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Abschied, um neu anzufangen

Hans Lamm geht auf „Amerika-Wanderung“

Berlin

So tief war das Hüten des Sabbats, der Feiertage und der jüdischen Speisegesetze im Leben der Familie Lamm verwurzelt, dass selbst die katholische Köchin Babett für die Einhaltung der Bräuche sorgte. Bei traditioneller Auffassung des Judentums waren die Lamms weltlichen Dingen gegenüber aufgeschlossen. Nach dem Gymnasium studierte Hans für kurze Zeit Jura, verstand aber schnell, das er als Jude in dem neuen politischen Klima in diesem Bereich nicht vorankommen würde und sattelte daher auf eine journalistische Laufbahn um. Die Karrieren jüdischer Journalisten wurden zu dieser Zeit massiv dadurch behindert, dass nicht-jüdische Zeitungen sie nicht anstellten und jüdische nach und nach zur Einstellung gezwungen waren. 1937 zog Lamm nach Berlin, wo er bei Leo Baeck und Ismar Elbogen an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums studierte, um sein Verständnis des Judentums zu vertiefen. Tief verwurzelt in der deutschen Kultur, konnte er sich nur schwer zur Auswanderung entscheiden. Doch schließlich überzeugte ihn sein älterer Bruder, dass es in Deutschland für Juden keine Zukunft gebe. In diesem Brief verabschiedet sich der 25-jährige Lamm herzlich und höflich, aber ohne spürbare Emotionen, von der Redaktion der Monatszeitung „Der Morgen“, einer anspruchsvollen Publikation, deren Mitarbeiter er gewesen war, und bedankt sich für die Förderung.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Abschiedsschreiben von Hans Lamm an die Redaktion des „Morgen“ vor seiner Auswanderung in die USA; CJA, 1 C Mo 1, Nr. 2, #12509, Bl. 29

Die Angst vor Freigeistern

Nationalsozialistische Spitzel im öffentlichen Raum

„Unter den von der Polizei aufgesuchten Gaststätten waren das Café Trump, eines der beliebtesten Cafes der Stadt, wo ein halbes Dutzend Juden aufgegriffen wurden, und Café Meudtner.“

Berlin

Am 17. Juni berichtet die Jewish Telegraphic Agency von erneuten Durchsuchungsaktionen der Nazibehörden in den letzten vier Tagen in Berlin und anderswo im Land, bei denen allein zwischen dem 13. und dem 17. Juni 2000 Juden festgenommen worden seien. Während der Weimarer Republik hatte es eine blühende „Kaffeehauskultur“ gegeben – Künstler und Intellektuelle betrachteten gewisse Cafes praktisch als ihr Zuhause, wo sie halbe Tage und Nächte verbrachten, um Kunst, Literatur und Politik zu diskutieren. Unter den Nazis verschwand dieses Phänomen schnell. Wahre Kunst ist frei, und wie alle autoritären Regimes, fürchteten die Nazis subversive Aktivitäten unter jenen freien Geistern. Der öffentliche Raum war mit Spitzeln übersät. Zum Zeitpunkt der Juni-Aktion, in deren Kontext diese Durchsuchungsaktionen durchgeführt wurden, war die ursprüngliche Klientel weitgehend verschwunden. Die Razzien zielten vorgeblich auf „asoziale Elemente“ ab. Tatsächlich jedoch stellten sie die erste Massenfestnahme von Juden dar. Propagandaminister Goebbels fasste die Absicht mit den markigen Worten „Die Losung ist Schikane, nicht Gesetz“ zusammen.

Markiert

Eine neue Verordnung verlangt die Kennzeichnung jüdischer Geschäfte

Berlin

Ungeachtet der patriotischen Gesinnung vieler deutscher Juden und ihrer vielfachen Beiträge zugunsten der Gesellschaft, hatte das „Reichsbürgergesetz“ von 1935 Juden offiziell einen niedrigeren Status zugeordnet, indem es sie zu bloßen „Staatsangehörigen“ erklärte und sie zusätzlich vom Rest der Bevölkerung isolierte. Im Laufe der Zeit wurden Zusatzverordnungen erlassen, die die genaue Definition der Nazis beinhalteten, was einen Juden ausmache und jüdische Beamte in den Ruhestand zwangen. Am 14. Juni 1938 bestimmte die dritte solche Verordnung, dass Geschäfte in jüdischem Besitz als solche zu kennzeichnen seien.

Die Gestapo im Haus

NS-Regime fürchtet Malerin Lea Grundig

DRESDEN

Ihre Bilder waren politische Anklagen und stellten für das NS-Regime eine Bedrohung dar: Lea Grundig, geboren 1903 als Lina Langer, Malerin und Kommunistin, wurde am 1. Juni 1938 von der Gestapo Dresden zusammen mit ihrem Mann Hans verhaftet, und das nicht zum ersten Mal. Die Begründung auf dem unscheinbaren Formularzettel lautete diesmal: „Verdacht staatsfeindlicher Betätigung“. Gemeint war damit ihre Kunst. Mit Bilderzyklen wie „Unterm Hakenkreuz“ oder „Der Jude ist schuld“ zeigte die seit 1933 mit Berufsverbot belegte Grundig eindringlich die Brutalität der Verfolgung von Juden oder Kommunisten durch die Nationalsozialisten. Einem ihrer Bilder gab sie schon 1935 den ahnungsvollen Titel „Die Gestapo im Haus“.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Aktennotiz der Staatspolizeileitstelle Dresden zur vorläufigen Festnahme von Lea Grundig; Inv.Nr. Do 62/1126.3

