüdischen Arzt“ gekennzeichnet und eine Novelle des NS-Reichsbürgergesetzes erlassen, dass mit dem 30. September 1938 die Zulassungen jüdischer Ärzte erlöschen sollten. Trotzdem wurde von ihm erwartet, mit den Nazis zu kooperieren.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Irene Shomberg, AR 6256

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Vom Schwur, niemandem zu schaden

Ein jüdischer Arzt sorgt sich wegen beruflicher Konsequenzen der Nazi-Gesetze

„Mir geht in diesen Wochen oft ein lateinischer Vers des Horaz durch den Kopf, der in deutscher Übertragung etwa so lautet: Und wenn die Welt zusammenstürzt, wird sie einen unerschütterten Mann erschlagen.“

KÖLN

Erstaunlich viele deutsche Ärzte hatten anscheinend nicht nur keine Skrupel, sich durch das Nazi-Regime vereinnahmen zu lassen, sondern unterstützten aktiv dessen rassistische und eugenische Grundsätze, wobei sie bequem außer Acht ließen, dass sie doch vorgeblich dem Hippokratischen Eid mit seiner Forderung, keinen Schaden zuzufügen, verpflichtet waren. Nicht genug damit, dass sie eine Ideologie verbreiteten, die Juden zu einer „Gefahr für die deutsche Rasse“ erklärte, schlossen medizinische Organisationen in Deutschland Juden aus und machten es ihnen zunehmend schwerer, ihren Unterhalt zu verdienen. Unter diesen Umständen überrascht es nicht, dass Dr. Max Schönenberg, ein Kölner Arzt, und seine Frau Erna, eine Musikerin, die Auswanderung ihres Sohnes Leopold 1937 nach Palästina unterstützt hatten, obwohl der Junge zu dem Zeitpunkt erst 15 Jahre alt war. In diesem Brief an seinen Sohn vom 18. September 1938 spricht Dr. Schönenberg verschiedene gewichtige Themen an, darunter die gerade erfolgte Entscheidung des Regimes, jüdischen Ärzten die Approbation zu entziehen und seine Ungewissheit hinsichtlich seiner beruflichen Zukunft (manche jüdischen Ärzte erhielten Erlaubnis, jüdische Patienten zu behandeln).

QUELLE

Institution:

NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Original:

Best. 46

Schoenbergs Exil

Gleichzeitig unverstanden und bewundert

Los Angeles

Arnold Schoenberg war ein Pionier moderner Kompositionstechniken. Aber seine Musik spaltete auch die Geister – von den einen wurde sie frenetisch gefeiert, von anderen als Lärm zurückgewiesen. Am 13. September feierte der gebürtige Wiener (*1874) seinen 62. Geburtstag. Der Musiker lebte zu diesem Zeitpunkt schon fast fünf Jahre in den Vereinigten Staaten. Schoenberg, Sohn jüdischer Eltern, hatte kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten seinen Posten an der Preußischen Akademie der Künste verloren. Er floh daraufhin zunächst nach Paris und emigrierte dann in die Vereinigten Staaten. In Los Angeles konnte er seine Lehrtätigkeit an der University of Carlifornia wieder aufnehmen.

Ein ehemaliger Zufluchtsort

Wachsender Anti-Semitismus in Italien

Rom/Ostia Antica

Rom ist das Paradies eines jeden Althistorikers, eine Stadt, die nur so vor Geschichte strotzt. Für Herbert Bloch, seit 1935 Doktor der Römischen Geschichte, war sie aber auch noch mehr: ein Zufluchtsort vor dem nationalsozialistischen Deutschland. Der gebürtige Berliner war kurz nach der Machtergreifung Hitlers als Student an die Universtität von Rom gekommen. 1938 war er Teil des Ausgrabungsteams, das große Teile des Geländes von Ostia Antica, dem antiken Seehafen Roms, freilegte und untersuchte. Das Foto zeigt Bloch am 11. September 1938 vor Teilen der Ausgrabungen. 1938 war aber auch das Jahr, in dem der vorher schon latent greifbare Antisemitismus des faschistischen Italien offiziell zur Staatsräson wurde. Nur wenige Tage zuvor hatte Mussolini die ersten von vielen antisemitischen Rassengesetzen erlassen. Herbert Bloch trafen die „Maßnahmen zur Verteidigung der Rasse in der faschistischen Schule“ vom 5. September 1938 besonders hart. Das Gesetz schloss u.a. alle jüdischen Lehrkräfte aus Schulen und Universitäten aus. Rom konnte nicht länger Blochs Zufluchtsort sein.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herbert Bloch, AR 25628