Martin Buber folgt Ruf an Hebräische Universität

Der Sozialphilosoph und seine Ehefrau Paula ziehen nach Jerusalem

Jerusalem

1933 entschloss sich der renommierte Religionsphilosoph Martin Buber, aus Protest gegen die Machtübernahme durch die Nazis seine Honorarprofessur an der Goethe Universität Frankfurt niederzulegen. Daraufhin verbat im das Regime, öffentlich Vorträge zu halten. In der Folgezeit gründete Buber die Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung und begegnete den Bemühungen der Nazis, die deutsche Judenheit zu marginalisieren und zu zerstören, indem er jüdische Identität durch Bildung stärkte. Erst Ende Mai 1938 folgte er einem Ruf an die Hebräische Universität, um den neuen Lehrstuhl für Sozialphilosophie zu übernehmen, und zog mit seiner Frau Paula, einer Schriftstellerin, nach Jerusalem. Das Ehepaar ließ sich im Stadtviertel Talbiyeh im Westteil der Stadt nieder, das zu dieser Zeit von Juden und Arabern bewohnt war. Es grenzt an Rechavia an – damals eine Hochburg von Einwanderern aus Deutschland. Buber gehörte zu jenen, denen eine friedliche Koexistenz in einem binationalen Staat vorschwebte.

Der „Arier-Nachweis“

Dirigent Erich Erck leitet das Orchester des Jüdischen Kulturbunds

MÜNCHEN

Seit dem Inkrafttreten des sogenannten „Arier-Paragraphen“ im „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 waren bestimmte Berufsgruppen zum Nachweis ihrer „rein arischen Abstammung“ verpflichtet, um weiterhin ihren Beruf ausüben zu können. Auch der 38-jährige Chirurg Dr. Walter Bernhard Kunze aus Freiberg in Sachsen musste für den „Arier-Nachweis“ einen Fragebogen über seine Abstammungslinie ausfüllen. Der Fragebogen vom 15. Mai 1938 enthält personenbezogene Angaben bis in die Generation seiner Großeltern. Diesem waren die entsprechenden standes- und pfarramtlichen Unterlagen beizulegen. Die Einholung der zahlreichen Abschriften aus den Kirchen- und Gemeindeämtern der Geburts- und Wohnorte der Vorfahren bedeutete für den einzelnen oft einen sehr hohen Verwaltungsaufwand. Der „Arier-Nachweis“ war ein wirksames Instrument der NS-Rassenpolitik, durch welches als „Nichtarier“ angesehene Personen stigmatisiert und zunehmend aus der Gesellschaft ausgegrenzt wurden.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Original:

Erich Eisner als Dirigent in der Liberalen Synagogoe München, Sammlung Erich Eisner, Schenkung von Manfred Eisner

Der „Arier-Nachweis“

Kein Arbeitsplatz bei „unreiner“ Abstammung

Freiberg

Seit dem Inkrafttreten des sogenannten „Arier-Paragraphen“ im „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 waren bestimmte Berufsgruppen zum Nachweis ihrer „rein arischen Abstammung“ verpflichtet, um weiterhin ihren Beruf ausüben zu können. Auch der 38-jährige Chirurg Dr. Walter Bernhard Kunze aus Freiberg in Sachsen musste für den „Arier-Nachweis“ einen Fragebogen über seine Abstammungslinie ausfüllen. Der Fragebogen vom 15. Mai 1938 enthält personenbezogene Angaben bis in die Generation seiner Großeltern. Diesem waren die entsprechenden standes- und pfarramtlichen Unterlagen beizulegen. Die Einholung der zahlreichen Abschriften aus den Kirchen- und Gemeindeämtern der Geburts- und Wohnorte der Vorfahren bedeutete für den einzelnen oft einen sehr hohen Verwaltungsaufwand. Der „Arier-Nachweis“ war ein wirksames Instrument der NS-Rassenpolitik, durch welches als „Nichtarier“ angesehene Personen stigmatisiert und zunehmend aus der Gesellschaft ausgegrenzt wurden.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Fragebogen zum Nachweis der arischen Abstammung

Betty Blum kämpft für ihren Sohn

Blick in die USA nach Verlust der Arbeitsstelle in Wien

Bruno, mein ältester Sohn, trägt seit Jahren zu unserem Unterhalt bei. Nun, nachdem er seine Stelle verloren und keine Aussicht auf eine neue hat, beabsichtigt er, das Land zu verlassen. Doch leider verschließen sich fast alle Länder vor Einwanderern. Daher sehe ich keine andere Möglichkeit als zu versuchen, eine Einreisegenehmigung in die Vereinigten Staaten zu bekommen.

Wien/New York

Unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Österreich waren jüdische Geschäfte und Firmen der Leitung „arischer“ Kommissare übergeben worden. Im Verlauf dieser „Arisierung“ – tatsächlich die Enteignung und der Raub jüdischen Besitzes – hatte der 30jährige Bruno Blum nach kaum mehr als vier Jahren seine Stelle bei der „Wiener Margarin-Compagnie“ verloren. Da sie begriff, wie gering die Chancen ihres ältesten Sohnes waren, unter dem Naziregime eine neue Stelle zu finden, wandte sich Betty Blum an ihren Cousin Moses Mandl in New York um Hilfe mit einer Bürgschaft. Als sie keine Antwort bekam, schrieb sie diesen Brief an ihren Neffen Stanley Frankfurter, um ihn zu bitten, Moses Mandl zuzureden oder mit der Bitte um Unterstützung an die Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS) heranzutreten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Blum Family, AR 25132

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Der trockene Humor eines Psychoanalytikers

Sigmund Freud feiert seinen letzten Geburtstag in Wien

Wien

Während Sigmund Freud, der „Vater der Psychoanalyse“, sicher die Bedeutung des „Anschlusses“ nicht unterschätzte – „Finis Austriae“ war der lapidare Kommentar, den er in seinem Tagebuch notierte – trieb ihn nicht einmal die Durchsuchung seines Verlages und seiner Wohnung durch die Nazis dazu, die Möglichkeit der Emigration zu untersuchen. Er soll sogar den unerbetenen Besuch der Nazis, die sich mit einer beträchtlichen Summe Geldes aus dem Staub gemacht hatten, mit der trockenen Bemerkung „Ich habe für einen einzigen Besuch nie so viel genommen“ kommentiert haben. Doch als seine Tochter Anna, selbst renommierte Psychoanalytikerin, kurz danach von der Gestapo verhört wurde, reagierte der gewöhnlich reservierte Freud hochemotional und begann, die verschiedenen Asylangebote abzuwägen, die er bekommen hatte. Der 6. Mai 1938 war sein letzter Geburtstag in Wien.

Gottvertrauen im Hier und Jetzt

Von Italien aus beruhigt Sigmund Hirsch seinen Neffen Julius

„Wegen der Politik, mache Dir, mein lieber Junge, nur keine Sorge. Tut Eure Pflicht wie bisher und ueberlasst alles Weiter Kodausch Boruch Hu. Persoenlich Ansichten gelten ueberhaupt nicht mehr; sonst wuerde ich Dir sagen, dass ich persoenlich an einen Krieg im Moment nicht glaube. Was man tun wird, wenn er Gott behuete wirklich kommt, wird sich dann zeigen. Kein Mensch ist weitsichtig genug, um voraussehen zu koennen, was kommen wird. Ihr werdet selbstverstaendlich in Italien bleiben. Aber wie gesagt, jede Diskussion ueber dieses Thema halte ich persoenlich fuer verfehlt, da kein Mensch den Krieg will, der nur den Ruin aller hervorrufen wuerde“.

Genua/Meran

Bereits 1935 hatte der orthodoxe Hamburger Arzt Henri Hirsch unter wachsendem Druck Deutschland verlassen und war zu seinem Bruder Sigmund in Genua in Italien gezogen. Kurz darauf schlossen sich ihm seine zweite Ehefrau Roberta und einige seiner erwachsenen Söhne an, um dann gemeinsam mit ihm nach Meran zu ziehen. 1938 starb Henri Hirsch. In diesem Brief von Sigmund Hirsch an seinen Neffen Julius versucht er, dem jungen Mann seine Sorge über einen bevorstehenden Krieg auszureden. Er redet ihm zu, auf Gott zu vertrauen und verspricht, den jungen Familienmitgliedern zur Seite zu stehen. Da er seit längerem in Italien war, scheinen viele ihre Hoffnungen auf ihn gesetzt zu haben: Mit spürbarem Bedauern berichtet er, wie wenig er für die „Tausenden“ von Menschen tun könne, die ihn um Hilfe bitten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Julius and Edith Hirsch, AR 25585

Original:

Archivbox 1, Ordner 22

Rasse, nicht Religion

Trotz Taufschein als Jude entlassen

„Wenn Sie kommen, werden wir unser Bestes tun, um Ihnen zu helfen. Sie können dem Kanadischen Hochkommissar versichern, dass wir die Verantwortung für Sie übernehmen, so dass sie dem Staat nicht zur Last fallen werden“.

Wien/Winnipeg

In düsteren Zeiten wie diesen bedeutete ein Brief, der eine Arbeitsmöglichkeit in Kanada versprach, einen immens wichtigen Hoffnungsschimmer. Obwohl er im Besitz dessen war, was Heinrich Heine bekanntlich als „Entréebillet zur europäischen Kultur“ bezeichnete – einen Taufschein – wurde Anton Felix Perl 1938 aus „rassischen“ Gründen von seiner Stelle als Assistenzarzt im Wiener Allgemeinen Krankenhaus entlassen. Zu seinem Glück genoss er die Unterstützung eines so prominenten Fürsprechers wie dem Erzbischof von Winipeg, der ihm in diesem Brief vom 25. April 1938 wertvolle Ratschläge bezüglich der Einwanderung nach Kanada erteilte und ihm praktische Hilfe versprach.