Original:

Archivbox 2, Ordner 12

Nicht aufgeben

Der Arzt Max Wolf will dem drohenden Berufsverbot entgehen

„Ihrem Wunsch gemäß bestätigen wir Ihnen, dass Sie von 1924 bis 30. September 1938 ordentliches Mitglied der Gesellschaft der Ärzte in Wien waren.“

Wien

Dr. Max Wolf hatte sein Fachgebiet schon vor Jahren gefunden: Seit 1922 arbeitete Wolf als Dermatologe in der Wiener Poliklinik, nebenher publizierte er zahlreiche Fachaufsätze. Studiert hatte der gebürtige Wiener noch zur Zeit des Ersten Weltkrieges, kurz darauf hatte er an der italienischen Front als Lazarett-Arzt gedient. Nun aber stand seine Karriere vor dem Aus. Nach dem „Anschluss“ hatten die Nazis bereits jüdische Anwälte und Richter in Österreich mit einem Berufsverbot belegt, ein Verbot für jüdische Ärzte stand kurz bevor. Max und seine Frau Margarata Wolf bereiteten indessen ihre Emigration vor. Die Bescheinigung über Wolfs Mitgliedschaft in der Wiener Gesellschaft der Ärzte lässt erahnen: Max Wolf hatte nicht vor, seinen Beruf im Exil aufzugeben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Manx und Margareta Wolf, AR 10699

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Widerstand durch Passfälschung

Der Postausweis des Felix Perls

Berlin

Der jüdische Kaufmann Felix Perls wird 1883 in Beuthen in Oberschlesien geboren. Zum 1. April 1938 muss er aufgrund von NS-Bestimmungen seine Tätigkeit als Direktor der Oberschlesischen Holzindustrie-Aktiengesellschaft aufgeben. Zwei Monate später ziehen er und seine Frau Herta nach Berlin-Grunewald, um den Anfeindungen in Beuthen zu entgehen. Perls‘ Postausweis aus dem Jahr 1938 wurde von ihm gefälscht: Er änderte das Ausgabedatum und die Gültigkeitsdauer. Postausweiskarten wurden für den Empfang vertraulicher Postsendungen benötigt, wurden aber auch außerhalb der Post als Ausweisdokument anerkannt.

Not macht erfinderisch

Intellektuelle planen Wohnkolonie in USA für arbeitslose jüdische Ärzte

„Sie wissen, dass wir alle vom 1. Oktober an nicht mehr Ärzte sind; die deutsche Approbation ist allen unseres Glaubens entzogen. Es gibt natürlich eine Menge, die dann nicht wissen, wovon zu leben und auch hier nicht weiter leben können.“

BERLIN/NEW YORK

Die Existenzkrise jüdischer Ärzte in Deutschland, die verschiedene Stadien (Ausschluss aus dem öffentlichen Gesundheitswesen und aus Krankenkassen, Verbot der Zusammenarbeit zwischen jüdischen und „arischen“ Ärzten etc.) durchlaufen hatte und durch das Berufsverbot im Juli 1938 eskalierte, machte schöpferische Lösungsansätze erforderlich. Am 25. August schrieb Dr. Felix Pinkus, ein renommierter Berliner Dermatologe, an seinen Freund Sulzberger in Amerika, um ihn als Mitstreiter für ein Hilfsprojekt zu gewinnen: Der Soziologe und Nationalökonom Franz Oppenheimer war darauf gekommen, in den Vereinigten Staaten eine Art Wohnkolonie für ehemalige Ärzte einzurichten, deren Finanzierung durch Spenden amerikanisch-jüdischer Ärzte bestritten werden sollte. Laut Oppenheimers Berechnungen wäre damit zu rechnen, dass etwa 1000 Ärzte diese Lösung in Anspruch nehmen würden. (Dr. Pinkus schätzte, es wären eher 3000.)