Grüßen ist gefährlich

Eine jüdische Ärztin beschreibt den Alltagswahnsinn

„Vater sagt, er will die Firma nicht verkaufen. Der Name, er soll mit uns untergehen [...]“.

Laupheim

Das Tagebuch Dr. Hertha Nathorffs (geb. Einstein) vermittelt ein lebendiges und manchmal alptraumhaftes Bild von den Erfahrungen der jüdischen Ärztin in Nazi-Deutschland. Am 24. April beschreibt sie einen Besuch bei ihren Eltern in ihrem Geburtsort Laupheim in Schwaben: Viele jüdische Geschäfte waren verkauft worden, ihre Besitzer emigriert. Die Bemühungen der Nazis, die Juden zu verleumden und zu isolieren, waren so erfolgreich gewesen, dass die Vorübergehenden Angst hatten, sie zu grüßen. Ihr Vater hatte ihr mitgeteilt, er werde die Firma, seit vier Generationen im Familienbesitz, nicht verkaufen, sondern lieber mit ihrem Namen untergehen. Das Ausmaß der Isolation, der deutsche Juden ausgesetzt waren, geht auch aus einer Episode hervor, die im selben Eintrag erwähnt wird: Dr. Nathorff ist überrascht, dass ihr ehemaliger Professor tatsächlich den Mut hatte, ihr durch eine Patientin Grüße ausrichten zu lassen.

Fachkräfte wandern aus

Das Ärztepaar Brinitzer geht nach Indien

Bangalore

Jenny Brinitzer wurde 1884 in Riga, Lettland geboren. Nach Studien in Bern, Berlin und Kiel gelang es ihr, sich als erste Ärztin in Hamburg Altona niederzulassen. Dort praktizierte die Mutter dreier Kinder 20 Jahre lang in einer Gemeinschaftspraxis mit ihrem Mann, dem Dermatologen Dr. Eugen Brinitzer. 1933 machten Juden etwa ein Viertel der Hamburger Ärzteschaft aus. Jüdische Kassenärzte und Ärzte im öffentlichen Dienst wurden gleich in den ersten beiden Jahren des Naziregimes entlassen. Ab 1935 war eine Liste von etwas 150 jüdischen Ärzten in Hamburg im Umlauf, die im Zusammenhang mit den Bemühungen der Nationalsozialisten entstanden war, „arische“ Patienten von jüdischen Ärzten zu trennen. Im April 1938 verließen Dr. Jenny Brinitzer und ihr Mann Deutschland und wanderten nach Bangalore, Indien aus.

54 Jahre

Der Graphiker Michel Fingesten feiert seinen Geburtstag im Exil

Triest

Nach Studien an der Wiener Kunstakademie war der Graphiker Michel Fingesten auf Reisen gegangen und hatte sich schließlich in Deutschland niedergelassen. Weder die jüdische Abstammung des österreichischen Staatsangehörigen noch seine Vorliebe für das Erotische machten ihn bei den Nazis beliebt. Die immer unerträglichere Rassenpolitik des Regimes veranlasste ihn, nach einem Familienbesuch in Triest 1935 in Italien zu bleiben. Fingesten ist in erster Linie als Illustrator und als produktiver, fantasievoller Gestalter von Exlibris bekannt. Der 18. April 1938 war sein 54. Geburtstag.

Die Grenzen des Einzelnen

Fritz Machlup signalisiert Bedenken und Hilfsbereitschaft

„Gestern, an einem einzigen Tage, erhielt ich sage und schreibe 11 Ersuchen um Einwanderungsaffidavits, darunter die Ersuchen von gemeinsamen Freunden“.

Buffalo, New York/Wien

Dank eines Rockefeller-Stipendiums, das 1933 an ihn vergeben worden war, hatte der herausragende Wiener Volkswirtschaftler Fritz Machlup Österreich Jahre vor dem „Anschluss“ verlassen. 1935 erhielt er eine Professur für Volkswirtschaftslehre an der Universität Buffalo. Es überrascht nicht, dass Freunde und Kollegen ihre Hoffnungen darauf setzten, ihn als Bürgen zu gewinnen, als die Nazis in Österreich Fuß zu fassen begannen. In diesem Brief vom 5. April an seinen Freund Alfred Schütz äußert er die Sorge, seine Hilfsversprechen, so vielen gegeben, würden an Glaubwürdigkeit verlieren. Er fügt aber dennoch ein Schreiben bei, in dem er Schütz anbietet, ihm bei der Niederlassung in den Vereinigten Staaten behilflich zu sein.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Alfred Schutz, AR 25500

Original:

Archivbox 1, Ordner 17

Der Existenzgrundlage beraubt

Rechtsanwälte und Marktverkäufer erhalten Berufsverbot

Wien

Laut diesem Bericht der Jewish Telegraphic Agency stellte der 3. April 1938 eine weitere Wegmarke im Prozess der Beschränkung der Berufsfreiheit der österreichischen Juden dar: Von diesem Tag an konnte das Justizministerium nach Belieben jüdischen Rechtsanwälten die Lizenz aberkennen, ausgenommen diejenigen, die ihre Zulassung vor 1914 erhalten hatten oder Frontkämpfer oder unmittelbare Verwandte im Weltkrieg gefallener Soldaten waren. Es wurde geschätzt, dass 800 bis 900 Rechtsanwälte von der neuen Bestimmung betroffen waren. Eine weitere Berufsgruppe, die unter der Nazipolitik zu leiden hatte, war die der Marktverkäufer: Juden, die bewegliche oder feste Marktstände betrieben, war es nicht länger gestattet, auf diese Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auch waren in der kurzen Zeit seit der Machtübernahme durch die Nazis bereits „Arisierungen“ von Fabriken in jüdischem Besitz erfolgt.