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Felix Pinkus Familie, AR 25456

Original:

Archivbox 1, Ordner 41

Zugzwang

Joachim Weinert erlebt Drängen und Warten im Kampf mit der Bürokratie

„Ich behalte mir strafrechtliche Maßnahmen gemäß § 33 Dev.V.O. vor und setze ihnen zur Erledigung eine Frist von 3 Tagen.“

WIEN

Innerhalb der ersten Monate nach der Annexion Österreichs durch die Nazis hatte Dr. Joachim Weichert, ein in der Tschechoslowakei geborener Rechtsanwalt, den größten Teil seiner Klienten verloren. Er hatte keine Wahl, als mit der Zusammenstellung der für die Emigration notwendigen Dokumente zu beginnen. Im Juni wurde die Familie vom Generalkonsulat der Vereinigten Staaten benachrichtigt, gültige Bürgschaften und andere Dokumente für sie seien für sie aus Amerika eingetroffen. Da jedoch die tschechische Quote für den Augenblick erschöpft war, wurden sie auf eine Warteliste gesetzt. Außerdem wurde ihnen Mitteilung gemacht, dass innerhalb der nächsten acht Monate nicht mit dem Erhalt der Visen zu rechnen sei. Am 22. August war es fast zwei Wochen her, dass Dr. Weichert von der Devisenstelle in Wien aufgefordert worden war, innerhalb einer Woche eine detaillierte Liste seines Besitzes aufzustellen. In dieser offiziellen Mitteilung vom 22. August wird ihm ein Ultimatum von drei Tagen gestellt, nach dessen Ablauf er mit strafrechtlichen Massnahmen rechnen müsse.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Weichert Familie, AR 25558

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Schrittweise Arisierung

Jüdische Ärzte sollen nun die Zulassung verlieren

„Die Anzahl der Juden, die von dieser neuen Verordnung betroffen sind, wird auf zwischen 6000 und 7000 geschätzt.”

Berlin

Der Anteil von Juden unter den deutschen Ärzten war so hoch, dass den Nazis anfänglich ein umfassendes Berufsverbot nicht opportun erschien. Einstweilen begnügten sie sich damit, durch die „Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen“ vom 22. April 1933 „nicht-arischen“ Ärzten die Zulassung zur Arbeit in Zusammenhang mit den gesetzlichen Krankenkassen zu entziehen. Ausnahmen waren möglich, wenn sie bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs praktiziert hatten oder beweisen konnten, dass sie selbst oder ihr Vater Frontkämpfer gewesen seien. Ab 1937 konnten Juden nicht länger den Doktortitel erwerben. In einer Nachricht vom 3. August weist die Jewish Telegraphic Agency auf die Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz hin, die einige Tage zuvor erlassen worden war und laut der jüdische Ärzte mit Gültigkeit vom 30. September ihre Zulassung verlieren würden.

Nach sieben Tagen, Kanada

Anton Felix Perl erhält erzbischöfliche Hilfe

Stempel für zivile Begutachtung

Quebec

In den Augen der Nazis machte die Tatsache, dass die Eltern Anton Felix Perls zum Katholizismus übergetreten waren und er als Säugling getauft worden war, ihn nicht weniger jüdisch. Nach dem Besuch einer katholischen Schule in Wien, des Schottengymnasiums, studierte er Medizin und machte 1936 seinen Abschluss. Nach zwei Jahren als Assistenzarzt im Allgemeinen Krankenhaus wurde er aus „rassischen“ Gründen entlassen. In dieser spannungsreichen Situation trat Dr. Perl mit führenden katholischen Geistlichen in Kanada in Verbindung. Mit Hilfe der Erzbischöfe von Winnipeg und Regina wurde seine Einwanderung in die Wege geleitet. Nach einer sieben Tage langen Reise erreichte er Kanada und erhielt am 29. Juli 1938 den Stempel für zivile Begutachtung von den Einwanderungsbehörden in Quebec. Kanadas Einwanderungspolitik war extrem restriktiv, besonders gegenüber Menschen, die aus religiösen oder „rassischen“ Gründen verfolgt wurden. Diesmal erwies sich Dr. Perls Taufschein doch noch als hilfreich.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Perl Familie Sammlung, AR 25190

Original:

Archivox 1, Ordner 1

Die Abreise eines Gelehrten

Ismar Elbogen, ein großer Geschichtler des deutschen Judentums, verlässt sein Heimatland

„Professor Ismar Elbogen, ein bekannter jüdischer Gelehrter, bricht auf in die Vereinigten Staaten, um sich dort dauerhaft niederzulassen.“

BERLIN

Dank Jahrzehnten wissenschaftlicher Arbeit, besonders seiner grundlegenden Werke „Die Religionsanschauungen der Pharisäer“ (1904) und „Der Jüdische Gottesdienst in seiner Entwicklung“ (1913), war Prof. Ismar Elbogen international gut bekannt als er 1938 nach Jahren des Zögerns beschloss, auszuwandern. Seine Bemühungen als Vorsitzender des Erziehungsausschusses der Reichsvertretung der Juden in Deutschland waren durch das Regime erheblich behindert worden, und sein letztes in Deutschland veröffentlichtes Buch, „Die Geschichte der Juden in Deutschland“ (1935) war durch das Propagandaministerium massiv zensiert worden. In den zwanziger Jahren hatten ihm verschiedene Hochschulen in den Vereinigten Staaten (Jewish Institute of Religion, Hebrew Union College in Cincinnati; einen Ruf an die Columbia University hatte er abgelehnt) Lehraufträge erteilt, so dass er vielfältige Kontakte nach Übersee besaß, als die Zeit kam, Deutschland zu verlassen. In der heutigen Ausgabe informiert die Jewish Telegraphic Agency ihre Lehrer über die bevorstehende Abreise des Gelehrten.

Im Gedenken

Ludwig Schönmanns Goldene Jahre nehmen eine dunkle Wendung

„Trauer-Album dem Andenken meines teueren Vaters Ludwig Schönmann“

Wien

Ludwig Schönmann, der 1865 in Neu-Isenburg in Deutschland geboren wurde, war als junger Mensch nach Österreich gekommen, was ihm die ersten fünf Jahre des Hitlerismus ersparte. Doch von dem Tag an, als die Wehrmacht im März 1938 in Österreich einmarschierte, um das Nachbarland zu annektieren, war der über Siebzigjährige gezwungen, Ähnliches mitzuerleben, wie die Juden in Deutschland – nur in schnellerer Abfolge: Jüdische Geschäfte wurden zerstört und geplündert, ihre Besitzer enteignet, andere Juden öffentlich gedemütigt, Glaubensgenossen aus dem Burgenland vertrieben, wo sich die ersten Juden im 13. Jahrhundert niedergelassen hatten, jüdische Studenten und Dozenten wurden aus der Universität verdrängt, die berüchtigten Nürnberger Gesetze eingeführt, was zu der Entfernung der Juden aus dem öffentlichen Dienst führte, und anderes mehr. Die erste Seite eines Gedenkalbums zu Ludwig Schönmanns Ehren nennt den 24. Juli als seinen Todestag.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Sammlung:

Traueralbum für Ludwig Schönmann

Original:

Archiv. Inv. Nr. 1094

Kein Berg zu hoch

Von den Nazis getrennt, bleiben Käthe und Regina in Kontakt

„Es lohnte sich um dessetwillen schon oft etwas wie ein Tagebuch zu führen. Und auch noch um vieler anderer Dinge Willen, die nur in unserem Jahrhundert sich zutragen. Tuen [sic] Sie dies, wenn Sie können, Tapfere, Bewunderungswürdige. Sie haben wohl manches zu sagen, aus diesem Abstand, Reflektionen, wirkliche, nicht erkünstelte.“