Karl Bonhoeffer empfiehlt

Der Vater von Klaus und Dietrich steht für eine Kollegin ein

„Sie besitzt außergewöhnliche diagnostische Fähigkeiten. Ihre Arbeitsenergie ist groß. Sie ist vertrauenswürdig und zuverlässig im medizinischen Dienst. Diese Eigenschaften sind es, die ihr die Bewunderung der Ärzte und das Vertrauen ihrer Patienten erwarben.“

Berlin

Prof. Karl Bonhoeffer, ein Psychiater und Neurologe sowie der Vater zweier prominenter Gegner des NS-Regimes, Klaus und Dietrich Bonhoeffer, lehrte an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin und leitete die Abteilung für psychische und Nervenkrankheiten an der Charité. In diesem Empfehlungsschreiben – in englischer Sprache zum Gebrauch im Exil abgefasst – lobt Bonhoeffer die herausragenden Leistungen seiner jüdischen Kollegin Dr. Herta Seidemann. Während seine Einstellung zu gewissen Programmen der Nazis (z.B. Zwangssterilisierung von Erbkranken und Euthanasie) umstritten ist, steht sein Einsatz für verschiedene jüdische Kollegen außer Zweifel.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herta Seidemann, AR 25060

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Ein zweites Salzburg?

Max Reinhardt baut sich eine neue Existenz in Kalifornien

Hollywood

Der österreichische Theater- und Filmregisseur Max Reinhardt emigrierte im Oktober in die Vereinigten Staaten, begleitet von seiner Frau, der Schauspielerin Helene Thimig. Durch technische Neuerungen und die Erhöhung des Status des Regisseurs spielte Reinhardt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des modernen Theaters. Mit seiner „Jedermann“-Inszenierung wurde er 1920 zum Mitbegründer der Salzburger Festspiele. Kurz nachdem er sich in den Vereinigten Staaten niedergelassen hatte, kamen Pläne auf, in Kalifornien ein „zweites Salzburg“ zu gründen – diesmal „unter günstigeren klimatischen und politischen Bedingungen, und vielleicht mit größeren finanziellen Mitteln“, wie er – auf Englisch – an Toscanini schrieb. Unter seinen Errungenschaften in den USA waren die Inszenierung von Werfels „The Eternal Road“ (englische Version von „Der Weg der Verheißung“) und die Einrichtung des Max Reinhardt Workshop for Stage, Screen and Radio, einer Theater- und Filmakademie in Hollywood (1937-39). Vom amerikanischen Publikum hielt er nicht viel.

Elternfreuden

Familienleben im Schatten des Naziregimes

„Helen wächst schnell, sieht gesund und frisch aus u. ist ein hübsches Mädchen. Sie ist geistig rege u. fängt schon an zu rechnen, schreiben u. lesen.“

Hamburg

Wilhelm Hesse war der Sohn eines orthodoxen Geschäftsmanns. Er lebte in Hamburg mit seiner Frau Ruth und seinen beiden kleinen Töchtern Helen und Eva, deren erste Lebensjahre er in eigens für die Kinder angelegten Tagebüchern festhielt. Zwischen den Einträgen finden sich Hinweise auf jüdische Feiertage und Fotografien der Kinder. Im hier abgebildeten Eintrag dokumentiert er stolz und detailliert die Fortschritte seiner Tochter Helen, die zum Zeitpunkt des Eintrags noch nicht fünf Jahre alt ist. Der promovierte Jurist Hesse war bereits im April 1933 aus dem Dienst entlassen worden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Helen und Eva Hesse Familie, AR 25327

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

In der Heimat verloren

Österreichische Juden und das US-Konsulat in Wien

„Hunderte kamen in der Annahme, die Vereinigten Staaten seien bereit, die Überfahrt von 20.000 Einwanderern zu genehmigen und zu finzieren. Vertreter des Konsulats wandten sich an Gruppen von Antragstellern, um ihnen den tatsächlichen Sachverhalt zu erklären“.

Wien

In einem weiteren dramatischen Bericht aus Österreich beschreibt die „Jewish Telegraphic Agency“ verängstige Juden, die in der fehlgeleiteten Hoffnung auf Unterstützung in das Konsulat der Vereinigten Staaten strömten. Gerade prominente Juden mussten mit Schikanen und Festnahme durch die Gestapo rechnen. Führende Persönlichkeiten des österreichischen Judentums waren gezwungen, die Polizei über ihre Aktivitäten zu unterrichten, während es ihren deutschen Amtskollegen aufgrund eines Einreiseverbots für Juden unmöglich war, ihnen einen Solidaritätsbesuch abzustatten. Des Weiteren berichtet die JTA, die Situation tausender jüdischer Schauspieler sei mittlerweile dermaßen verzweifelt, dass selbst der nationalsozialistische Beauftragte des österreichischen Bühnenvereins eine Kampagne zu ihren Gunsten zulasse.

Eine gewöhnliche Trauerrede in einer Zeit grosser Verluste

Max Kirschner erinnert an Hedwig Waller

Frankfurt am Main

Gerade 20 Jahre waren vergangen seit Ende des Ersten Weltkriegs, in dem Max Kirschner, ein in Frankfurt am Main ansässiger Arzt, mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden war – bemerkenswerter Weise dafür, dass er feindlichen Infanteristen zur Seite gestanden hatte. Doch die Tatsache, dass Kirschner als einer von 100.000 deutschen Juden, von denen 12.000 ihr Leben ließen, im Krieg für Deutschland gekämpft hatte, nützte ihm nicht: 1938 wurde ihm, wie allen anderen jüdischen Ärzten, die Approbation entzogen. In seiner Trauerrede für Hedwig Wallach, die einer alteingesessenen Frankfurter Familie entstammte, pries er deren Hingabe an ihren Mann, ihr lebhaftes Interesse an ihren Kindern und die stille Tapferkeit, mit der sie ihre Krankheit ertragen hatte.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Sammlung:

Rede von Max Kirschner anlässlich der Beerdigung von Hedwig Wallach

Original:

Sammlung Familie Kirschner

Soma Morgenstern

Ein Universalist lässt alles zurück und trifft im Exil auf einen alten Freund

Wien/Paris

Soma Morgenstern war promovierter Jurist, doch er zog es vor, seinen Lebensunterhalt als Schriftsteller und Journalist zu verdienen und schrieb Feulliettons über Musik und Theater. Der gebürtige Ost-Galizianer beherrschte mehrere Sprachen, darunter Ukrainisch und Jiddisch. Er schrieb in deutscher Sprache. Nach seiner Entlassung 1933 von der Frankfurter Zeitung, deren Kulturkorrespondent er gewesen war, hielt er sich mühsam mit journalistischen Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Die Annexion Österreichs an Nazi-Deutschland machte seine Situation vollends untragbar: In die Emigration gezwungen, hinterließ er seine Ehefrau, ein Kind und zahlreiche Manuskripte. Am 23. März war er bereits im sicheren Paris, wo er mit einem weiteren berühmten galizianer Exilanten, seinem alten Freund, dem Schriftsteller Joseph Roth, im Hôtel de la Poste wohnte.

Frauenrechte sind Menschenrechte

Der Jüdische Frauenbund berät junge Frauen bei der Ausreise

Berlin

Lange Zeit war die Sicherstellung der Würde und Unabhängigkeit jüdischer Frauen und ihr Schutz vor Menschenhändlern ein zentrales Anliegen des Jüdischen Frauenbundes. Der 1904 gegründete Verein unterstützte junge Frauen, in dem er es ihnen ermöglichte, eine Berufsausbildung absolvieren. Inzwischen hatten sich andere Themen in den Vordergrund gedrängt: Am 22. März lud die Gruppe berufstätiger Frauen innerhalb des Bundes, vertreten durch Käthe Mende, zu einem „Aussprache-Abend“ für weibliche Jugendliche ein, bei dem Berufs- und Auswanderungsfragen diskutiert werden sollten. Die Gastrednerin war Lotte Landau-Türk; Prof. Cora Berliner, eine frühere Angestellte im Reichswirtschaftsministerium und Professorin für Wirtschaftswissenschaften, die nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 aus dem Staatsdienst entlassen worden war, moderierte die Diskussion.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Sammlung:

Einladung zu einer Veranstaltung der Gruppe berufstätiger Frauen im Verband Berlin des Jüdischen Frauenbundes zum Thema „Berufs- und Auswanderungsfragen für die weibliche Jugend“

Original:

CJA, 1 C Fr 1, Nr. 31, #9835, Bl. 32

Die Welt zur Rettung

Jüdische Vorsteher und Medien wissen: Sie brauchen jede Unterstützung, die sie bekommen können

„Die österreichischen Juden haben eine alte Tradition als voll gleichberechtigte Bürger, die stets ihre Kräfte in den Dienst der Heimat gestellt haben und zum Aufschwung derselben auf allen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gebieten wesentlich beigetragen haben“.

Wien

Das gesamte Titelblatt der deutschsprachigen religiös-zionistischen „Allgemeinen Jüdischen Zeitung“ in Bratislava ist dem „Anschluss“ gewidmet: Juden werden aufgerufen, ihren österreichischen Glaubensgenossen zur Seite zu stehen. Eine anonyme Quelle weist auf die Verarmung weiter Teile der österreichischen Judenheit und die daraus resultierende Notwendigkeit hin, das Sozialwesen neu zu ordnen und sich den immer dringender werdenden Angelegenheiten der Umschulung und der Emigration zuzuwenden. Der Leser wird daran erinnert, dass Österreich noch immer Mitglied des Völkerbunds sei und dass das österreichische Recht gleiche Rechte für religiöse und nationale Minderheiten einfordere. Unter anderen Quellen wird der britische Unterstaatssekretär für Äußeres, Butler, zitiert, der berichtet, er habe Zusicherungen bekommen, die deutsche Regierung werde in Bezug auf Minderheiten „alle Anstrengungen unternehmen, eine Mäßigung der Politik zu erzielen“. Auch berichtet das Blatt, der Präsident des Jüdischen Weltkongress, Rabbi Wise, habe an den Völkerbund appelliert, den Juden beizustehen. Ansonsten zeichnet sich ein düsteres Bild ab: Die Produktion jüdischer Zeitungen eingestellt, prominente Juden arrestiert, ein jüdisches Theater geschlossen, die jüdische Ärzte entlassen und andere Schikanen. Die Zeitung ruft Juden in aller Welt auf, den Brüdern und Schwestern in Österreich zur Seite zu stehen.