St. Gallen/Binghamton, New York

Käthe Hoerlin und Regina Ullmann hatten mindestens drei Dinge gemeinsam: Beide hatten jüdische Vorfahren, beide traten zum Katholizismus über und bei beiden wirkte das Nazi-Regime massiv auf den Lebensverlauf ein. Regina Ullmann, eine Dichterin und Schriftstellerin, wurde vom Schutzverband deutscher Schriftsteller ausgeschlossen und verließ Deutschland, um in ihre Heimatstadt St. Gallen (Schweiz) zurückzukehren. Käthe Hoerlins erster Ehemann, der Musikkritiker Willi Schmid, war 1934 aufgrund einer Verwechslung von den Nazis hingerichtet worden.Tage nach dieser Tragödie erfuhr Käthe, die als Pressesprecherin der verhängnisvollen Nanga Parbat-Expedition fungierte, dass neun der Teilnehmer tödlich verunglückt waren. Dank der Hilfe eines Nazi-Beamten, der ihr nach Schmids Tod mit ihren Entschädigungsforderungen geholfen hatte, bekam sie 1938 Erlaubnis, den nicht-jüdischen Bergsteiger und Physiker Hermann Hoerlin zu heiraten (Eheschließungen zwischen „Halbjuden“, wie ihre Klassifizierung lautete, und „deutschblütigen Personen“ erforderten Sondergenehmigungen, die nur selten erteilt wurden). — Diesen Brief voller aufrichtiger Empathie und Interesse am Wohlergehen der Freundin in der neuen Umgebung und des Ausdrucks ihrer katholischen Identität schrieb Regina Ullmann gleich nach der Emigration der Hoerlins in die Vereinigten Staaten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Kate und Herman Hoerlin Sammlung, AR 25540

Original:

Archivbox 2, Ordner 13

Wahlverwandschaft

Gemeinsamer Nachname gibt Mut zum Risiko

„Bevor ich weiter ausführe, möchte ich ausdrücklich sagen, dass meine Familie Ihre Ankunft in New York kaum erwarten kann.“

NEW YORK/WIEN

Als der 28-jährige Wiener Kurt Kleinmann an Familie Kleinman in Amerika schrieb, hätte er nicht auf eine freundlichere, überschwänglichere Antwort hoffen können als die von der 25-jährigen Helen. Nachdem er die Adresse einer Familie Kleinman in den USA gefunden hatte, bat Kurt die völlig Fremden in einem Brief vom 25. Mai, ihm durch Übernahme einer Bürgschaft zu helfen, Österreich zu verlassen. Er hatte in Wien ein Jura-Studium absolviert und führte nun die väterliche Weinhandlung. Helen übernahm bereitwillig die Theorie, dass die Kleinmanns und die Kleinmans tatsächlich miteinander verwandt sein könnten und versprach ihrem „Cousin“, ihm innerhalb einer Woche eine Bürgschaft zu beschaffen. Liebenswürdig und lebhaft versicherte sie ihm, die Kleinmans würden mit ihm korrespondieren, um ihm die Zeit bis zur Abreise kürzer erscheinen zu lassen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Kurt und Helen Kleinman Sammlung, AR 10738

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Absage

Von der Post gekündigt weil sie Jüdin war, sucht Johanna eine neue Anstellung

„Ich bin 37 Jahre alt, war 14 Jahre auf dem Postamt Berlin und bin auf Grund des Arierparagraphen entlassen worden. Das Amt war mit meinen Leistungen sehr zufrieden.“

Berlin

„Der betreffende Posten ist bereits anderweitig besetzt“, hieß es lapidar als Antwort zu einer Bewerbung der ehemaligen Postbeamtin Johanna Rosenthal vom 11. Juli 1938. Nach 14 Dienstjahren bei der Deutschen Reichspost war sie Jahresende 1933 entlassen worden. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ hatte ihre Beschäftigung als Jüdin im öffentlichen Dienst, was sie in ihrem Schreiben auch anmerkt, unmöglich gemacht. Die ihr übergangsweise zugesprochene Rente von 68 Reichsmark im Monat reichte indes nicht zum Lebensunterhalt. So versuchte sie, als einfache Telefonistin Arbeit zu finden.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Bewerbungsschreiben von Johanna Rosenthal mit Ablehnungsvermerk ; Inv.Nr. Do2 2002/762

Papiere in Ordnung?

Die Unbedenklichkeitsbescheinigung eines Zehnjährigen

„Gegen die Ausreise des Hans Weichert, Gymnasiast (10 Jahre) [...] habe ich keine Bedenken.”