Anlernwerkstatt und Auswanderungspläne

Ein Frankfurter Lehrer sucht Hilfe bei einem Kollegen

„Wir wollen drüben mit Menschen zusammen kommen, mit denen wir auch über unsere Pläne - nicht über unsere persönlichen, sondern über die jüdisch-sozialen - sprechen können. Die Situation für die jüdische Jugend wird doch von Tag zu Tag ernster, und wir halten uns für verpflichtet, alle Möglichkeiten, die wir drüben sehen, auszunutzen.“

Frankfurt am Main/Bonn

Kaum hatte er seine Karriere als Lehrer am Goethe-Gymnasium in Frankfurt am Main begonnen, verlor Hans Epstein 1933 nach der Machtergreifung seine Stelle. Nach einem kurzen Intermezzo als Lehrer am berühmten „Philanthropin“ in Frankfurt am Main, einer progressiven jüdischen Schule mit dem Wahlspruch „Für Aufklärung und Humanität“, wurde er zum Mitbegründer der „Anlernwerkstatt“, die jüdische Kinder auf die Emigration in die USA vorbereitete. Der Mathematiker Otto Toeplitz, ein passionierter Pädagoge, unterrichtete nun Kinder und organisierte die Auswanderung von Studenten in die Vereinigten Staaten. In diesem Brief bittet Epstein Toeplitz um ein Empfehlungsschreiben und um Kontakte in den USA, die seinen Bemühungen förderlich sein könnten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Hans Epstein, AR 6362

Original:

Archivbox 1, Ordner I.13

Diskriminierungen und Verhaftungen

Einen Tag nach dem Anschluss eskalieren die Feindseligkeiten

Wien

Nach ihrem triumphalen Einzug in Österreich verloren die Nazis keine Zeit, die jüdische Bevölkerung des Landes einzuschüchtern und sie aus einflussreichen Stellungen und aus dem gesellschaftlichen Leben zu verdrängen: Prominente Bankiers und Geschäftsmänner wurden verhaftet, andere Juden – besonders solche, die in Bereichen tätig waren, die als „jüdisch“ galten, wie die Presse und das Theater – wurden entlassen und durch „Arier“ ersetzt. Die Atmosphäre in Österreich Juden gegenüber wurde zunehmend feindselig. In Organisationen, deren Ziel es war, die Auswanderung von Juden nach Palästina zu fördern, fanden Razzien statt. Gleichzeitig hatte man die Annullierung der Pässe „gewisser Leute“ angekündigt. Erwähnenswert ist, dass die Zahl der Juden in Österreich im März 1938 etwa 206.000 betrug, womit sie gerade 3% der Gesamtbevölkerung ausmachten.

25 Pfennige

Jüdische Winterhilfe lindert bitterste Armut mit Pflichtbeitrag für Juden in Deutschland

„In gewissen Gemeinden dieser Bezirke beträgt die Anzahl der Notleidenden 40 bis 90 Prozent der gesamten jüdischen Bevölkerung. Das ist teilweise durch die Tatsache erklärbar, dass ländliche Gemeinden der vollen Kraft der antisemitischen Propagandamaschinerie besonders offen gegenüberstehen.“

Berlin

Mitte Februar 1938 berichtet die „Jewish Telegraphic Agency“, seit Jahren eine aufmerksame Beobachterin der Situation der deutschen Juden, einmal wieder über die Situation der Glaubensbrüder in Deutschland und die Bemühungen der Jüdischen Winterhilfe, den akuten Bedürfnisse der Ärmsten gerecht zu werden. Während der neue Pflichtbeitrag eine vorübergehende Erleichterung bedeutet und das Überleben des Winters einfacher macht, führen die zahlreichen Berufsverbote für Juden, die das Naziregime seit 1933 verhängt, zu einer irreversiblen Verschlechterung ihrer materiellen Situation.