Wien

Juden, die sich der Schikane und physischen Gefahr unter den Nazis durch Auswanderung entziehen wollten, mussten eine große Anzahl von Dokumenten beschaffen, um sowohl die Nazi-Behörden als auch die Behörden im Zielland zu befriedigen. Um Erlaubnis zu erhalten, das Land zu verlassen, mussten die Antragsteller nachweisen, dass sie dem Reich keine Steuergelder schuldeten. Zusätzlich zu den Steuern, die allen Staatsangehörigen auferlegt waren, mussten zukünftige Auswanderer die sogenannte „Reichsfluchtsteuer“ zahlen. Das ursprüngliche Ziel dieser während der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre eingeführten Steuer war, ein weiteres Ausbluten der Kassen durch Verlust von Steuereinkünften zu verhindern. Unter den Nazis jedoch war das Hauptziel, Juden zu schikanieren und auszubluten. Die Steuerbehörden der Nazis leisteten gründliche Arbeit: als Familie Weichert aus Wien, bestehend aus dem Rechtsanwalt Joachim Weichert, seiner Frau Käthe und den Kindern Hans und Lilian, sich auf das Weggehen vorbereiteten, würde selbst für den zehnjährigen Sohn eine steuerliche Unbedenklichkeitserklärung ausgestellt. Die Gültigkeitsdauer betrug einen Monat. Alle Dokumente innerhalb der Gültigkeitsdauer bereit zu haben, wenn die eigene Quotennummer an die Reihe kam, war eine weitere Herausforderung, der sich die Auswanderungswilligen stellen mussten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Weichert Familie Sammlung, AR 25558

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Das Loew-Sanatorium

Jüdische Ärzte werden arbeitslos als das bekannte Sanatorium schließt

„Zahlreiche jüdische Ärzte in Wien haben durch die Schließung des berühmten Loew-Sanatoriums ihren Lebensunterhalt verloren.“

Wien

Bis zu seiner zwangsweisen Schließung, von der die Jewish Telegraphic Agency am 7. Juli 1938 berichtete, diente das Loew-Sanatorium als Privatkrankenhaus für Wohlhabende in Wien. Prominente jüdische und nicht-jüdische Patienten kamen hierher, um sich behandeln oder operieren zu lassen. Unter den vielen illustren Patienten der Einrichtung waren der Philosoph Ludwig Wittgenstein, der Komponist Gustav Mahler, der Maler Gustav Klimt und die Gesellschaftsdame und Komponistin Alma Mahler-Werfel. Der Bericht der JTA erwähnt insbesondere die jüdischen Ärzte, die infolge der Schließung des Krankenhauses ihre Anstellung verloren. Laut der von den Nazis aufgestellten Kriterien waren unter Wiens 4900 Ärzten nicht weniger als 3200 Juden und „Judenstämmlinge“, während etwa ein Drittel der Ärzte im ganzen Land jüdischer Abkunft waren.

Dr. Singers Koffer

Lilian Singer war eine Pionierin und Ärztin in Prag

PRAG

Lilly Popper (später Lilian Singer) wurde 1898 in Brünn geboren. Nach dem Gymnasium nahm sie in Wien ein Medizinstudium auf, das sie in Berlin weiterführte. Dort machte sie 1923 ihren Führerschein, was für Frauen gerade erst gesellschaftlich akzeptabel zu werden begann. Nach mehreren Jahren Unterbrechung, die sie teils teils bei einer Firma in Amsterdam, teils im väterlichen Geschäft verbrachte, nahm sie das Studium wieder auf. 1933 promovierte sie an der Friedrich Wilhelms Universität in Berlin, die seit 1892 Frauen als Gasthörerinnen (und seit 1908 als Studentinnen) zuließ, eine Gelegenheit, die anfangs von einer überproportional großen Anzahl von Jüdinnen ergriffen wurde. Mit dem „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom April 1933 begrenzten die Nazis die Zulassung von Juden und Frauen zu höherer Bildung, wovon Ausländer allerdings nicht betroffen waren. Nach dem Studienabschluss kehrte Lilian in die Tschechoslowakei zurück. 1938 war sie in der Facharztausbildung zur Chirurgin an einem Lehrkrankenhaus in Prag. Der auf dem Foto abgebildete Koffer begleitete sie auf ihren vielen Reisen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Lilian Singer Sammlung, AR 25363

Original:

LBI Sammlung der Historischen Objekten

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