Familie transkontinental

Physische Ängste, wirtschaftliche Sorgen und emotionale Zwangslagen

„Nebenbei, hast Du zufällig Mutters Schmuck bei Dir? Mutter hat mich nämlich gefragt, ob ich Dir etwas davon gesagt hätte, denn ich habe ihnen geraten, ihn zu verkaufen, damit sie etwas haben, wovon sie leben können.“

Chelles/New York

Im Februar 1938 diskutieren zwei Brüder, die auf verschiedenen Kontinenten leben, Joszi Josefsberg in Europa (Chelles, Frankreich) und Arthur Josefsberg in Amerika (New York) in ihrer Korrespondenz, wie man Bürgschaften für die Eltern beschaffen könnte, um diese zu retten. Aber nicht nur die noch nicht sichergestellte Emigration der Eltern beunruhigt Joszi, den Schreiber des Briefes – auch um ihr materielles Überleben macht er sich Sorgen. Überlegungen dieser Art waren weit verbreitet unter Juden, die Eltern, Geschwister und oft auch Ehepartner zurückgelassen hatten. Während der jahrelangen Bemühungen der Nazis, Juden aus zahlreichen Berufen zu verdrängen, war es für die in Deutschland zurückgebliebenen immer schwierger geworden, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

 

Einige Monate nach Abschluss des 1938Projekts erfuhr das LBI, dass der Brief bei der Transkription falsch datiert wurde. Obwohl der Brief später als Februar 1938 geschrieben wurde, beschloss das LBI, ihn aufgrund des wichtigen Inhalts weiterhin im Projekt unter dem bisherigen Datum zu belassen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Korrespondenz von Arthur Josefsberg, AR 25590

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Atmosphäre der Ausweglosigkeit

Aus dem Tagebuch eines einstmals gefeierten Beamten des Gesundheitswesens

„Ein von Juden gegründetes Unternehmen nach dem anderen wird „arisiert“ - wie der euphemistische Ausdruck lautet; aus den anderen Betrieben werden die jüdischen Angestellten herausgedrängt und der Wohlfahrt in die Arme getrieben. Die Sperrmark steigt ins Bodenlose, damit wird die Auswanderung der wenigen Kapitalisten noch erschwert.“

Berlin

„Möge es Ihnen vergönnt sein, Ihre bewährten Kräfte noch recht lange dem Wohle und zum Nutzen der Stadt widmen zu können.“ Mit diesen Worten gratulierte der Berliner Bürgermeister, Heinrich Sahm, Prof. Erich Seligmann, dem Direktor der Wissenschaftlichen Institute im Hauptgesundheitsamt und der obersten Instanz in Fragen der öffentlichen Gesundheit, im Oktober 1932 zu seinem 25. Dienstjubiläum. Kaum ein halbes Jahr später, im März 1933, wurde Seligmann entlassen – ungeachtet seiner anerkannten wissenschaftlichen Leistungen und seiner herausragenden Kenntnisse im Bereich der Seuchenbekämpfung, die er u.a. als Stabsarzt im Ersten Weltkrieg unter Beweis gestellt hatte. In diesem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1938 berichtet Seligmann in Zusammenhang mit einer geplanten Reise nach Rom, wo er und seine Frau Elsa ihren Sohn Rolf zu treffen hofften, Juden würden „in großem Umfang die Pässe eingezogen“ und es herrsche „eine Atmosphäre der Ausweglosigkeit“.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Erich Seligmann, AR 4104

Original:

DM 79, Tagebuch 2

Der 48. Geburtstag Karl Adlers

Das Jüdische Lehrhaus Stuttgart

Stuttgart

Karl Adler wurde am 25. Januar 1890 in Buttenhausen (Württemberg) geboren. Er studierte Musik am Konservatorium in Stuttgart, dessen Direktor er 1921 wurde. Auch gehörte er zu den Gründern des „Vereins zur Förderung der Volksbildung“, der sich für die Erwachsenenbildung einsetzte, und leitete dessen Musikabteilung. 1926 war er maßgeblich an der Gründung des Stuttgarter Jüdischen Lehrhauses beteiligt. Nach seiner Entlassung vom Konservatorium 1933 initiierte und leitete er die Stuttgarter Jüdische Kunstgemeinschaft. 1935 wurde er Musikdezernent der Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung, einer Abteilung der Reichsvertretung der Juden in Deutschland.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Leopold Levi, AR 1929

Original:

ALB-OS 19, F 84099

Die Fünfte Kolonne

Antisemitische Erlasse in Rumänien

In Genf erklärte Außenminister Micescu, die rumänische Regierung habe nicht die Absicht, das Juden- bzw. Minderheitenproblem vor den Völkerbund zu bringen, da Rumänien über seine Innenpolitik keine Ratschläge vom Ausland brauche. Die Minderheitsverträge bezögen sich nur auf jene Nationalitäten, die in den abgetrennten Gebieten, die ehemals zur Habsburger Monarchie gehörten, leben, und gelten mithin nicht für die in Altrumänien ansässigen Juden.

Genf/Bukarest

Im 78. und letzten Jahr ihres Bestehens berichtet die orthodoxe Wochenzeitung „Der Israelit” von Maßnahmen der antisemitischen, pro-Deutschen Regierung Goga-Cuza in Rumänien: Die Juden des Landes wurden vielfältigen Schikanen und Berufsverboten ausgesetzt, die denen in Deutschland nicht unähnlich waren. Infolge von Territorial- und Bevölkerungszuwachs im Ersten Weltkrieg gehörten etwa 30% der Rumänen verschiedenen Minderheiten an, die als „Fünfte Kolonne” betrachtet wurden. Besonders die Juden waren das Objekt von Ängsten und Verdächtigungen, die leicht in gewalttätigen Hass umschlugen.

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